Die 50 besten Morde oder Frauen rächen anders

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3 - Eine Brücke für dich, Lea

Schwer atmend lag Vindicta auf dem Dach der Regionalbahn. Sie wagte kaum, einen Schluck aus dem Champagner-Fläschchen zu nehmen. Ein Glas wäre bei diesem Projekt zu Bruch gegangen.

»Und, Lea, wie fühlst du dich«, rief Vindicta und der Fahrtwind trug ihre Worte zu der Frau, die einige Meter entfernt auf dem Dach des Zuges saß. Mit großen flehenden Augen starrte sie Vindicta an. Sie versuchte ihr zu antworten, indem sie die Schultern bewegte. In ihrem Mund steckte ein weißes Tuch, ihre Hand- und Fußgelenke waren mit einem Kinderseil aneinander gefesselt, damit sie nicht nach hinten kippen konnte.

»Warst du es nicht, die immer als Brücke zwischen Marc und mir dienen wollte. Eine nützliche Brücke, die sich einen der Brückenpfeiler schnappt.« Vindicta sah sich um. Die steinerne Brücke, die sie sorgfältig für diese Rache ausgewählt hatte, war in der Ferne bereits zu sehen. Sie nahm einen letzten Schluck und sagte: »Du weißt doch, kleine Sünden bestraft der liebe Gott sofort, große Sünden bestraft das Leben. In diesem Sinne: adieu.«

Sie presste sich auf das Dach der Regionalbahn. Zwischen Dach und Tunneldecke war nicht viel Platz. Für einen sitzenden Menschen zu wenig, wie Vindicta feststellte, als die Bahn aus dem Tunnel herausfuhr und von Lea nicht viel übrig war.

Das Arbeitsförderungsgesetz schreibt vor, dass sich jeder Arbeitslose unverzüglich bei seinem Arbeitsamt melden muss. So steht es in dem Kündigungsschreiben, das mir die Komplizin des Eisbergs überreicht hat.

Interessant, dass ich ein eigenes Arbeitsamt besitze. Hätte ich nicht gedacht. Wer denkt sich solche Formulierungen aus? An dem für mich zuständigen Arbeitsamt, das jetzt Agentur für Arbeit heißt, komme ich bei jedem Stadtbummel vorbei.

Wie dieses Haus aussieht! So stelle ich mir einen Teufelsbunker vor, nur dass der Teufel seine Hänsel und Gretel nicht mit Naschwerk locken muss. Seine Opfer werden ihm von Arbeitgebern zugeschoben!

Als ich die Menschen vor dem Arbeitsamt sehe, bekomme ich Panik. Zu dieser Gruppe gehöre ich jetzt. Vor der Tür stehen einige Männer mit Bierflaschen in der Hand.

Am liebsten würde ich mich wieder umdrehen. Andererseits habe ich lange und genug Arbeitslosenversicherung gezahlt. Da kann das Amt jetzt etwas für mich tun. Schließlich habe ich mir nichts zu Schulden kommen lassen.

Wieso heißt es eigentlich Arbeitslosenversicherung? Weil die Arbeitslosen aus allen anderen Versicherungen ausgeschlossen werden? Typisch Deutsch! Im Restaurant bestellt man ein Jägerschnitzel, das nicht vom Jäger ist, und einen Kinderteller, auf dem kein Kind liegt. Irgendwo habe ich einen passenden Spruch von Brecht gelesen. »Autovertreter verkaufen Autos und Volksvertreter?«

Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich froh über mein Studium. Ich darf die Bierflaschen-Gang verlassen und in den achten Stock fahren. Zum Fachvermittlungsdienst.

Soweit ist es also schon, dass ich mich über eine Zwei-Klassen-Gesellschaft freue. Wie tief werde ich sinken.

In Zimmer 1883 soll ich mich melden und gelange in den Livekanal für Arbeitslose, Big Looser auf dem Arbeitsamt oder so.

Unterhaltungsprogramm Nr. 1: die Schnitzeljagd.

Die Information im Erdgeschoss schickt mich zur Kundentheke im 8. Stock, eben Zimmer 1883.

Kunde! Das muss man sich im Kopf zergehen lassen. Ein Kunde kommt freiwillig und wird wie ein König behandelt. Ich bin gespannt, ob das hier so sein wird.

