Luca - Zwischen Nichts und Allem

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Ich freute mich, dass er da war, dass er in meinem Bett lag, freute mich über seinen Saft, der aus mir herauslief, über seinen Duft auf meiner Haut und auf meinem Kissen, über seine Wärme und Nähe. Und ich wollte ihm etwas Gutes tun, ihn liebhaben. Ich knuddelte ihn wie meinen ganz eigenen, lebendigen Teddybären und seufzte zufrieden.

Milde Abendluft wehte herein und kühlte unsere Haut, während wir schmusten, und für einen Moment gaukelte mir die Chemie in meinem Kopf vor, wir könnten doch wieder ein Liebespaar werden. Dass ich mit ihm zusammen sein konnte, jetzt und bis in alle Ewigkeit. Dass alles, was ich zum Leben brauchte, er war und immer nur er sein würde. Dass er mein Schicksal war.

Doch als ich mir danach eine von Chris` Kippen anzündete und sie mit Mica teilte, wusste ich, dass meine Hormone mir Streiche spielten.

Ich lag auf dem Rücken und blies Rauchringe an meine Decke, Mama würde ausflippen, wüsste sie, dass ich rauchte und dann auch noch in meinem Zimmer. Aber sie war ja nicht da, niemand war da, nur Chris, und dem war es egal, er tat es selbst.

»Du liebst mich wirklich nicht, kann das sein?« Eine traurige, nüchterne Frage. Ich konnte seinen Blick auf meiner Wange spüren, und ich hörte ihn schlucken.

»Doch, ich liebe dich«, musste ich mir eingestehen, denn das tat ich wirklich. Irgendwie. Ich zog wieder an der Kippe. »Aber es reicht nicht.«

»Warum nicht?«, wollte er wissen und stützt sich auf einen Ellenbogen. »Was mache ich falsch?«

»Gar nichts.« Er war perfekt, und er war bereit, alles für mich zu sein, wenn ich ihn nur niemals verließ. »Ich steh auf ältere Männer, Mica«, gestand ich ihm schließlich, weil ich es sonst niemanden erzählen konnte, genau wie er niemanden erzählen konnte, dass er schwul war.

»Oh.« Er schien es tatsächlich zu begreifen. Einen Moment lang starrte er grübelnd auf die Matratze hinab und zupfte unsichtbare Fussel vom Laken. Dann ließ er sich seufzend wieder auf den Rücken fallen, und ich gab ihm die Zigarette, an der er kräftig zog, als bräuchte er dringend einen tiefen Zug.

»Was erhoffst du dir davon?« Er klang launig.

»Keine Ahnung.« Erhoffen? Wie meinte er das denn?

Aber ich wollte mir nicht die Blöße geben, dass er mich getroffen hatte.

Erhoffte ich mir etwas von älteren Männern? Ganz klar: ein erfülltes Sexleben, weil mich die Vorstellung, mit einem wesentlich älteren Mann zu schlafen, absolut aufgeilte. Darüber hinaus … soweit hatte und brauchte ich nicht zu denken. Sex war das einzige, was ich wollte. Mica hatte das noch nie verstehen können, weshalb es unsinnig war, es ihm erklären zu wollen.

»Ich steh halt drauf, mir vorzustellen, mit ihnen zu vögeln«, erklärte ich ihm mit einem Schulterzucken. Und wenn schon, was soll`s? »Das ist nicht nur wie eine nette Fantasie, Mica. Das ist ein genauso intensives Verlangen wie mein Schwulsein selbst es ist! Ich kanns halt nicht ändern, dass ich es will. Ich bin so. Fühlt sich an, als wollte ich es immer schon.«

»Hm.« Er schien verärgert, als er mir die Zigarette zurückreichte.

Ich wollte ihn aber nicht verärgern. »Machen wir es noch mal?«, fragte ich schließlich, um ihn abzulenken, und drehte ihm das Gesicht zu.

Er starrte an die Decke und hob die Achseln an, als wäre er sich plötzlich zu fein, mit mir zu reden.

