Luca - Zwischen Nichts und Allem

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2.1




Ich war nervös.



Warum war ich nur so nervös?



Vielleicht, weil ich mich bereits die ganze Zeit fragte, seit dem Abend davor, bis zu dem Moment, als ich die Wohnung verließ, um zu ihm zu gehen, ob er mir die Karte absichtlich gegeben hatte. Wollte er mir etwas Bestimmtes damit sagen, mich testen? War es eine unausgesprochene Frage? Seine ganz subtile Art, mit mir zu flirten, mir gar ein Angebot zu unterbreiten?



Fakt ist, er hätte mir seine Adresse auch auf ein anderes Blatt schreiben können. Das hatte er aber nicht getan, nein, er hatte mir diese Karte gegeben.



Ob er wollte, dass ich herausfand, was das Wort auf der Vorderseite bedeutete?



Oder war alles nur ein Versehen gewesen? Interpretierte ich in seine Gesten zu viel hinein?



Ganz bestimmt!



Alles, was mit ihm zu tun hatte, verunsicherte mich zutiefst. Wäre er ein anderer, wäre er kein Lehrer, dann wäre ich einfach zu ihm gegangen, hätte mich mit einem Zwinkern vor ihn gestellt und ihm klipp und klar ein Angebot gemacht. Er hätte entweder das Gesicht verzogen und mich zum Teufel geschickt, gelacht, abgelehnt, gezögert, oder wäre darauf eingegangen. Egal, was geschehen wäre, seine Antwort hätte es auf die eine oder andere Art beendet. Ja oder nein, und gut ist. Ich hätte gefragt und wäre mit jeder Erwiderung zufrieden gewesen, weil ich Gewissheit hatte.



Aber er war mein Lehrer. Und es konnte für mich ganz schön beschissen enden, wenn ich ihm ganz offen sagen würde, dass ich ihn wollte, dass ich nach seinem Körper lechzte. Ich sah die Konsequenzen bereits vor mir, die Vertrauensgespräche mit anderen Lehrern, das Zusammensetzen mit meinen Eltern, der Weg zum Psychologen – es ist ja nicht normal für einen Jungen, auf den eigenen Lehrer zu stehen – und der unvermeidbare Schulwechsel, weil er und ich uns unwohl fühlen würden, zu jeder Stunde.



Nein, das konnte und wollte ich nicht akzeptieren.



Wäre er der Typ, der mir an der Ecke beim Bäcker meinen Kaffee verkaufte, und ich nur sein täglicher Kunde, hätte ich bestimmt nicht gezögert zu fragen, ob er mit zu mir käme, oder ich mit zu ihm.



Aber das waren wir nicht, wir waren Schüler und Lehrer. Ich fragte mich, als ich das erste Mal zu ihm ging, ob ich ihn nur deshalb begehrte, weil es verboten war. Weil es aufregend war, ihn haben zu wollen und nicht haben zu können, mir aber vorzustellen, wir könnten einander ausziehen und hingeben?



Was erhoffst du dir davon?

 Ich hörte Micas Worte in meinem Kopf, als spräche ein Geist zu mir.



Dass er mich fickt, natürlich. Und dass er mir noch einmal diese Aufmerksamkeit schenkte, wie er es getan hatte, als er mir bei den Hausaufgaben half.



Ich nahm nicht den Bus, ich lief zu Fuß zu ihm. Es kam mir unerträglich vor, in diesem Zustand sitzen zu müssen. Es war noch keine Fünf Uhr, als ich vor seinem Haus stand.



Es glich einer Hütte und lag abgelegen in einem kleinen, bewaldeten Gebiet. Ein Bungalow im Blockhausstil mit Holzveranda, umzäunt von einem verwilderten Garten, der wie aus einem düsteren Märchen entsprungen schien. Finken flogen herum und landeten am Rande einer Vogeltränke, in der sie badeten, bis ihr Federkleid auf ihren winzigen Köpfen einem Irokesen gleich abstand. Sie waren kleine Punkrocker, die zwitschernd die Idylle der Hütte vollendeten. Lichtspeere drangen durch die Blätterdächer der Laubbäume, und ein Eichhörnchen sprang leichtfüßig von der Dachrinne auf einen Ast, der dicht über der Veranda hing, und verschwand in der Baumkrone.



