Das Perchtenerbe

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WARTEN

Criste hüpft flink auf nackten Füßen zwischen den zahlreichen zugefrorenen Pfützen die Dorfstraße entlang. Sie ist auf dem Weg zum Brunnen, um frisches Wasser holen. Den Holzeimer schwingt sie dabei ausgelassen hin und her. Ihre kalten Füße schmerzen, doch Schuhe für die Kinder kann sich ihre Familie nicht leisten. Den Gestank, der sich zwischen den Häusern fängt, bemerkt das Mädchen kaum. Sie kennt es nicht anders. Laut klatschend landet der Inhalt eines Nachttopfes ein Stück hinter ihr auf dem Weg. Schnell macht Criste einen großen Sprung, um nicht von den Spritzern getroffen zu werden. Dabei ist sie so in Eile, dass sie beinahe in den Unrat läuft, den eine Frau von der anderen Straßenseite gerade mit Schwung vor die Türe gekippt hat. Einige herumstreunende Katzen und Hunde kommen herbei, um in den Überresten nach etwas zu suchen, das ihnen noch als Nahrung dienen kann. Sie sind nicht die einzigen Tiere, die hier leben. Scharen von Ratten geben sich keine Mühe, in den Schatten versteckt zu bleiben. Die stinkenden Gassen sind ihr Zuhause, und auf ihrer steten Suche nach Nahrung gehen sie dreist zu Werke.

Am Brunnen stehen einige Frauen beisammen und tuscheln hinter vorgehaltenen Händen. Criste will sie gerade höflich grüßen, als der Name Frau Percht zu ihr dringt. Abrupt hält sie in ihrer Bewegung inne und stellt sich etwas abseits, um weiter lauschen zu können.

„Morgen ist es wieder soweit. Frau Percht wird zu uns ins Dorf kommen. Ich muss noch rasch die letzten Ecken kehren, damit sie nur nichts findet, das ihren Unmut entfacht“, raunt eine dickliche Frau.

Ihre Gesprächspartnerin erwidert ebenso leise: „Glaubst du, dass sie noch kommt? Man hört immer seltener von ihr. Der Pfaffe hat erklärt, dass sie nicht mehr existiert. Dass der wahre, der einzige Gott und seine Heiligen sie in die Hölle verbannt haben, in der sie nun schmort.“

Entsetzt reißt die Erste die Augen auf.

„Sei still! Fang nicht an zu lästern! Oder möchtest du die Urmutter gegen dich aufbringen? Immer hat sie zu den Fleißigen gehalten. Sie hat seit Anbeginn dafür gesorgt, dass unsere Felder Früchte tragen, dass unsere Töchter schwanger werden. Wie kannst du an ihr zweifeln?“

Die andere meint etwas kleinlaut: „Nun ja, ich meine ja nur. Die Zeiten ändern sich. Aber wenn du noch an sie glaubst, dann werde ich zu Hause auch schnell alles für sie richten.“

Ohne das Mädchen zu beachten, kehren die beiden Frauen ihr den Rücken und entfernen sich vom Brunnen. Schnell schöpft Criste das Wasser mit dem Eimer und macht sich auf den Nachhauseweg. Unruhe hat sich in ihr breit gemacht. Die Urgöttin wird morgen schon kommen. Sie verehrt diese Gestalt. Ohne es genauer erklären zu können, ist sie geradezu von ihr besessen.

Ganz in Gedanken kommt sie an der bescheidenen Hütte ihrer Eltern an. Als sie über die Schwelle tritt, flattert das Federvieh in der Stube aufgeregt auseinander. Die Tiere waren gerade dabei, die Brotkrumen und Getreidekörner aufzupicken, welche beim Kochen heruntergefallen waren. Der Vater ist nicht zu Hause. Er treibt die drei Schweine, welche der Familie gehören, in den Wald, damit sie dort Eicheln und Bucheckern fressen. Die Mutter sitzt im trüben Licht, das durch ein winziges Fenster fällt, an ihrem Spinnrad und arbeitet.

Einen Moment betrachtet Criste ihre Mutter. Sie weiß, dass auch sie später einmal ihr Geld mit dem Spinnen verdienen wird. Meist übernehmen die Kinder die Arbeit ihrer Eltern. Doch jetzt möchte sie sich keine Gedanken über ihre Zukunft machen. Sie ist viel zu aufgeregt, um das eben Gehörte für sich zu behalten.

„Mutter!“, stößt sie deshalb laut hervor. „Wusstest du, dass morgen schon Frau Percht zu uns kommt?“

Ihre Mutter treibt ungerührt das Rad weiter an und antwortet nicht.