Da ich ohnehin nicht reden wollte, war es mir egal, und sein Achselzucken war kein Nein. Ich warf die Zigarette in die halbleere Wasserflasche und kletterte über ihn. Er wehrte sich nicht, als ich damit begann, den Schweiß aus seinen Achseln zu lecken – dann über seine Nippel tiefer wanderte, und erst recht nicht, als ich ihn wie ein Katzenbaby zum Schnurren brachte, indem ich ihm den Schwanz blies.

1.3

Mica ging sehr früh am nächsten Morgen. Er hatte die ganze Nacht geweint, und ich hatte ihn im Arm gehalten und ihn auf meine stille Weise zu trösten versucht. Ich wollte ihm gar nicht wehtun, wirklich nicht. Aber ich konnte ihm doch keine falschen Hoffnungen machen!

Irgendwie musste ihn mein Geständnis vor Augen geführt haben, dass er keine Chance hatte, sich noch einmal in mein Leben zu schleichen. Er konnte sich ja wirklich auf viele Weisen verbiegen, aber er konnte eben einfach nicht ändern, dass er erst siebzehn war. Es war trotzdem nicht seine Schuld, erinnerte ich ihn, und ich sagte, dass ich ihn trotzdem in meinem Leben wollte. Doch er hatte darauf nichts zu sagen gehabt und war noch vor dem Frühstück mit Tränen der Enttäuschung, die in seinen schönen, großen Augen gebrannt hatten, davongerauscht.

Ob und wann ich ihn wieder sehen würde wusste ich nicht, und seltsamerweise machte es mir das Herz schwer. Nach einem halben Jahr inniger Beziehung war es nicht leicht, mir vorzustellen, dass er jetzt nicht mehr zu mir gehörte. Wenn ich ehrlich war, wollte ich beides. Ihn und die Freiheit, mir ältere Männer zu suchen. Vielleicht hatte ich mir mit meinem Geständnis erhofft, er würde es mir vorschlagen. »Mach doch! Schlaf, mit wem du willst, aber schlaf auch mit mir.« Das hätte er sagen sollen, und ich wäre voll dafür gewesen.

Aber das konnte ich nicht von ihm erwarten, und jetzt brauchte er erst einmal Zeit, um über mich hinwegzukommen. Genauso wie ich Zeit brauchte, auch über ihn hinwegzukommen. Denn auch wenn ich ein Arschloch war, habe ich ihn doch trotzdem geliebt. Und unter einer Trennung leidet jeder, auch der, der Schluss gemacht hatte. Selbst wenn wir es nicht immer offen zeigen und erst recht nicht immer zugeben wollten.

Mica war noch nicht lange fort, als ich in der Küche stand und mir eine Tasse Kaffee gönnte, da klingelte es bereits wieder an der Tür. Weil ich annahm, Mica wäre vielleicht doch wieder zurückgekommen, er könnte ja auch etwas vergessen haben oder Geld für den Bus brauchen, ging ich diesmal hin, um zu öffnen. Ich drückte den Knopf, damit er ins Treppenhaus konnte, und öffnete die Tür halbnackt in Shorts, mit einer von Christophers Kippen im Mundwinkel und meinem Kaffee in der Hand.

Ich liebe übrigens Kaffee. Nicht diesen ganzen süßen Scheiß wie Schokoladen-Cappuccinos oder Vanille-Latte-Macchiatos, sondern den stinknormalen Kaffee, schwarz. Es gibt nichts Geileres als den Geruch frisch gebrühten Kaffees, egal zu welcher Tageszeit, aber am liebsten werde ich davon geweckt. Nicht, dass es je dazu kam, aber ich stellte es mir sehr schön vor.

Aufwachen, Luca, dein Kaffee wartet schon.

Herrlich!

Es war nicht Mica, der die Treppe nach oben kam.

Als ich ihn erkannte, stockte mir der Atem. Ich fluchte sofort. Meine Kippe landete in meiner Tasse und ich wedelte panisch mit der Hand durch die Luft, um den Qualm zu vertreiben. Scheiße, ich wollte nicht, dass mein Atem nach Nikotin roch, denn Mundgeruch war so ziemlich das Abstoßendste, das ich mir vorstellen konnte. Außerdem kam ich mir gerade äußerst nackt vor, man stand ja nicht alle Tage nur in Shorts vor seinem Geschichtslehrer.