Ich war zu früh da, zwanzig Minuten zu früh, weil ich es zu Hause nicht mehr ausgehalten hatte. Hinter dem Fenster neben der Tür, in dem sich die raschelnden Blätter der Bäume spiegelten, konnte ich eine Bewegung ausmachen.



Lebte er allein? Ich hatte nie soweit gedacht. War er vielleicht verheiratet, hatte er Kinder?



Der Gedanke beunruhigte mich nicht, ich wurde nicht eifersüchtig. Ich stellte mir vor, wie er, nachdem er seine Frau gefickt hatte, zu mir kam und ich ihren Geruch noch auf seinem Körper riechen und schmecken konnte. Ein verbotenes Katz- und Mausspiel. Ich hätte sogar einem Dreier zugestimmt, wenn ich nur ein einziges Mal mit ihm hätte schlafen dürfen.



Doch als ich klopfte, öffnete Mr. Olsson - und er war allein.



»Komm rein.« Er ignorierte, dass ich zu früh war. Vielleicht gefiel es ihm sogar.



Drinnen sah es aus wie draußen. Urig. Rustikal. Ich tauchte von meiner mir bekannten modernen, digitalisierten Welt in den Minimalismus eines ruhigen Geistes ein. Ein seltsames Gefühl über kam mich, als ich den dunklen Geruch von Holz und Harz in mich aufsaugte. Geborgenheit, Frieden. Stille. Tiefe, innerliche Stille.



Ich trat ein und war sofort in seinem Wohnzimmer. Jener Raum, Küche und Esszimmer gehörten alles drei zusammen. Der Kochbereich war durch einen Tresen vom Rest getrennt, der Küchentisch stand mit vier Stühlen hinter der großen Couch. Sie war aus dunklem Leder, das einladend geschmeidig aussah.



Die gesamte Einrichtung bestand aus Holz, selbst die Deko. Dunkle, antike Möbelstücke, Balkendecke, schlichte Lampen mit hellen Schirmen. Es war dunkel in seinem kleinen Haus, aber unendlich gemütlich. Es gab keine Fotos, nichts Persönliches, das an den Wänden hing. Ich ging also davon aus, dass er kein Familienvater war.



»Setz dich.« Es war keine Bitte, es war ein Befehl.



Ich zog die Schuhe aus, weil ich gesehen hatte, dass er Hausschuhe trug, und ich wollte nicht unhöflich sein. Er bot mir keine Pantoffeln oder sonstiges an, er ging einfach in Richtung Küche und fragte, ob ich etwas zu trinken wollte.



Ich setzte mich an den Esstisch, wo er bereits Unterlagen und Bücher aufgeschlagen hatte, und bejahte seine Frage.



Er brachte mir Wasser, es sprudelte, doch er hatte trotz Hitze auf das Eis verzichtet.



Gerne hätte ich eine Zigarette geraucht, aber ich hatte es ganz bewusst vermieden. Bevor ich zu ihm gegangen war, hatte ich geduscht, mich umgezogen und mir die Zähne geputzt. Nichts an mir sollte unangenehm riechen, ich wollte, dass ihm mein Duft so gut gefiel wie mir der seine.



Er nahm nicht wie erhofft neben mir Platz, sondern mir gegenüber. Die Breite eines Tisches trennte mich von ihm, was ziemlich ernüchternd war.



Ich sah mich um, während er sich setzte, nach irgendetwas, das mir ein Gesprächsthema lieferte. Irgendetwas, worauf ich ihn ansprechen konnte, nur, um etwas sagen zu können.