„Mutter, hast du nicht gehört? Frau Percht ist bestimmt schon auf dem Weg hierher.“ Plötzlich liegt ein besorgter Ton in ihrer Stimme. „Bitte, lass das Spinnrad ruhen.“

Lange erwidert die Mutter nichts, so dass Criste schon glaubt, keine Antwort mehr zu erhalten.

Da endlich erhebt die Angesprochene ihre Stimme: „Warum sollte ich das tun?“

Fassungslos starrt Criste sie an.

„Aber Mutter. Du weißt doch, dass die Urgöttin die Schutzpatronin der Spinnerinnen ist. Gewiss wird sie auf dich ein besonderes Auge haben. Und wir haben doch gelernt, dass zwischen den Jahren die Arbeit ruhen soll. Dass kein Rad sich drehen darf. Frau Percht wird dich sonst bestrafen!“

Die Mutter lacht bitter auf.

„Ach, und das glaubst du? Soll ich dir etwas sagen? Dieser Glaube an die alten Götter ist gut. Er ist sogar sehr gut für uns. Und weißt du weshalb? Die anderen Spinnerinnen machen sich vor Angst in die Hosen. Sie lehnen alle Aufträge ab, die sie während dieser Jahreszeit erhalten. Und das ist von Vorteil für uns. Denn ich schere mich nicht um dieses Gerede. Ich übernehme die Arbeiten und verdiene Geld für unsere Familie.“

Einen Moment ist Criste sprachlos, dann sagt sie leise, fast flehentlich: „Mutter, bitte, folge den alten Gesetzen. Ich habe Angst, wenn du dich nicht daran …“

Voller Gram fährt die Mutter sie an: „Ist es dir lieber, wenn wir im Winter verhungern? Ohne meine Einkünfte würde es nicht mehr jeden Tag warme Suppe geben. Was hat mir der alte Glaube gebracht? Ich hatte acht Kinder. Und nur drei von ihnen haben ihre ersten Jahre überlebt. Soll ich der Urmutter dafür danken?“

Criste wird still. Es war jedes Mal ein großes Leid, wenn wieder eines ihrer kleinen Geschwisterchen leblos in den Armen der Mutter lag. Oft mussten sie zuvor lange leiden. Husten und Fieber schüttelten die kleinen dünnen Körper, ehe sie endlich in der Geborgenheit der mütterlichen Arme entschlafen durften. Sie kann ihrer Mutter nichts entgegnen. Sie kennt den Schmerz in ihren Augen und weiß, wie die vielen Verluste und Entbehrungen aus der lustigen jungen Schönheit eine verbitterte, harte Frau machten. Und so geht das Mädchen nach hinten und mistet schweigend den Verschlag für die Schweine aus.

****

Der nächste Tag verläuft zunächst wie jeder andere auch. Nach dem Aufstehen geht jeder seiner Arbeit nach. Criste ist kaum mehr in der Lage, sich auf ihre Aufgaben zu konzentrieren. Immer wieder wirft sie einen nervösen Blick zur Haustüre. Stunde um Stunde vergeht, und draußen wird es immer düsterer. Verzweifelt überlegt Criste, wie sie Frau Percht zu Augen bekommen kann. Sie möchte ihr unbedingt einmal gegenüberstehen. Doch bisher war es ihr noch nie vergönnt, sie persönlich zu sehen. Wenn sie nur hinaus käme auf die Straße! Dann könnte sie Frau Percht beobachten, während diese ihre Runde dreht. Sie müsste nur aufpassen, dass die Urmutter sie nicht sieht. Denn es widerstrebt der Göttin, wenn man ihr nachstellt.

Die Chance sich auf die Lauer zu legen kommt, als ihre Mutter befiehlt: „Criste, geh nach draußen und kämme mir ein neues Bündel Wolle. Dann kann ich morgen gleich in der Früh mit der Arbeit beginnen.“

Schnell legt Criste das Messer zur Seite, mit dem sie gerade Kartoffeln schält. An der Tür umwickelt sie ihre Füße mit Stofflumpen; es ist noch kälter geworden und sie hat Angst, ihre Füße könnten Erfrierungen erleiden. Der einfache Kittel, den sie trägt, bietet kaum Schutz vor den tiefen Temperaturen, doch sie darf sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen. Ihr Frieren ignoriert sie heute gerne. Seit sie denken kann, möchte sie Frau Percht persönlich sehen. Und jetzt darf sie diesen günstigen Moment nicht verstreichen lassen. Egal, zu welchem Preis. Flink schlüpft sie durch die Türe, schließt diese fest hinter sich, und eilt dann, ohne einen Blick zurückzuwerfen, so schnell ihre in Lumpen gewickelten Füße sie tragen, durch die dunkler werdenden Straßen.