Ob er noch riechen konnte, dass ich letzte Nacht Sex hatte?

Weißt du, dass ich dabei an dich dachte?

Mr. Olsson kam die Treppe hoch und nickte mir zu, wie er es immer bei Schülern tat, die ihm über den Weg liefen, als würde er gleich einfach nur an mir vorüber gehen.

Doch er blieb stehen. Natürlich blieb er stehen, er hatte ja geklingelt, ich Dummkopf.

»Guten Morgen, Luca.« Ein kühler, höfflicher Gruß.

Ich starrte ihn an, als stünde er im Adamskostüm vor mir. »Ähm … G-Guten Mo-Morgen …?«

Verdammt, warum stotterte ich nur so?

Er blieb ganz cool, schmunzelte nicht einmal. Viel mehr schien er in Eile und nicht sonderlich froh darüber, hier zu sein.

Was wollte er?

Bevor ich meine Sprache wieder fand, um ihn danach zu fragen, streckte er die Hand aus und hielt mir etwas entgegen: Mein Handy.

»Du hast es liegen lassen«, erklärte er schlicht.

»Ja«, stimmte ich zu und nahm es an mich. Dabei achtete ich darauf, dass meine Finger seine Hand berührten. Mir wurden die Knie weich wie Pudding, als ich flüchtig seine Haut fühlte. Sie war so warm.

Wusste er, dass ich es mit Absicht tat?

Ich sah ihm direkt ins Gesicht, doch darin war nichts zu erkennen, außer einem unnahbaren Blick.

Und dann, ganz kurz, wanderten seine Augen über meinen Körper. Es war ein normaler Blick, als würde er nur registrieren, was ich trug. Und das war so gut wie nichts. Aber trotzdem wurde mir ziemlich warm in der Lendengegend, denn nichtsdestotrotz wusste er nun, wie mein Körper unter den Klamotten aussah.

Ob es ihm gefiel? Ob ich ihn so heiß machte, wie er mich? Wohl eher nicht.

»Wollen Sie einen Kaffee?«, platzte es unversehens aus mir heraus.

Fuck, was machte ich da nur? Ich wollte mir sofort gegen die Stirn schlagen. Ebenso gut hätte ich ihn gleich fragen können, ob er mich flachlegen wollte. Wie blöd war ich eigentlich? Welcher Schüler bat den Lehrer freiwillig herein und bot ihm Kaffee an? Wobei, vielleicht konnte ich es als reine Höflichkeit abtun. Ich würde einfach behaupten, es wäre eine Floskel gewesen, wie wenn man jemanden einen guten Tag wünscht, nur um kein Arschloch zu sein.

Er ließ sich nichts anmerken, atmete tief ein und aus und wollte dann einfach, meine Einladung ignorierend, wieder gehen. »Also dann. Komm pünktlich am Montag.«

Für dich doch immer, ich komme, wann du es mir befiehlst. »Natürlich, Mr. Olsson.« Noch bevor ich mich besinnen konnte, waren die Worte viel zu anzüglich über meine Lippen gekommen.

 

Und plötzlich wurde ich schüchtern. Als er auf der Treppe stehen blieb und sich noch einmal umdrehte, huschte ich schnell in meine Wohnung – meinen sicheren Kaninchenbau – und warf die Tür zu.

Ich lauschte mit klopfendem Herzen den leisen Schritten, die die Stufen nach unten nahmen.

»Fuck!«, fluchte ich und schlug den Hinterkopf gegen die Tür. Zum Glück schlief Chris noch und hatte davon nichts mitbekommen. Nicht auszudenken, was mir blühen würde, käme mein teuflischer Bruder hinter mein Geheimnis. Die ganze Nachbarschaft, ach was, die ganze Welt würde erfahren, dass ich auf meinen Lehrer stand.

Ich kippte in der Küche meinen Kaffee mit der Zigarette in die Spüle und verzog mich ohne Frühstück – es war ja nichts mehr da, ich musste erst einkaufen – in mein Zimmer.

Dort setzte ich mich auf mein Bett und nahm mein Handy zur Hand.

Warum brachte er es mir? Warum hatte er nicht gewartet, bis er es mir am Montagmorgen zurückgeben konnte?