Auf der Theke steht ein Schild, dass die Theke wegen Arbeitskräftemangel nicht besetzt ist. Man möge warten, bis man aufgerufen werde. Vielleicht sollte ich umgehend eine Bewerbung als Thekenbesetzung schreiben?

Programmpunkt 2 kann ich nicht nutzen: Beide Bildschirme mit Zugriff auf das Informationssystem des Arbeitsamtes sind belegt. Also sehe ich mich nur um.

Ein Blick aus dem Fenster zeigt mir die graue Silhouette eines Förderturms.

Wenn es mir gelänge, den Eisberg auf den Turm zu locken, könnte ich ihn hinabstoßen.

Die Vorstellung von der riesigen Blut- und Wasserlache, aus der seine Hakennase hervorsticht, lässt mich kichern.

Die Leute sehen mich verwirrt an. Anscheinend darf man im Arbeitsamt nicht lachen. Ich versuche meine Mundwinkel in eine passende Stellung zu bringen. In der Fensterscheibe sehe ich, dass sie nach unten hängen.

Beinahe fange ich wieder an zu kichern. Schnell weg hier. Was lauert da auf der eineinhalb Meter hohen, grauen, zerkratzten Kundentheke auf uns Arbeitslose?

Da liegt, versteckt unter dem Schreibkram einer wasserstoffblonden Tussi im Supermini, ein Formular, das ich ausfüllen muss.

Das hätte man deutlicher platzieren können! Und überhaupt, ich denke, dies hier ist die Vermittlung für Fach- und Führungskräfte. Dem Outfit der Lady nach könnte es auch um die Vermittlung von Hostessen mit Zusatzqualifikation gehen. Vielleicht arbeitet sie als Domina, das ist schließlich auch eine Art Führungskraft, eine Fachkraft auf jeden Fall. Auch ein schöner Tod für den Eisberg, an ein Stahlgitter gefesselt und mit Peitschenhieben gequält.

Ich betrachte die Frau genauer. Kein Lack, kein Leder, nur ein ultrakurzer Stofffummel am Po und Absatzflipflops an den Füßen.

Auf den Dingern könnte ich keinen Schritt gehen, aber mit ihnen auf den Eisberg einprügeln, das kann ich mir schon gut vorstellen. Obwohl sich dafür Stilettos besser eignen würden.

Ich spüre, wie sich in meiner Brust erneut ein Kichern nach oben schieben will. Mundwinkel nach unten, Kerstin. Denk an den kranken Hund deiner Nachbarin, der seinen Weihnachtsknochen vermutlich im Hundehimmel abnagen wird.

»Der Nächste bitte!« Eine mütterlich dauergewellte Mittfünfzigerin betritt die Wartezone. Sie trägt eine weiße, am Kragen mit roten Blümchen bestickte Bluse zu ihrem knielangen Trachtenrock, damit man erkennen kann, dass sie hier zu Hause ist. Wir armen arbeitslosen Wichte kauern in dicken Winterjacken auf unseren unbequemen Stühlen. Einen Getränkeautomaten gibt es nicht!

Vier Looser-Boys sind vor mir dran. Schön, da kann ich ein bisschen in meinem Henker-Buch stöbern.

Das Formular geht vor: Was ich bisher gearbeitet habe? Ob ich schon einmal arbeitslos war? Warum ich da bin? Ich habe Programmpunkt Nr. 3 entdeckt: 1, 2 oder 3 für Arbeitslose! Nicht Wer wird Millionär, es gibt schließlich keinen Telefonjoker und zu gewinnen höchstens ein Taschengeld.

Endlich kann ich mich dem Henker widmen. Oder auch nicht! Einer der Looser-Boys hat das Fenster geöffnet und sich mit seiner Fluppe rausgehängt. So bleibt zwar der Qualm draußen, aber ein nervtötendes Scheppern kommt herein.