In einer Nische zwischen zwei Häusern bleibt Criste stehen. Peinlich achtet sie darauf, von niemandem entdeckt zu werden. Sobald jemand näher kommt, drückt sie sich tiefer in die Schatten. Allerdings sieht sie immer zu, dass ihr der Blick auf die Straße, welche in das Dorf hineinführt, nicht eine Sekunde versperrt wird. Mit dem Warten schweifen ihre Gedanken zur Mutter und zu ihrem eigenen Leben. Noch ist Criste ein Kind und muss sich nicht um ihr Dasein kümmern, doch beim nächsten Vollmond wird sie ihr zwölftes Lebensjahr vollenden. Damit wäre sie im heiratsfähigen Alter. Sie weiß, dass sie schlechte Aussichten hat, einen Mann zu finden, der gute Einkünfte erzielt. Nur die Mädchen, welche eine ordentliche Mitgift in die Ehe bringen, haben eine gewisse Wahl zwischen den jungen Männern. Die anderen werden gehandelt wie Vieh. Cristes Miene verdüstert sich. Wer wird sie zu sich nehmen? Sie wünscht sich so sehr einen liebevollen, kräftigen Ehemann, mit dem sie viele gesunde Kinder zeugen kann. Kinder, die mit strahlenden Gesichtern auf dem Boden der Stube spielen und ihr jeden Tag verschönen. Sie würde mit ihnen lachen und singen. Und auch in Hinsicht auf ihr Einkommen wären gesunde Kinder ein Segen. Wer gesund ist, kann arbeiten. Criste stößt einen tiefen Seufzer aus. Wenn man mich als robust und fruchtbar einschätzt, denkt sie, steigert dies meinen Wert als Ehefrau. Doch sie muss sich zugleich eingestehen, dass dies wohl nicht geschehen wird. Sie ist klein und mager. Ihr Becken ist so schmal gebaut, dass es kaum vorstellbar ist, sie könne Kinder gebären. Somit stellt sie kaum einen Wert dar. Sie wird annehmen müssen, was das Leben ihr bietet.

Die Kälte kriecht ihr in die Knochen und lässt Criste in die Gegenwart zurückkehren, zum Grund ihres Hierseins. Sie ist gespannt, wie Frau Percht in Wirklichkeit aussieht, wie sie sich verhält. Sie fürchtet sich bis ins Mark. Und trotzdem kann sie nicht anders, als hier zu warten. Gerne nimmt sie dafür die anstehende Bestrafung ihrer Mutter in Kauf.

 

Die Geschichten, welche im Dorf über die Urmutter kursieren, lassen ihr Schauer über den Körper laufen. Sie soll den Menschen, welche ihre Gebote nicht einhalten, den Bauch aufschlitzen und ihn mit Unrat füllen. Bei dem Gedanken daran überkommt Criste pures Entsetzen, doch gleichzeitig auch eine schaurige Faszination. Diese und ähnliche Gruselgeschichten werden bereits den kleinen Kindern erzählt, wenn sie abends nicht schlafen wollen, oder wenn sie ungehorsam sind. Immer heißt es: Sei artig, sonst kommt die Frau Percht dich holen. Aber auch die Erwachsenen sehen ihrem Kommen angespannt entgegen. Sie bestimmt den Ernteerfolg im kommenden Jahr. Und sie belohnt treue Gefolgschaft mit Fruchtbarkeit – Fruchtbarkeit sowohl der Menschen wie auch des Viehs. Jeder hofft auf ihren Segen, und jeder fürchtet ihren Unmut. Diese zwei Gesichter der Frau Percht ziehen Criste in ihren Bann. Sie sind wie die beiden Seiten einer Medaille, wie Himmel und Hölle, wie Geburt und Tod. Ein ehrfürchtiges Zittern überkommt Criste, wenn sie an die Göttin denkt. Allein der Name Frau Percht bezeugt, wie angesehen sie unter den Leuten ist. Als „Frau“ werden nur sehr hochstehende Persönlichkeiten betitelt, oder die Gottheit selbst. Das Verlangen nach einer Begegnung mit ihr bereitet Criste beinahe körperlichen Schmerz. Es fühlt sich an wie sehr starker Hunger. Und tatsächlich hungert sie danach, diese Frau zu sehen, ihre Gegenwart zu erfahren. In ihrer Fantasie hat sie ein Bild der Urmutter gezeichnet, das ihr nicht mehr aus dem Sinn geht, um das ihre Gedanken ständig kreisen. Es vergeht kaum ein Tag, an dem sie nicht daran denkt.