Fuck, ich starb vor Nervosität. Plötzlich war ich nicht mehr sicher, ob ich hier sein wollte.



Mir fiel etwas ins Auge, neben dem Zugang zum Flur – ich nahm an, dass der dunkle Gang zu seinem Schlafzimmer und dem Badezimmer führte – hingen Hundeleinen und Halsbänder an der Wand.



Ich drehte ihm das Gesicht zu. »Sie haben einen Hund?«



Er sah mich an. Lange. Reglos. Schließlich kam ich mir ziemlich dumm vor und wollte die Augen abwenden, als er den Kopf schüttelte.



»Nein«, antwortete er schlicht.



Nein? Ich schielte verwundert zurück zu den Leinen und dann wieder zu ihm. Er beobachtete mich aufmerksam.



Testete er meine Reaktion?



Ich musste lächeln und warf ihm einen ganz bestimmten Blick zu.

Ich weiß, wofür die Leinen sind.



Er sagte nichts weiter dazu, schmunzelte nur verstohlen zurück.



Tief durchatmend schien er sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Straff. In der deutschen Definition. Er war straff organisiert, dachte ich belustigt. Hey, ich hatte tatsächlich etwas gelernt!



»Fangen wir mit deinen Hausaufgaben an«, beschloss er.



Und wir fingen an.



Nichts weiter geschah.



Was hatte ich Dummerchen denn auch erwartet? Dass er mir statt Hilfestellung bei den Hausaufgaben und beim Lernen, Hilfestellung beim Sex gab? Dass er mich verführte, mich durch Näherrücken betrunken machte, mir eine Hand auf das Bein legte? Mir unter dem Tisch den Schritt streichelte, während er mir scheinheilig erklärte, wie ich komplizierte Matheformeln ausrechnete?



Dass er mir ins Ohr flüsterte, einen echten Mann aus mir zu machen?



Wenn ich ehrlich war: ja, ich hatte mir so etwas in der Art erhofft.



Tatsächlich lief es vollkommen harmlos ab, er hielt sogar ziemlich deutlich Abstand, als wüsste er um meine Absicht. Ich wollte zumindest versuchen, noch einmal mit meinem Knie gegen seines zu stoßen. Entweder er traute mir nicht, oder sich selbst nicht, als er sich stets so weit wie es schicklich war, von mir entfernt aufhielt. Selbst wenn ich ihn um mehr Wasser bat, schob er das Glas lieber über den Tisch, statt zu mir herüber zu kommen.



Als er einmal auf die Toilette verschwand, stand ich vom Stuhl auf und setzte mich kurzerhand mit meinem Geschichtsbuch auf sein Sofa. Er stockte, als er zurückkam, wies mich aber nicht zurecht. Vermutlich, weil ich ihn ignorierte und mich so natürlich wie möglich gab. Ich tat einfach so, als gehörte ich auf diese Couch, wie der Sonnenaufgang zum Morgen.



Und es fühlte sich verdammt gut an, auf seinem Sofa zu liegen. Das mit Leder bezogene Polster schmiegte sich perfekt an meinen Körper, ich wollte nie wieder aufstehen, zumal es sich bei den sommerlichen Temperaturen drinnen und draußen angenehm kühl auf meiner Haut anfühlte.



Ich hoffte, er würde sich neben mich setzen. Doch stattdessen ging er wortlos zu einem seiner vollgestopften Bücherregale. Er grübelte einen Moment und ließ den Blick über die Buchrücken schweifen. Dann zog er eines hervor und nahm mir mein Geschichtsbuch aus der Hand, um mir den dicken Wälzer aus dem Regal in die Hand zu legen. Deutsche Geschichte.

 



Trockene Lektüre. Ich seufzte, ohne es zu verstecken. Ich war nie ein großer Leser gewesen, hatte außerhalb der Schule nie ein Buch angerührt, trotzdem hatte ich mir etwas anderes erhofft. Erotische Literatur. Schwule Literatur. Sofern es so etwas überhaupt gab, was ich als anerkannter Nicht-Leser nicht wissen konnte.