War es total irrsinnig von mir zu glauben, er habe es als Vorwand benutzt, um bei mir vorbei zu schauen?

Und warum hatte er bis heute gewartet? Er musste es gestern nach der Schule an sich genommen haben. Also, weshalb hatte er es mir nicht sofort zurückgebracht?

Vielleicht hatte er keine Zeit gefunden? Hatte es nur vergessen, und sich heute Morgen erinnert, als er es in irgendeiner Tasche fand, die er nach seinem Geldbeutel durchwühlt hatte, um sich einen Kaffee und eine Tüte Brötchen kaufen zu gehen?

Ich stellte ihn mir vor, müde und mit zerzaustem Haar, wie er schlaftrunken durch sein Schlafzimmer schlurfte und sich ungelenk anzog.

Bei der Vorstellung, dass ich dabei in seinem Bett lag und ihn beobachtete, musste ich leise seufzen.

Dann fiel mir etwas auf, als ich die Nachrichten auf meinem Handy ansehen wollte, die ich seit gestern verpasst hatte: Meine Galerie stand offen.

Viele Menschen, gerade jene über fünfundzwanzig, vergessen häufig, den Task-Manager zu löschen. Zugegeben, ich mir entfiel es auch häufig, sodass ich jetzt nicht sicher war, ob meine Bilder von ihm oder von mir aufgerufen worden waren.

Hatte ich zuletzt den Ordner mit den Bildern von mir und meinem Ex angesehen, oder war es Mr. Olsson gewesen?

Es handelten sich dabei gewiss nicht um die süßen Bilder eines verliebten Pärchens auf irgendeiner sonnigen Parkbank, das sich gegenseitig auf die Wange küsst. Nein, es waren Fotos von Mica und mir, wie wir es mit einander trieben. Offen und hemmungslos. Bilder davon, wie mein Schwanz in seinen Mund stößt, wie ich ihn von hinten nahm. Videos, wie wir abspritzten. Mica und ich beim Blasen, Wichsen und Vögeln. Das volle Programm. Ich nahm es gerne auf, um es später noch einmal anzusehen. Ich beobachtete mich gerne beim Ficken, es war einer meiner vielen perversen Ticks.

Hatte Mr. Olsson diese Bilder gesehen? Hatte er uns betrachtet, sich darauf vielleicht sogar einen runtergeholt?

Die Vorstellung war dermaßen heiß, dass ich sofort hart wurde.

Ich durchforstete mein Handy, suchte nach Anzeichen, nach möglichen, versteckten Botschaften, doch natürlich fand ich nichts.

Ob er meine Galerie gesehen hatte oder nicht, würde immer nur Spekulation bleiben. Aber ich fand es unheimlich erotisch, mir vorzustellen, es wäre so.

2 – let me in

Mir ging es elend. Ich fühlte mich elend. Mein Leben wurde elend.

Ich sehnte mich zu sehr nach Dingen, die ich niemals erreichen konnte. Und je mehr ich davon träumte, je schmerzlicher wurde die Realität.

Dass ich solche Gedanken formen konnte, hätte ich niemals erwartet. Was war bloß los mit mir? Ich schwärmte häufig für Männer, schon seit sich das erste Mal mein Ding in meiner Hose aus Begehren regte. Arbeitskollegen meiner Eltern, Freunde meiner Eltern, Nachbarn, Väter meiner Freunde, mein eigener Onkel. Ich sabberte vielen Kerlen nach, hegte viele Fantasien, aber meine Libido beruhigte sich irgendwann, wenn ich nur oft genug von ihren Körpern träumte und mich dabei befriedigte.

Aber der Grad an Besessenheit, mit dem ich an Mr. Olsson hing, klang nicht ab, er wurde mit jedem Gedanken an ihn brennender. Schlimmer. Und er schien mit jedem feuchten Traum noch unerreichbarer zu werden.

Es war doch nicht etwa Kummer, den ich fühlte?

Das konnte ich mir nicht vorstellen. Vielleicht zog mich auch das Ende meiner Beziehung mit Mica runter. Aber auch dahingehend konnte ich nicht solch tiefe Verzweiflung empfinden, wie ich sie spürte, wenn ich an Mr. Olsson dachte.