Criste weiß, dass ihre Familie sich in Gefahr befindet. Frau Percht besteht auf eine Ruhephase zwischen den Jahren. Gerade die Frauen, welche in der Regel ständig schwanger sind, benötigen diese Pause, um wieder zu Kräften zu kommen. Deshalb sind all die schweren Arbeiten in dieser Zeit verboten. Das Spinnen, das Waschen und das Putzen. Cristes Mutter hat sich dieses Jahr nicht an diese Vorgaben gehalten. Sie ist der Meinung, dass der alte Glaube nicht mehr die Macht besitzt, die er früher einmal hatte. Doch trotz des Zweifels, der in der Bevölkerung immer weiter um sich greift, warten viele Familien des Dorfes heute gespannt auf das Erscheinen der Frau Percht.

Criste knetet aufgeregt ihre Hände. Als sie sich dessen bewusst wird, verschränkt sie die Finger mit solcher Kraft ineinander, dass die Knöchel weiß hervortreten. Sicher würde die Urmutter als Schutzpatronin der Spinnerinnen Verständnis für die Situation ihrer Eltern haben. Sie muss doch wissen, dass sie lediglich aus der Not heraus handeln. Unbehaglich lässt Criste ihre Gedanken weiter wandern. Doch was wird geschehen, wenn Frau Percht dieses Argument nicht gelten lässt? Welche Strafe wird die Familie dann ereilen? Wird tatsächlich über ihre Mutter gerichtet werden, sie gar getötet werden? Angst beschleicht Criste, Angst, die nicht mehr von ihr weichen will.

Das Tageslicht ist fast erloschen. Was von ihm noch übrig ist, erahnt man mehr, als dass man es tatsächlich sieht. Die Stimmung wird hektischer. Die Menschen, welche zuvor noch ihre Waren auf dem Markt feilgeboten hatten, tragen diese nun eilig nach Hause. Der Korbflechter rennt an Criste vorüber. Laut rufend bahnt er sich seinen Weg. Der hohe Korbturm, den er vor sich her balanciert, versperrt ihm fast vollständig die Sicht, und so stolpert er beinahe über ein Schaf, das von seinem Besitzer nach Hause getrieben wird. Eine alte Frau zieht ihren Handkarren mit Eiern und lebenden Hühnern, denen die Beine zusammengebunden sind, hinter sich her. Die Tiere gackern aufgeregt und die Räder des Karrens quietschen durchdringend im Takt der eiligen Schritte.

Bei diesem Geräusch flackert kurz der Gedanke in Cristes Bewusstsein auf, dass kein Rad sich drehen darf. Doch sie verwirft ihn sogleich wieder. Das soll nicht ihr Problem sein. Jeder muss selbst wissen, was er tut.

All die Menschen eilen in ihre Häuser, um dort darauf zu warten, dass Frau Percht ihnen ihr Schicksal verkündet. Schnell werden noch letzte Handgriffe verrichtet und aufgeregtes Getuschel ertönt aus allen Gassen. Die Spannung liegt greifbar in der Luft.

Gerade als Criste denkt, sie würde von ferne Hufgetrampel vernehmen, packt sie eine Hand mit hartem Griff am Arm und zerrt sie aus ihrem Versteck. Ihre Mutter steht vor ihr und starrt sie voller Wut an.

Die Augen eng zusammengekniffen, mit müden Schatten darum, zischt sie: „Scher dich nach Hause Kind! Sofort!“

Diese Aufforderung duldet keine Widerrede. Die Mutter stößt Criste von sich, so dass diese auf den Knien im hartgefrorenen Dreck landet. Einen Moment lang bleibt das Mädchen so am Boden liegen, ihre Knie schmerzen. Sie krallt die Finger in das Eis und presst die Lippen aufeinander. Die Hoffnung, Frau Percht heute endlich einmal sehen zu können, löst sich auf und hinterlässt einen bitteren Nachgeschmack.

Verzweiflung breitet sich in Criste aus. Sollte sie auch dieses Jahr wieder nur in ihr Stroh gekauert auf die Geräusche draußen lauschen? Es sieht ganz danach aus.

Da sie weiß, dass sie ihrer Mutter körperlich unterlegen ist, beißt sie die Zähne zusammen, rappelt sich auf und trottet mit gesenktem Kopf hinter ihr her. Cristes Gedanken bleiben allerdings bei Frau Percht, und noch immer horcht sie angestrengt in die Ferne, ob sie nicht doch das Hufgetrampel der Gruppe aus der Unterwelt hört.