Er setzte sich in einen Sessel, weit von mir entfernt, und blätterte in meinem Geschichtsbuch. Da er die Lektüre als Lehrer auswendig kennen musste, nahm ich an, dass er lediglich etwas zu tun haben wollte. Es bestand eine sehr geringe Chance, dass er sich von etwas Bestimmten abzulenken versuchte.



Ich wünschte mir insgeheim, er möge ebensolche Qualen leiden wie ich es tat.



In eine Ecke seiner Couch gekuschelt, begann ich zu lesen, natürlich blieb nichts davon in meinem Gedächtnis hängen, weil ich unentwegt nur an ihn denken konnte, und wie herrlich elegant und klug er wirkte, wie er da so in seinem Sessel in seinem urigen Wohnzimmer saß und las.



Und dennoch, oder gerade deswegen, entstand auf meiner Seite eine wahrlich prickelnde Grundstimmung. Ich hätte zu gerne gewusst, ob er die erotische Aufladung in der Luft, die mit jedem Blick, jedem Wort, verschlimmert wurde, genauso heftig spürte wie ich.




Ich ging dreimal die Woche zu ihm. Dienstags, donnerstags und samstags. Natürlich war es mir nicht genug und ich hatte an meinem ersten Nachmittag bei ihm, als er mich zur Tür brachte, darauf bestehen wollen, jeden Tag zu ihm zu kommen.



»Das ist zu viel.« Im Klartext: er hatte Besseres zu tun.



Das tat weh.



»Dann nur unter der Woche.«



»Zweimal die Woche!« Er wollte konsequent bleiben. »Zwischen dem Lernen braucht man auch Ruhepausen.«



»Ich muss trotzdem täglich Hausaufgaben machen.«



»Und das wirst du auch tun, so gut du es kannst.«



»So gut, wie ich es kann, ist nicht gut genug«, warf ich ein.



»Für mich schon.«



»Für mich nicht.«



Er verengte die Augen und sah mich scharf an, was mich jedoch nicht von meiner Beharrlichkeit abbringen ließ. Wir starrten uns an, keiner war gewillt, nachzugeben. Das schien ihn nur noch mehr zu verärgern, als ertrüge er meinen eigenwilligen Charakter nicht länger.



»Bitte«, hatte ich gehaucht und es auf die andere Tour versucht. Ich habe den armen, vernachlässigten Jungen gespielt, der es nicht besser wusste. »Ich würde auch dafür bezahlen.« Gerne auch in Naturalien, aber das traute ich mich dann doch nicht zu sagen.



»Dreimal die Woche«, hatte er überraschend eingelenkt, »nicht mehr!« Damit hatte er mich hinausgeschoben, und ich ging vor mich hin grinsend davon.




Er ahnte nicht, dass ich samstags kommen würde, vermutlich hatte er mich erst am Montag wieder zu sich zitieren wollen. Aber solange hätte ich es ohne seinen Anblick niemals ausgehalten. Außerdem hatte ich nun einen Vorwand, ihn auch am Wochenende zu sehen. Meine Vernarrtheit wandelte sich in eine ernstzunehmende Besessenheit.



»Was machst du denn hier?« Ich kam viel früher als unter der Woche, aber er meinte wohl allgemein an jenem Tag.



Mr. Olsson hatte nicht mit mir gerechnet, und ich hatte ihn wohl gerade nach seiner Joggingrunde erwischt, denn er trug ein verschwitztes Tanktop und Sportshorts. Echt heiß!



»Lernen«, hatte ich nur erwidert. Sein Anblick trieb mir doch tatsächlich die Röte auf die Wangen.



Seine Tattoos waren nun sichtbar. Na ja, zumindest ein Teil davon. Krähen – oder Raben, ich kenne bis heute den Unterschied nicht – Bären, heidnische Krieger und Götter.