Warum musste dieser Mann auch so verdammt scharf sein? Und dann stand er auch noch jeden Tag vor mir an der Tafel.

Ich ging irgendwann dazu über, mich ganz vorn hinzusetzen, um ihm möglichst nahe zu sein, aber weil es mit der Zeit unerträglich wurde, ihn anzusehen, aber nicht anrühren zu können, versteckte ich mich ganz hinten und versuchte, ihn soweit wie es mir als sein Schüler möglich war, zu ignorieren.

Vergiss ihn! Streich ihn aus deinem Kopf! Ich würde ihn nie bekommen, und meine Fantasien bezüglich seines ansehnlichen Körpers, genügten mir nicht mehr. Es war unerträglich.

Tatsächlich erwischte ich mich dabei, wie ich zu Hause im Bett lag und brütend die Zimmerdecke anstarrte, während ich trauriger Musik lauschte.

Mutierte ich nun doch zum verliebten Mädchen?

Unmöglich! Ich wollte ihn nicht lieben, ich wollte mich ihm hingeben – äh, mit ihm vögeln. Hingeben klang zu … romantisch. Ich wollte ihn nur körperlich. Aber mit solcher Inbrunst, dass es mich in Verzweiflung versetzte.

Selbst von meinen Freunden hatte ich mich distanziert, weil ich es ihnen nicht sagen konnte. Weil ich lieber den Tag damit verbrachte, über Mr. Olsson nachzudenken, als mit ihnen abzuhängen. Plötzlich war das, was meine Freunde taten, Kinderkram, der mich nicht mehr im Geringsten interessierte. Zocken, Chatten, Ausgehen, Feiern, all das war unsinnig und Zeitverschwendung, wenn ich stattdessen über meinen Geschichtslehrer grübeln konnte.

Warum tat er, was er tat? Warum blieb er immer neben mir stehen und half mir bei den Arbeitsblättern? Kam er mir mit Absicht dabei so nahe? Will er mir etwas signalisieren, wenn er sich mit der Hand auf meiner Stuhllehne abstützte? Warum sah er mich mit diesem oder jenem Blick an? Mag er mich? Tat ich ihm leid? War er genervt, weil ich sein langsamster Schüler war?

Ich war nicht mehr ich selbst. Um ehrlich zu sein, hatte ich das Gefühl, noch nie ich selbst gewesen zu sein, als hätte ich zuvor eine Lüge gelebt, und ich könnte erst dann mein wahres Ich finden, wenn ich Mr. Olsson näher käme.

Unmöglich! Ich würde wohl mit dem Gefühl leben müssen, innerlich zerbrochen zu sein. Aufgewühlt, und nie mehr geordnet.

Schließlich hielt ich es nicht mehr aus, neben mir zu stehen. Und in mir brodelte bereits seit einer ganzen Weile eine Idee, die ich eines Tages, es war ein Mittwoch, als Mr. Olsson die letzte Schulstunde abhielt, nicht mehr für mich behalten konnte.

»Mr. Olsson? Ich möchte, dass Sie mir Nachhilfe geben!«

Das Klassenzimmer hatte sich geleert, und ich wollte ebenso gehen, doch als ich an seinem Pult vorbeikam, platzte es aus mir heraus.

Auf diese Weise konnte ich zumindest mehr Zeit mit ihm verbringen, und das ganz allein, wie ich hoffte.

»War das nun eine Bitte oder eine Forderung?« Er blieb ganz cool, distanziert, blickte nicht einmal auf, während er die HÜs von jenem Tag korrigierte.

Das störte mich, es nervte mich zutiefst. Er blieb ganz gelassen, während ich das absolute Gegenteil von entspannt war und innerlich zitternd vor ihm stand. Ich fühlte mich nackt. Wohl bemerkt nicht auf eine gute Weise nackt. Sondern entblößt.

»Wo ist der Unterschied? Ich will, was ich will.«

»Ich will, was ich will«, er sinnierte über meine Worte. Auch das störte mich, denn das leichte, arrogante Lächeln auf seinen Lippen machte mich wahnsinnig. »Es gibt einen Unterschied.«

»Den können Sie mir ja dann in der Nachhilfe erklären«, konterte ich.