Viel zu schnell kommen sie an ihrem Haus an. Mit Widerwillen betrachtet Criste das Gebäude. Es besteht aus zwei Hälften. Die eine dient als Stall und Scheune. In der anderen wohnen die Menschen. Durch die Tiere wird der Wohnraum etwas erwärmt, doch ständig hat man den Geruch des Dungs in der Nase. In der Mitte des Raumes befindet sich eine Feuerstelle. Im Moment hängt ein großer Topf mit dünner Suppe über ihr. Direkt darüber ist ein Loch in das Dach eingelassen, damit der Rauch abziehen kann. Die Möblierung ist sehr spärlich. Sie besitzen einen Tisch mit drei Schemeln, in der Ecke steht eine Truhe, in welcher all ihre Habseligkeiten aufbewahrt werden, und nahe des Stalls steht eine schmale Pritsche, auf der die Eltern schlafen. Darauf liegt neben einem Strohsack sogar ein Schaffell. Ein Luxus, der den Eltern vorbehalten bleibt. Die Kinder müssen im blanken Stroh auf dem Boden schlafen.

Der Vater und Cristes Geschwister befinden sich bereits in der Stube. Als sie mit ihrer Mutter das Haus betritt, begibt sich der Vater nach hinten in den Stall, um die Tiere zu versorgen. Die Kinder sitzen auf dem Boden und spielen mit Kieselsteinen. Criste beneidet sie um ihre Sorglosigkeit. An der Haustüre haben die Eltern vor langer Zeit ein Druidenkreuz aus Holzspänen befestigt. Es soll Unheil von diesem Haus fernhalten. Damals glaubte die Mutter noch an die alten Gesetze. Criste wirft im Hineingehen einen schnellen Blick nach oben, sie vergewissert sich, dass es noch immer an Ort und Stelle hängt.

VOLLSTRECKUNG

Frau Percht erreicht nun die ersten Behausungen am Waldrand. Wehmütig denkt sie an vergangene Zeiten. Früher lebte sie im Einvernehmen mit den Menschen. Sie war die Mutter der Heimchen, dieser kleinen, elfengleichen Wesen, welche die Felder der Bauern bewässerten. Fast farblos wie sie waren, fielen sie den Menschen, die an den Feldern vorbeikamen, nicht auf. Nur die Gläubigen wussten, worauf sie achten mussten, um diese Gehilfen zu entdecken.

Die Urmutter selbst pflügte in der Unterwelt die Böden, damit an der Oberfläche gute Ernten eingefahren werden konnten. Dafür opferte ihr die Bevölkerung, was sie entbehren konnte. Manchmal waren dies Nahrungsmittel, ein anderes Mal Felle, Werkzeug oder kleines, selbst hergestelltes Zierwerk. Es war ein Geben und ein Nehmen. Ja, damals war die Welt noch im Gleichgewicht.

Doch dann breitete sich der Klerus in dieser Gegend aus. Im Bestreben, den christlichen Glauben zu verbreiten, gingen die Pfaffen hart gegen den alten Glauben vor. Auf bedeutenden Kultstätten wurden Kirchen errichtet. Später dann immer mehr Vorschriften erlassen, welche Strafen für die Ausübung heidnischer Bräuche vorsahen. Die einfache Bevölkerung traute sich nicht, offen dagegen aufzubegehren. Im Geheimen jedoch praktizierten viele weiterhin die überlieferten Riten.

Ein Geistlicher nahm seinen Auftrag besonders ernst. Beim Gedanken an ihn verdüstert sich Frau Perchts Stimmung noch um ein Vielfaches. Sein Name lautete Clemens. Mit kleinen eisblauen Augen, welche zwischen den Fettwülsten seines feisten Gesichtes herausstachen, drang er in die Menschen. Er verstand es, die Bürger gegeneinander aufzuwiegeln, indem er den einen Versprechungen für ihren Verrat machte, den anderen grauenvolle Strafen androhte, welche sie und ihre Familien treffen würden, wenn sie sich seinen Anordnungen widersetzten. Es schien ihm Freude zu bereiten, wenn sie eingeschüchtert vor ihm krochen. Ein Sadist durch und durch. Und reichten seine Maßnahmen einmal nicht aus, so war er schnell dabei, den Inquisitor herbeizurufen.

Eines Tages kam er an einem Feld am Dorfrand vorbei. Die Frauen standen in Reihen zwischen den Garben und pflückten Ungeziefer von den Getreidehalmen. Dabei tönte ausgelassenes Lachen und Reden über das Feld.