Ich bereue es, dass ich meinen Ipod nicht mitgenommen habe und stehe frustriert auf, um herauszufinden, ob das noch lange so gehen wird. Wenn vor einem Gebäude ein Baucontainer aufgestellt wird und daneben ein Müllcontainer steht, weiß selbst der Dümmste, dass es sich um eine große Sache handelt. Wenn dann zwei Typen Metallstangen aus einem Gebäude schleppen und in den Container werfen, ist klar, dass das lange dauern wird. Sehr lange. Klirr, Knirsch, Schepper. Das einzige Mittel dagegen sind geschlossene Fenster, Kopfhörer oder Mord. Ich entscheide mich für geschlossene Fenster, was dem Looser-Boy mit der Fluppe nicht gefällt. Da ich meine Kopfhörer nicht bei mir habe, bleibt nur Mord. Bei der Lektüre des Henker-Buches stelle ich mir statt der armen Gehenkten, abwechselnd Looser-Bubi und die Handwerker vor.

53 1/2 Seiten in meinem Henker-Buch und viele genüssliche Gedanken an die Folter des Eisbergs später ruft mich die künstlich gewellte Dame zu sich ins Zimmer.

»Guten Tag, Ihren Personalausweis bitte«, begrüßt sie mich.

Wo bin ich denn hier gelandet? Beim Bundesgrenzschutz?

»Wir müssen schließlich wissen, mit wem wir es zu tun haben«, erklärt Frau Dauerwelle ihren Wunsch. Als ob jemand freiwillig in diesen Laden käme.

Ich krame in meinem Rucksack nach meiner Geldbörse.

Zum Glück trage ich meinen Ausweis immer bei mir. Nicht, um mich spontan ins Ausland abzusetzen, sondern für den Fall, dass ich ein Paket von der Post abholen muss.

Ehe ich das Plastikteil an Frau Arbeitsamt weiterreiche, werfe ich einen unauffälligen Blick auf das Foto, das schon vor beim Ausstellen des Ausweises vor fünf Jahren nicht mehr aktuell war. Mir wird fast schlecht.

Diese Brille, igitt, durch die riesigen Gläser sehen meine Augenbrauen wie dicke Raupen aus.

Und meine Haare, langweilige braune Zotteln, die nicht wissen, ob sie auf der Schulter aufliegen sollen oder nicht.

Über den Scheitel will ich lieber nicht sprechen, ich frage mich, warum der Fotografin nicht aufgefallen ist, dass er diagonal über den Kopf verläuft und nicht schnurgerade auf die Nasenwurzel zuströmt.

Der Pickel, der sich am Kinn häuslich eingerichtet hat, fällt kaum auf, nur, wenn man sich das Bild genau ansieht.

Aber mein Foto muss Frau Arbeitsagentur nicht interessieren.

»Ich heiße Kerstin Junker, geboren am 27. Februar 1976 in Gerleve.«

Mutti Arbeitsamt lächelt mich gütig an. »Das steht in dem Formular. Schön haben Sie das ausgefüllt. Das können nicht alle, wissen Sie?« Stolz überreicht sie mir weitere Formulare, zwei Broschüren und meine Kennkarte.

Fast hätte ich losgeprustet. Die Karte ist nichts anderes als ein DIN A4 Blatt, das viermal gefaltet wurde – wie in einer billig produzierten Live-Show eben.

Frau Dauerwelle schickt mich in den nächsten Warteraum. Hier gibt es kein Unterhaltungsprogramm, aber ich habe mein Henker-Buch und meinen Rachefilm im Kopf.

 

Ich mache mir Notizen über Tötungsarten, die ich dem Eisberg zukommen lassen könnte: Wie wäre es mit Tot-Kitzeln. Ach nein, da müsste ich ihn anfassen. Womöglich friere ich mir die Finger ab. Kürzlich habe ich beim Friseur in einer Zeitschrift von einer Frau gelesen, der das passiert ist.

Wieso liegen eigentlich hier keine Zeitschriften, die einen über die wahren Dinge des Lebens informieren?

Weiter mit dem Henker! Wie ekelig! Ich muss bei der Auswahl der Tötungsart daran denken, dass ich kein Blut sehen kann. Die Kehle durchzuschneiden, scheidet leider aus. Schade, die Vorstellung, dass der Eisberg langsam ausblutet, ist nicht schlecht. Aber wenn ich ohnmächtig werde, findet man mich neben der Leiche.

Nach sechzehn Seiten und mindestens ebenso vielen Foltervorschlägen darf ich zu meiner Arbeitsvermittlerin.

Wie schön. Ich bekomme eine eigene Arbeitsvermittlerin. Sie ist nett, trotz der typischen Zuhause-Bluse. Ob das eine Arbeitskleidung ist?