Er ließ mich murrend herein, als ich ihn anstarrte wie eine Maus die Katze. Vermutlich tat er es aus Mitleid.



Ich zog wieder meine Schuhe aus und ging brav zum Tisch, die Couch hob ich mir für später auf, wenn er etwas entspannter wirkte. Zunächst mimte ich den gelehrigen Schüler.



»Fang mit Mathe an«, trug er mir auf, als ich meine Sachen – Bücher, Blöcke, Stifte – aus meinem Rucksack kramte und auf seinen Tisch legte. Er trank gerade in der Küche in großen, atemlosen Zügen ein Glas Wasser aus. Schweiß perlte von seinem erhitzten Gesicht, wie Regentropfen von einer Glasscheibe nach einem warmen Sommerregen.



So muss er nach dem Sex aussehen, dachte ich insgeheim, und mir wurde warm.



»Ich gehe schnell duschen«, verkündeter er, »dann helfe ich dir.«



Mit offenem Mund sah ich ihm nach, als er im Flur verschwand.



Duschen. Ich stellte ihn mir vor, nackt unter dem Strahl, wie das Wasser über seine Brustmuskeln perlte, und wie er sich das nasse Haar genüsslich nach hinten strich. Ich wollte so gerne der sein, der ihn einseifte.



Das war unendlich gemein! Wie konnte er in meinem Beisein duschen gehen, ohne vorzuhaben, mich mit zu nehmen? Oder wenigstens zusehen zu lassen.



Er war ein grausamer, grausamer Mensch!



Ich stand auf. Natürlich stand ich auf, was hätte ich sonst tun sollen? Aber mein neugieriges Näschen führte mich zunächst durch sein Wohnzimmer, weil ich mich noch nicht traute, ihm hinterher zu gehen.



Ich sah mir seine Bücher an, zog hier und dort einen dicken Band heraus. Historische Romane, Abenteuer Romane, Wikinger, Germanen, Kelten, Römer. Aber auch Tempelritter, viktorianisches Zeitalter, die Entdeckung Amerikas, Wilder Westen. Zwischendurch erwischte ich sehr poetische Lektüren, deren Sätze ich nicht entziffern konnte.



Sie waren allesamt gut erhalten, aber deutlich oft gelesen worden. Ich glaubte, seine Hände und seinen Atem noch zwischen den Seiten riechen zu können. Frisch wie Regen an einem heißen Sommertag.



Es ist kein Geheimnis, dass ich eine Vorliebe für warme Regentage habe. Und er erinnerte mich an einen solchen, wenn es draußen still und dunkel wird, die Welt aufgewühlt scheint, der Himmel grau und die Luft feucht werden. Geborgenheit, Ruhe, unendlich tiefer Frieden, als stünde die Welt für die Zeit des Regens still. Die Natur in ihrem unbeständigen Wesen, mal sanft, mal strafend. Mal lockend, mal abschreckend. So war auch er, durch und durch Natur. Durch und durch Mann, wild und ungreifbar. Ich wollte ihn festhalten, doch es war unmöglich, ihn zu ergreifen.



Ich schob meine Gedanken Beiseite und stellte das Buch zurück. Er war ein echter Nerd, dachte ich grinsend. Doch meine Belustigung verschwand, weil ich mich fragen musste, ob er und ich irgendetwas gemein hatten.



Würde ich mich doch nur für das Lesen begeistern können, dachte ich wehmütig, damit hätte ich ihn gewiss beeindruckt. Doch vom Lesen wurde ich allerhöchstens müde.



Und dann sollte ich mich durch die Achthundertseiten der Bände quälen, die in seiner Sammlung standen? Ich war bereits froh, wenn es mir gelang, eine Seite zu lesen und zu verstehen. Ich wollte es nicht übertreiben.



Vielleicht bin ich doch etwas langsam, dachte ich niedergeschlagen.