Das ließ ihn hochsehen. Zunächst schielte er nur zu mir auf, mit hochgezogenen Augenbrauen, dabei konnte ich mir vorstellen, wie er über den Rand einer Brille gesehen hätte.

Mr. Olsson musterte eingehend mein Gesicht, dann flüchtig meinen Körper.

Sah er noch, was er an jenem Morgen gesehen hatte? Mich halbnackt in Shorts?

»Ich dachte, dafür hättest du keine Mittel.« Er wich mir aus.

Das ließ ich nicht zu. »Sie könnten es ja aus reiner Nächstenliebe tun.«

Ich konnte sehen, wie er mit einem Schmunzeln kämpfte, was auch mich zum Grinsen brachte.

»Ich habe eine befreundete Kollegin, die zwei Mal die Woche eine Lerngruppe abhält-«

»Das will ich nicht! Ich will Sie, Mr. Olsson!«

Er stockte mitten im Satz, als ich ihm dazwischen fiel. Räuspernd kratzte er sich am Kopf, als hätte ich ihn aus der Fassung gebracht.

Das freute mich. Ich wollte ihn verunsichern. So, wie er auch mich verunsicherte.

»Ich sagte doch, ich bin auch nicht sonderlich gut in allen Fächern bewandert …«

»Aber Sie kennen den Stoff, den wir gerade durchnehmen. Mehr brauche ich nicht. In einer Lerngruppe würde ich doch nur untergehen, genau wie hier im Unterricht.« Weil ich es nicht wagte, Fragen zu stellen, um vor den anderen nicht dumm da zu stehen. »Ich denke, dass Sie wissen, dass ich jemanden brauche, der sich nur um mich kümmert.«

Und das passte in alle Lebensbereiche. Er sollte sich um mich kümmern wie nie jemand zuvor, um mich ganz persönlich, um alles, was mein Leben anbelangte. Vom Lernen bis zu meinen intimsten, sexuellsten Wünschen. Er sollte die Erfüllung all meiner Träume werden.

Er seufzte und rieb sich die Stirn, wagte keinen Blick in mein Gesicht. »Ich dachte, deine Eltern helfen dir zur Genüge.« Es sollte ein Seitenhieb werden.

Ich zuckte mit den Schultern und ließ meine Würde, wie so oft, ihm gegenüber fallen. Ach was, ich warf sie ihm gern zum Fraß vor, wenn es ihn glücklich machte, Hauptsache, er nahm mich wahr.

»Ich glaube, Sie wissen, dass ich weiß, dass Sie wissen, dass das gelogen war.«

Ich wählte meine Worte mit Absicht ziemlich verdreht. Hinterher konnte ich immer noch behaupten, er habe mich lediglich falsch verstanden.

Das brachte ihn zum Lächeln. Er sah mich wieder an, direkt ins Gesicht. »Und wenn ich weiß, dass du weißt, dass ich weiß, dass du gelogen hast, was machen wir dann mit diesem Wissen?«

Jetzt fiel es mir schwer, ihm zu folgen, obwohl ich damit angefangen hatte. Ich wusste nichts zu erwidern und gab nur ein Achselzucken zurück.

Er betrachtete mich für einen Moment erneut ausgiebig. »Worin brauchst du Nachhilfe?«

»Sie wissen, dass mir das egal ist.« Ein gewagter Schachzug, ich weiß, aber es kam wie so oft unerwartet aus meinem Großmaul.

Mr. Olsson dachte darüber nach, ernst und schweigsam, während er die Augen nicht von meinem entschlossenen Gesicht nehmen konnte. Ich wünschte, ich hätte seine Gedanken lesen können.

»Das ist keine gute Idee«, meinte er dazu, doch er sagte nicht Nein. Sein wacher, intelligenter Blick traf mich mitten ins Gesicht. »Weißt du, worauf du dich einlässt?« Es war eine leise Frage, nicht mehr als ein heiseres Raunen, sodass ich mich fragte, ob er tatsächlich etwas gesagt hatte, oder ob ich mir seine lüsternen Worte nur einbildete.