Clemens betrachtete das Treiben mit Argwohn und wollte schließlich Gewissheit haben: „Was ist denn so lustig, dass ihr hier so munter bei der Arbeit seid?“

Schnell richteten sich die Angesprochenen auf und senkten den Blick vor dem Herrn.

Eine beeilte sich zu sagen: „Nichts, Euer Ehren. Wir freuen uns nur über die gute Ernte.“

Ehe es jemand verhindern konnte, plapperte ein kleines Mädchen mit geflochtenen Zöpfen und vielen Sommersprossen auf der Nase: „Ja, die Heimchen haben immer gut Acht gegeben, dass das Feld nicht trocken wurde. Und unsere liebe Frau Percht hat unter der Erde geholfen und alles schön wachsen lassen.“ Dabei strahlte das Kind, die blauen Augen blitzten aus dem sonnengebräunten Gesicht.

Die Miene des Pfarrers verdüsterte sich. Sie schien das Licht um ihn zu schlucken, wie schwarze Gewitterwolken die Sonne verdunkeln.

Seine Stimme donnerte zu ihnen herüber: „Wisst ihr denn nicht, wer die Heimchen sind? Es sind die ungetauften Kinder, die Frau Percht zu sich geholt hat! Ihr dürft dieser Hexe nicht trauen. Sie stiehlt die Menschen und macht sie sich untertan! Sie beutet sie aus, bis nichts mehr von ihnen übrig ist als durchsichtige Schatten. Nehmt Abstand von dieser Frau, solange ihr noch könnt. Bevor ihr euch verseht, hat sie eure Liebsten geschnappt und mit sich gezerrt. Hinab in die dunkle Erde, aus der es kein Entkommen mehr gibt.“

Die Arbeiterinnen standen wie versteinert. Was erzählte der Pfaffe da? Konnte das wirklich sein? Andererseits musste er es doch wissen, schließlich sprach ja der Herr im Himmel durch ihn. Clemens jedoch wandte sich abrupt ab und eilte mit schnellen Schritten die Straße hinunter. Die Frauen waren verunsichert. Die fröhliche Geschäftigkeit war einem bedrückten Schweigen gewichen. In ihre Gedanken versunken setzten sie die Arbeit fort. Doch ihre Tätigkeit ging ihnen nicht mehr so leicht von der Hand wie zuvor.

In langanhaltenden Auseinandersetzungen drängte Clemens die Urmutter immer weiter zurück. Nach und nach ersetzte er alte Bräuche durch neue, christliche Riten. Er nahm die Bevölkerung persönlich in die Verantwortung, diesen neuen Vorgaben auch zu folgen. Immer erklärte er, dass göttliche Wunder nötig seien, damit sich ein Wunsch erfüllt. Es gab so viele Regeln, welche nun zu befolgen waren, dass die Menschen nicht mehr die Zeit fanden, sich noch an die alten Gesetze zu erinnern. Nur zwischen den Jahren, wenn die Welt zum Erliegen kam, wenn eine kurze Pause zum Luftholen entstand, fand die leise Stimme der Unterwelt wieder ihren Weg an die Oberfläche. Ursprünglich war Frau Percht das ganze Jahr über mit den Menschen in Kontakt und half ihnen bei allem, was in irgendeiner Form mit Fruchtbarkeit zu tun hatte. Nun blieben ihr nur mehr diese paar Tage der Stille. Während des Jahres jedoch handelte die Bevölkerung nachlässig. Viele der wichtigen Gepflogenheiten gerieten in Vergessenheit. Man orientierte sich mehr an den Geboten, welche die christliche Kirche erlassen hatte. Doch aus diesen sprach oft nur die Gier und der Machthunger des Klerus. Das hatte weitreichende Folgen: Missernten, Fehlgeburten und Unfruchtbarkeit bei Mensch und Tier häuften sich. Die Bewohner vergaßen, dass die Erde nicht ihnen gehörte, dass sie selbst nur ein Teil von ihr waren. Um wenigstens noch etwas Einfluss nehmen zu können, führte Frau Percht strenge Strafen ein. Sie fühlte sich nicht wohl dabei. Gewalt hat selten zu etwas Gutem geführt. Doch sie wusste sich nicht anders zu helfen. Wenn die Erdbewohner ihr Glück nicht selbst in die Hand nehmen wollten, würde sie diese dazu zwingen.

 

Heute kommt Frau Percht nur noch für eine Nacht im Jahr an die Erdoberfläche. In dieser Nacht kontrolliert sie die Höfe, die außerhalb des Marktfleckens liegen. Es sind einfache Dinge, welche die Urmutter überprüft: Wurde Ordnung gehalten, wurde den Ruhezeiten nachgekommen, konnten sich die Mütter schonen, wurde das Werkzeug in Schuss gehalten und wurde reinlich gelebt?