Ich stellte das Buch zurück und nahm all meinen Mut zusammen. Dann schlich ich durch seinen Flur. Er war fensterlos und dunkel, ein weicher Teppich dämpfte meine Schritte. Ich folgte dem immer lauter werdenden Rauschen der Dusche.



Um in das Badezimmer zu gelangen, musste ich durch sein Schlafzimmer. Auch jenes war rustikal eingerichtet, antike Kommoden, vertäfelte Wände, warmer Holzdielenboden. Aber am erstaunlichsten war das Bett: groß mit einem fein geschnitzten Vorhanggestell, doch der Stoff fehlte. Ein Himmelbett ohne Himmel. Die Kissen und Decken waren mit einem dunklen Bezug überzogen. Sie waren sehr schwer, als ich sie anhob. Hochwertig.



Das Bett eines Königs, dachte ich. Es passte zu den historischen Romanen aus seinem Bücherregal.



In dem Raum hing sein Duft. Kaffee und Leder. Ich nahm mir eines seiner Kissen, auf dem sein Kopfabdruck noch zu sehen gewesen war, drückte mein Gesicht hinein und sog genüsslich seinen Geruch ein.



Ich wurde hart.



Die Stille aus dem Badezimmer ließ mich zur Vernunft kommen. Er hatte das Wasser abgestellt. Bangend wartete ich, mit dem Kissen noch in der Hand.



Sollte ich hören, wie er aus der Dusche stieg, würde ich aus dem Zimmer fliehen. Doch ich vernahm nur das Geräusch, wie der Verschluss einer Duschgel-Flasche geöffnet und wieder verschlossen wurde.

Klick.



Ich seufzte erleichtert, als kurz darauf das Wasser wieder rauschte.



Meine unendliche Neugierde machte mich nicht klüger, denn obwohl ich jetzt genug Zeit hätte, mich zurück an den Tisch zu schleichen, ohne dass er je wüsste, dass ich in seinem Zimmer gewesen war, nur einen Raum neben jenem, in dem er gerade nackt unter der Dusche stand, ging ich nicht hinaus.



Leise schlich ich zur dunklen Badezimmertür, dabei fiel mir auf, dass sie nur angelehnt war. Durch einen schmalen Spalt konnte ich nach drinnen sehen. Schwarze Kacheln wurden von heißen Dampf beschlagen, mir schlug feuchte Hitze entgegen, als würde ich in eine Sauna sehen.



Hatte er die Tür mit Absicht offengelassen? Für mich? Oder war es reine Nachlässigkeit gewesen? Dachte er sich etwas dabei, oder war es nur sein übliches Vorgehen?



Er lebte allein, wozu sollte er also die Tür schließen. Er hatte mich sicher nur vergessen. Oder einfach angenommen, ich würde ihm nicht nachgehen.



Es war genau die gleiche Situation wie mit der Karte, ich würde nie erfahren, ob er mit mir spielte, oder ob das alles nur in meiner Fantasie stattfand.



Ich versuchte, etwas zu erkennen, doch mehr als eine nackte Silhouette konnte ich nicht entdecken, die sich hinter dem beschlagenen Milchglas der Duschkabine bewegte.



Er summte, stellte ich belustigt fest, und er keuchte und stöhnte leise, während er sich den Schaum aus dem Haar wusch. Ich wünschte, es wären meine Finger, die seine Kopfhaut massierten und ihm wohlige Laute entlockten.



Seufzend lehnte ich mich mit dem Rücken gegen die Wand neben der Tür und schloss die Augen, während ich ihm lauschte. Das war besser, als ihn zu begaffen. Seine Stimme war dunkel und rau, animalisch. Männlicher als alles, was ich bisher gehört hatte.



Ich streichelte mich durch die Hose. Nur kurz, sagte ich mir. Weil ich es nicht aushielt, meine Erektion einfach zu ignorieren, während ich ihm lauschte und in seinem Zimmer stand. Während ich seinen Duft wahrnehmen konnte.



Ich wollte mich in sein Bett legen, nackt, und darauf warten, dass er frisch geduscht rauskommt.