Trotzdem blieb mir das Herz in der Brust stehen. Was meinte er denn damit? Hatte er mich bereits vollends durchschaut? Wusste er, dass ich auf ihn abfuhr und ihm einfach nur nahe sein wollte?

Und wie sollte ich damit umgehen, wenn er es wüsste und es nicht erwiderte?

»Ja«, stimmte ich beiden Äußerungen zu.

Ich hielt meinen Vorschlag bezüglich der Nachhilfe allerdings nicht für sonderlich schlau von meiner Warte aus, denn es würde meine Besessenheit gewiss noch verschlimmern. Ihn allein zu treffen, ihm nahe zu sein, aber mich nicht an ihm reiben zu dürfen würde mir körperliche und geistige Qualen zufügen.

Aber so wie es im Moment lief, konnte es auch nicht weiter gehen. Irgendetwas musste jetzt geschehen. Vielleicht musste ich ja auf die Schnauze fallen, um aufzuwachen.

Mr. Olsson wandte sich plötzlich ab und kramte in seiner Tasche. Er zog ein kleines, weißes Kärtchen hervor, drehte es auf die unbeschriftete Seite und notierte darauf etwas in schöner Schnörkelschrift.

 

Er reichte es mir und sagte kurz angebunden: »Morgen Nachmittag, um Fünf Uhr. Sei pünktlich, oder komm gar nicht.«

Sei pünktlich, oder komm gar nicht. Es klang wie ein Test.

Ich starrte noch auf die Adresse, die er mir gegeben hatte. Er wohnte in meiner Nähe, eine Viertelstunde Fußweg entfernt, mit dem Bus ginge es noch schneller. Wie in Trance hörte ich meine eigene Stimme, die erwiderte: »Ich werde pünktlich sein, Mr. Olsson.«

Während ich, zufrieden damit, dass ich bekommen würde, was ich mir ersehnte, langsam aus dem Klassenzimmer schlurfte, drehte ich die Visitenkarte herum. Auf der Frontseite stand gedruckt in dicken, schwarzen Buchstaben ein einziges Wort, das mich die Stirn runzeln ließ: »Straff«

Straff. Was bedeutete Straff?

Eines war sicher, es war nicht sein Nachname, und da ansonsten nichts auf der Karte stand, hatte es wohl auch nichts mit ihm als Lehrer zu tun.

Stammte es aus seinem Privatleben? Und was hatte es zu bedeuten? Oder war es nur eine Karte irgendeines Clubs? Ein Nachtclub vielleicht? Stripschuppen, Bordell? Eine Bar? Ein Geschäft? War es etwas, wohin er ging, oder woher er kam?

Es ließ mich nicht los und ich musste am Abend danach suchen. Doch wenn man das Wort in eine Suchmaschine eingab, ploppten alle möglichen Seiten der Schönheitschirurgie auf. Und natürlich die Definition des Wortes.

Straff. Hat er sich vielleicht was machen lassen? Danach sah er nicht aus, um seine Augen waren kleine Falten zusehen gewesen, mir war die Haut nicht wie straffgezogen vorgekommen. Vielleicht war es der Hintern gewesen? Die Vorstellung ließ mich lachen.

Schließlich gelangte ich wieder bei der Definition des Wortes »straff«: fest gespannt, glatt, nicht locker oder schlaff. Oder: auf das Wesentlichste beschränkt.

Auf das Wesentlichste beschränkt. Effektiv …

Darunter gab es einen weiteren Reiter: Übersetzungen. Ich wählte alle möglichen Sprachen aus. Afrikanisch: stark. Englisch: taut, tight … zu viele. Schwedisch: spänt … usw.

War Mr. Olssons Nachname nicht sogar schwedisch oder norwegisch, irgendetwas in dieser Richtung?

Und wenn das Wort Straff gar nicht Deutsch war?

Ich rief einen Übersetzer auf und gab es ein. Zuerst versuchte ich es mit der Ausgangssprache Englisch, ganz klassisch. Vorgeschlagen wurde mir dann die Ausgangssprache Schwedisch.

Volltreffer, dachte ich und klickte es an. Und da stand es.

Straff, das bedeutete: Strafe, Bestrafung.