****

Der erste Hof macht einen guten Eindruck. Die Bauersleute sind mit ihren Kindern vor die Türe getreten, um die Gruppe aus der Unterwelt zu empfangen. Die Kinder verstecken sich halb hinter ihren Eltern und treten aufgeregt von einem Fuß auf den anderen. Angespannt warten sie alle darauf, wie Frau Perchts Urteil ausfallen wird. Keiner traut sich, auch nur einen Ton zu sagen. Die Urgöttin lässt alles auf sich wirken. Die Bäuerin hat den Hof mit Birkenkehricht gefegt. Das Werkzeug hängt geschliffen und ordentlich an der Scheunenwand. Und die hochschwangere Frau scheint in letzter Zeit keine zu schweren Arbeiten ausgeführt zu haben. Ihre Wangen leuchten rosig. Schon von draußen nimmt man den Geruch von würzigem Rauch wahr. Die Familie hat also das Haus ausgeräuchert, um die bösen Geister zu vertreiben. Frau Percht nimmt alles wohlwollend zur Kenntnis. Als sie dann zur Familie blickt, verändert sich ihre Gestalt. All das Wilde fällt von ihr ab und es erstrahlt ihr schönes Sonnengesicht, die Bauernfamilie wendet geblendet die Gesichter ab. Frau Perchts Körper wandelt sich in den einer sonnengleichen Göttin. Sie trägt nun nicht mehr ihre Felle, sondern feines, gebleichtes Leinen. Sie segnet den Hof und verspricht eine gute Ernte für das kommende Jahr. Dann geht sie zur Bäuerin und legt behutsam ihre Hände auf den gewölbten Bauch der Frau. Dort hält sie konzentriert inne. Es scheint, als würde sie in den anderen Körper hineinfühlen und hineinhören. Alle halten aufmerksam den Atem an. Die Züge Frau Perchts werden weich, ein freudiges Lächeln umspielt ihren Mund.

„Ihr könnt glücklich sein. In deinem Bauch wächst ein gesunder kleiner Junge heran. Er wird euch tatkräftig zur Hand gehen und wenn er erwachsen ist und ihr eure Arbeit nicht mehr ausreichend erledigen könnt, dann wird er sehr gerne euren Hof übernehmen.“

Sie zieht die Hände zurück, dreht sich um, geht zu ihrem Pferd und sitzt auf. Dankbar blickt die Familie der Gruppe aus der Unterwelt hinterher, als diese in schnellem Tempo zum nächsten Hof eilt. Für sie steht außer Frage, dass sie auch in Zukunft nach den alten Gesetzen leben werden. Sie verdanken Frau Percht sehr viel. Vor allem aber können sie nun mit Zuversicht das neue Jahr beginnen. Und so herrscht eine beinahe feierliche Stimmung, als die Urmutter den Hof verlässt.

Etwas besänftigt reitet Frau Percht mit ihrem Gefolge weiter. Es scheint, dass die Menschen doch noch ein wenig Vernunft besitzen. Auch auf den anderen Höfen gibt es wenig Grund zur Beschwerde. Alle Bewohner treten ihr ehrfurchtsvoll entgegen. Manchen ist die Angst ins Gesicht geschrieben, andere stehen ihr zuversichtlich gegenüber und senken erst den Blick, als Frau Perchts unergründliche Augen auf die ihren treffen und bis in ihr tiefstes Inneres zu sehen scheinen. Jedes noch so kleine Geheimnis scheint die Göttin darin lesen zu können. Das Leben zu dieser Jahreszeit ist nicht leicht. Das enge Beieinanderwohnen löst Beklemmung in den Menschen aus. Die dunklen Winkel in den Stuben bringen finstere Gedanken hervor. Erinnerungen an die verstorbenen Ahnen steigen empor und die Geister nehmen ihren Platz an der Seite der Lebenden ein. Der Sturm, der um die Häuser tobt, trägt das Seinige zu dieser Stimmung bei. Das alles weiß die Urmutter, und sie berücksichtigt dieses Wissen, wenn sie ihr Urteil fällt. Hier und dort muss sie eine kleine Ermahnung aussprechen, aber letztendlich kann sie allen ihren Segen für das kommende Jahr erteilen.