»Nimm mich«,

 hätte ich gefleht,

»und stöhn noch mal so schön.«



Als er die Dusche abstellte, wusste ich, dass er fertig war. Und statt meinen Plan in die Tat umzusetzen, floh ich scheinheilig zurück ins Wohnzimmer, wo ich mich brav an den Tisch setzte.



Als er wenig später mit noch feuchtem Haar aus dem Flur trat, trug er Hemd und Hose, lief aber barfuß über den warmen Holzboden. Ich konnte die Augen nicht von seinen perfekten Füßen lassen, sie sahen sehr gepflegt aus.



Er beobachtete mich stumm, als er zum Kühlschrank ging. Dieses Mal fragte er mich nicht, ob ich Durst hatte, er schenkte mir ein Glas Wasser ein. Dabei blickte er sich immer wieder über die Schulter und musterte mich argwöhnisch, als wüsste er, was ich getan hatte.



Vielleicht sah man mir die Schuld aber auch, wie so oft, an der Nasenspitze an.



»Ich muss mal«, sagte ich kurz angebunden und erhob mich eilig. Beinahe wäre ich einfach in das Badezimmer spaziert, dabei hatte er mir nie gesagt, wo es ich befindet. Ich hätte mich verraten.



»Den Flur runter, du musst durchs Schlafzimmer«, sagte er, als ich stehen blieb und ihn ratlos ansah.



Nur gut, dass ich gut schauspielern konnte.



Ich verschwand im Badezimmer, anders als er, schloss ich die Tür ab. Es war noch stickig im Raum, der Spiegel war noch von seiner Dusche beschlagen. Nachdem ich meine Blase geleert hatte, obwohl ich gar nicht wirklich musste, spritzte ich mir etwas Wasser ins Gesicht.



Dann sah ich es: Seine Wäsche.



Sein Tanktop und seine Shorts lagen oben auf dem Korb, als habe er sich beim Ausziehen beeilt und vergessen, den Deckel zu öffnen. Ich suchte, Schwein, das ich war, nach seiner Unterwäsche.



Er schien keine zu tragen.



Das enttäuschte mich, ich hätte sie – immer noch Schwein, das ich war – mit nach Hause nehmen wollen. Vielleicht hätte ich daran gerochen, allein in meinem Bett, vielleicht hätte ich sie getragen. Auf jeden Fall hätte ich sie mir im Schritt gerieben, bis ich kam.



Die Vorstellung ließ mich nicht los, aber auch im Wäschekorb fand ich keine Unterhosen. Er schien nie etwas drunter zu tragen. Auch diese Vorstellung heizte mir sichtbar ein.

 



Leider war seine Sporthose deutlich zu groß, um sie mitzunehmen. Er hätte bemerkt, dass ich etwas eingesteckt hatte.



Ich weiß nicht, was mich dazu bewog, konnte mir den Sinn hinterher selbst nicht erklären, aber ich zog mich aus. Zog meine Shorts aus und legte sie auf seinen Badewannenrand, gut sichtbar, dann schlüpfte ich wieder in meine Jeans und verließ den Raum, meine Unterwäsche liegen lassend.



Ich stellte mir vor, er würde mit meinem Kleidungsstück das tun, was ich mit seinem hatte machen wollen. Oder es war meine Art mit ihm zu spielen, wie er mit mir spielte.



Meine Antwort auf seine möglicherweise versteckten Botschaften.



Und wenn er mich fragte, was das solle, würde ich einfach behaupten, sie gehöre nicht mir. Er kann es mir ja nicht beweisen.



Ich kam zurück und musste mir ein Schmunzeln verkneifen, als ich mich wieder am Tisch niederließ.



Er saß mir wieder gegenüber und betrachtete mich mit seinem berühmten Adlerblick. »Was hast du angestellt?«



Seine Frage ließ mich schuldbewusst zusammenzucken. Er lächelte bereits wissend.