Ihre Haare sind allerdings nicht dauergewellt, sie hängen sozialpädagogisch glatt herunter, die Spitzen reichen fast bis zum Po. Wenn ich genau hinsehe, kann ich erkennen, dass die Bluse aus reiner Baumwolle ist. Die Bohnen für den Kaffee in ihrer Tasse wurden bestimmt von fair bezahlten Arbeitern geerntet.

Am liebsten würde ich unter dem Tisch nachsehen, ob sie Birkenstocks trägt. Darauf verzichte ich, zumal sie als erstes freundlich feststellt, dass Kollegin Dauerwelle mich in die falsche Berufskategorie eingeordnet hat.

Sie tröstet mich, dass sie immer häufiger solche Fälle wie mich betreuen muss. Soll ich Mitleid mit ihr haben?

Eine neue Manager-Generation, die grundlos, aus reiner Willkür gutes Personal entlässt, erklärt sie mir.

Das hilft mir nicht weiter, trotzdem sinniere ich mit ihr gemeinsam darüber, wo das hinführen mag.

Dann verabschiedet sie mich und malt mit dem naturbelassenen Bleistift Strichmännchen auf einen Block aus Umweltschutzpapier, der auf ihrem öffentlich dienstlichen Schreibtisch liegt.

Woraus wird eigentlich Umweltschutzpapier gemacht? Aus Altpapier, oder?

Vielleicht kann ich den Eisberg in eine Maschine schaffen, die aus Altpapier Schreibpapier macht. Dann wäre er wenigstens von Nutzen. Die Arbeitslosen könnten ihre Anträge auf seinen Überresten schreiben.

4 - Stein auf Stein, Conny

Vindicta holte aus, zielte und warf den ersten Stein.

»Getroffen«, jubelte sie und beobachtete fasziniert, wie sich von der Schläfe der Frau ein kleiner Blutstrom auf den Weg machte.

»Binde mich sofort los«, schrie die Frau und beschimpfte Vindicta mit Worten, die sie sich nicht merken wollte. Sie spornten sie vielmehr an, zum nächsten Stein zu greifen, zu werfen, den nächsten Stein zu nehmen und erneut zu werfen. So lange, bis keiner der Kopfsteinpflastersteine, die sie auf einer illegalen Müllhalde gefunden hatte, mehr neben ihr lag.

Vindicta zog eine kleine Champagnerflasche aus der Tasche und ein Glas. Sie füllte das Glas und ging auf den Stuhl zu, an den sie die Frau gefesselt hatte. Unter der Wucht der Steine, die sie immer schneller und am Schluss mit beiden Händen zugleich geworfen hatte, war der Stuhl mit der Frau umgekippt.

»Das war’s dann wohl, Conny. Du legst uns keine Steine mehr im Weg. Du wirst uns nicht mehr behindern bei unserem Projekt.« Vindicta berührte die Frau mit dem Fuß und rüttelte den Körper. Als sie keine Reaktion spürte, trank sie das Glas leer und machte sich mit einem zufriedenen Lächeln auf den langen Fußweg durch den Wald, den sie für diese Aufgabe ausgewählt hatte.

Als ich nach Hause komme, finde ich Herrn Schwapp.de-Denker auf meinem Anrufbeantworter. Er wundert sich, weil ich lange nichts mehr ins Forum gepostet habe.

Typisch Sesselfurzer ohne Arbeitslosenerfahrung. Ich war sechs Stunden auf Sitze im Looser-Bunker! Aber nett ist es, dass er angerufen hat.

Ich höre mir seine Stimme zweimal an, ein bisschen sexy klingt sie. Das kann nur eine Expertin bestätigen. Meine Freundin Ulrike. Sie muss sofort kommen.

»Hey Ulrike«, schon als ich ihre Stimme am Telefon höre, merke ich, dass ich zu einem ungünstigen Zeitpunkt anrufe.

»Hey, Kerstin«, knirscht sie, »melde mich!« Ehe sie auflegt, höre ich ein leises Stöhnen im Hintergrund. Sie wird doch nicht mitten am Nachmittag?

Motiviert durch das Telefonat mit Ulrike rufe ich Karsten Denker zurück. Besser ein leicht sexy klingender Schwapp.de-Mitarbeiter als kein Mann.