Als sich die Gruppe nun dem Dorfkern nähert, werden einige ihrer Begleiter unruhig. Ihre Nüstern blähen sich und sie saugen tief den Duft ein, der das erste Gebäude umgibt. Dies verspricht nichts Gutes. Sie wittern Angst. Nicht eine solche, welche die Menschen aus Ehrfurcht erfüllt, sondern tiefgehende Angst, die dem Wissen entspringt, Unrecht getan zu haben. Es ist der gesamten Meute klar, dass hier an diesem Abend zum ersten Mal gerichtet werden wird. Recht und Unrecht erfährt seine Belohnung. Alle pflichtbewussten Bewohner werden reich beschenkt und gesegnet. Doch dieser Geruch verkündet das Warten auf Bestrafung. Frau Percht hat Mühe, ihr Gefolge beisammen zu halten und zur Ruhe zu rufen. Man merkt, dass es sich um wilde Kreaturen handelt. Es ist, als hätte ein Rudel Wölfe frisches Blut gerochen.

Da niemand vor das Haus tritt, um den Trupp zu empfangen, klopfen Frau Perchts Schergen mit lautem Donnern gegen die Eingangstüre. Die Holzbretter erzittern unter der geballten Kraft der Schläge. Zuvorderst steht ein Geschöpf, das den Leib eines Wolfes besitzt, jedoch aufgerichtet wie ein Menschenkörper. Der Kopf hat zwar die Schnauze eines Wolfes, allerdings ist er wesentlich kräftiger gebaut und hat zwei gebogene Hauer, wie die eines gewaltigen Keilers. Die Stirn trägt einen dicken Wulst oberhalb der Augen. Seine Nasenlöcher blähen sich auf, denn sein Instinkt sagt ihm, dass hier in diesem Haus Unvernunft und Ungehorsam wohnen.

Lange rührt sich nichts in der Hütte. Dann jedoch nehmen die feinen Ohren der Unterweltswesen ein Scharren, und schließlich schwere Schritte wahr, die sich der Tür nähern. Mit einem leisen Quietschen geht sie auf. Der Mann, der die Tür geöffnet hat und nun steif im Eingang steht, wird mit einem mächtigen Prankenschlag zur Seite gewischt. Die wilde Meute dringt schnüffelnd und rücksichtslos in das Haus ein. Denn nun ist der Geruch der Angst ganz klar auszumachen und geradezu übermächtig. Er geht von der Frau aus, die zusammengekauert auf ihrem Schemel am Tisch sitzt. Bis vor kurzem war sie noch der Meinung, dass der alte Glaube ihr nichts anhaben kann, dass ein neues Zeitalter angebrochen ist. Doch je näher der Moment kam, an dem Frau Percht im Dorf erscheinen sollte, desto mehr beschlich sie der Zweifel. Und als sie den Hufschlag der Gruppe hörte und spürte, wie der Boden unter ihm erbebte, wurde aus dem Zweifel Gewissheit. Auch wenn sie es ihrer Tochter gegenüber nie zugegeben hätte, tief in ihrem Inneren war es ihr die ganze Zeit bewusst gewesen, dass Frau Percht hart durchgreifen würde. Sie kann es sich nicht leisten, Ungehorsam unbestraft zu lassen. Jegliche Schwäche, welche die Urgöttin zeigt, wird einen weiteren Machtverlust für sie bedeuten.

Jeder Muskel in Cristes Mutter ist angespannt. Sie überlegt, ob sie irgendwie entkommen kann. Als sie aber sieht, wie die grässlich anzusehenden Wesen in den Wohnraum drängen, gibt sie alle Hoffnung auf eine mögliche Flucht auf. Angesichts dieser Gruppe sackt sie kraftlos in sich zusammen und wartet ergeben auf ihr Schicksal. Sie rechnet damit, von den Gestalten zerrissen zu werden.

Doch plötzlich teilt sich die Menge, und die Herrin der Kreaturen bahnt sich ihren Weg an den Tisch. Ihre Augen blicken kalt in die der Spinnerin. Das Spinnrad im Fenster strahlt noch immer etwas Wärme aus. Es war vor kurzem noch in Gebrauch. Cristes Mutter überkommt eine wallende Hitze. Dann klart sich ihr Verstand, und in ihrem Geiste tauchen Bilder und Worte auf. Als würde sie aus der Ferne auf das Geschehen des Dorfes blicken, sieht sie Szenen aus der kalten Winterszeit: Zu Eis erstarrte Wasserflächen, Rauch, der still aus den Abzügen gen Himmel steigt, Frauen, die ruhig am Tisch sitzen und kleine Ausbesserungsarbeiten verrichten, Vieh, welches kauend im Stall verweilt, stillstehende Gerätschaften. Die Bilder verdeutlichen die Ruhe dieser Jahreszeit.

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