»Gar nichts«, log ich. Dann hob ich ratlos die Schultern und senkte den Kopf. »Hab mir vorhin nur Ihre Bücher angesehen.«



Ich gab ein kleineres Vergehen zu, um das Große zu vertuschen.



Er wusste, dass ich was angestellt hatte, ich konnte es in seinen Augen glitzern sehen.



»Und?«, fragte er schließlich. »War ein Buch dabei, das dich interessiert?«



»Ich lese nicht«, platzte ich heraus, wie es eben meine dämliche Art war. Sofort biss ich mir auf die Zunge, denn ich hätte doch lügen können! Dann hätte ich ihm mein Interesse vorgegaukelt, vielleicht hätte er mir ja einen Roman ausgeliehen, hätte mir etwas Persönliches von sich anvertraut. Das hätte mir durchaus gefallen, und wir hätten darüber reden können, ein gemeinsames Interesse an uns entdecken können.



Er lächelte – ein nachsichtiges Schmunzeln – und faltete die Hände unter dem Kinn. »Warum liest du nicht?«



Seine interessierte Frage ließ mich blinzeln. Da war wieder diese intensive Aufmerksamkeit, die mir schmeichelte und auch das Gefühl geben konnte, wichtig zu sein. Dass ich wahrhaftig bin, wirklich existiere. Dass meine Meinung, meine Interessen, jedes Wort aus meinem Mund, eine Bedeutung, einen Wert hatten.



»Ähm, ich weiß nicht?« Ich kam mir dumm vor, faul, unkultiviert. »Das ist doch sterbenslangweilig.«



Er betrachtete mich gleichgültig und zuckte mit seinen breiten Schultern. »Okay.« Er ließ das Gespräch verklingen und widmete sich den Unterlagen auf dem Tisch, in jenem Fall meinem Mathebuch.



Aber ich hatte das Gefühl, dass dieses Thema, dass das Lesen, wichtig war. Wie ein Schlüssel, den ich brauchte, um die Tür zu seinem Leben zu öffnen.



»Na ja, es sei denn…«, fuhr ich verspätet fort, zu laut, zu verzweifelt versucht, das Gespräch aufrecht zu erhalten, »… es sei denn, das Buch wäre echt spannend. Und weniger … verwirrend.«



Mr. Olsson sah mich einen Moment lang an, das Mathebuch zu sich gezogen. Er lächelte auf seine leichte Art, als wollte er sagen:

»Ich weiß, warum du das machst.«



»Mit viel Action und einer Handlung, der ich auch folgen kann…«



»Gradlinig?«, fragte er und sah mir mit einem fesselnden Blick in die Augen. »Du meinst, du magst keine Intrigen, Rätsel und …«



»Ja. Keine Rätselsprache.«



»Poesie?«



Ich zuckte mit den Schultern und starrte auf meine Finger hinab, die flach auf dem Tisch lagen, weil ich nichts mit ihnen anzufangen wusste. »Ja, kann schon sein.«



Er runzelte amüsiert seine Stirn. »Und was magst du daran nicht?«



»Wir haben in Deutsch mal Shakespeare gelesen«, gestand ich und sah ihn seufzend an, »ich habe kein Wort davon verstanden. Ich meine, welcher Mensch redet denn bitte so? Ich will verstehen, was die Helden sagen. Und ich will von Anfang an wissen, was sie vorhaben.«



Er musste über mich lachen, und versuchte, es zu verbergen. Leise. Dunkel. Sexy. Ich liebte den Klang seines Glucksens, das ganz tief seiner Brust entstieg.



»Du magst also keine Spielchen.«



»Nicht, wenn ich nicht weiß, was noch passiert.« Sprachen wir noch über Bücher?



Er dachte kurz darüber nach und nickte dann zustimmend. »Das kann manchmal ziemlich aufreibend sein, nicht wahr?«



Ich nickte stumm, nervös.



Im Ernst jetzt, sprachen wir noch über Bücher? Ich hielt die

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