»Kerstin Junker.« Ich bemühe mich, meine Stimme ein bisschen rauchig klingen zu lassen, das mögen Männer angeblich. »Ich hätte gerne Herrn Denker gesprochen.«

Nicht einmal eine eigene Telefonnummer hat der Typ. Vielleicht sollte ich besser die Finger von ihm lassen.

Schon bei dem Gedanken an die Finger eines Mannes, werde ich nervös. Dabei ist es erst sechs Wochen her, dass Johannes ausgezogen ist. Dieser Macho, der allen Ernstes erwartet hat, dass ich seine Socken vor der Wäsche auseinanderziehe. Igitt!

»Petra Langner, guten Tag! Herr Denker ist nicht da, kann ich ihm etwas ausrichten.« Die Frauenstimme hört sich auch sexy an. Was soll das? Stehe ich in Wirklichkeit auf Frauen? Oder hat Schwapp.de einen Filter, der alle Stimmen erotisch klingen lässt? Bin ich überhaupt bei Schwapp.de gelandet mit meinem Anruf? Das Weib hat sich nur mit Namen gemeldet. Hat Karsten Denker mir seine Privatnummer hinterlassen und ich habe seine Frau am Apparat?

»Ich versuche es später. Auf Wiederhören.« Hoffentlich ist es mir gelungen, nicht mehr so verführerisch, sondern geschäftlich zu klingen.

Warum muss so etwas immer mir passieren? Kann man eigentlich jemanden fernmündlich umbringen?

Für den Eisberg käme das nicht in Frage, den will ich leiden sehen. Wie der mich angestrahlt hat, als er mir die Kündigungsnachricht gebracht hat. Als würde er mir das große Los überreichen. Zum Kotzen.

Ich springe auf und rase ins Bad.

Zum Glück steht der Toilettendeckel auf, dabei habe ich Johannes hundert Mal gesagt, er soll den Deckel schließen. Er hat immer behauptet, er würde ihn herunterklappen.

Ich spüle den Eisberg in Gedanken mit meinem Frühstück in die unterirdischen Abflusskanäle.

Ha, da stinkt es so richtig eklig. Wer weiß, vielleicht sind ätzende Flüssigkeiten in den Kanälen, die dem Eisberg die Haut wegfressen. Aber wie bekomme ich ihn in den Abfluss?

In Gedanken sehe ich ihn vor mir, wie er eine Straße überquert. Irgendjemand hat den Gullideckel entfernt. Ich könnte die blonde Tussi aus dem Arbeitsamt bitten, in ihrem Mini auf der anderen Straßenseite zu stehen.

Es wird Zeit, dass ich das Ganze systematisch angehe.

Schön, dass ich meine große Pinnwand habe.

Ich nehme einen Streifen Papier und schreibe mit einem dicken Stift darauf: »Tod des Eisbergs«. Den Zettel hefte ich mit einem passenden Magneten, einer Katze, die eine Maus zerfleischt, über die rechte Hälfte der Pinnwand.

Darunter werde ich meine Mordideen sammeln.

Als ich die Zettel, die dort angebracht sind, auf die andere Seite hefte, fällt mein Blick auf die Karte »Passfoto«.

Ich werde mich zuerst um meine Bewerbungsunterlagen kümmern. Der Eisberg läuft mir nicht weg.

Schade, dass er nicht im Rollstuhl sitzt, dann könnte ich ihn eine Klippe hinunterstürzen. Ich wüsste zwar nicht, wie ich ihn an das dreihundert Kilometer entfernte Meer bekäme, aber da würde mir sicher etwas einfallen.

Ich drücke wieder einmal auf den Startknopf für den Song Du schaffst es.

5 - Ein Unfall zu viel

Für diesen Job hatte Vindicta sich einen Smart geliehen. Sie wollte genau sehen, was passierte und nun saß sie hinter dem Steuer und genoss die Aussicht.

Sie hatte sich direkt vor dem Gebäude postiert, aus dem der Mann kommen würde. Als letzter wie jeden Abend. Als wollte das Schicksal Vindicta damit ein Zeichen geben.

Die schwere Holztür ging auf und da stand er. Zündete sich wie jeden Abend eine Zigarette an, die glühte, noch ehe die Tür wieder ins Schloss fiel.

Eine solche Zigarette hatte vier Menschenleben gekostet. Weil das Feuerzeug im Auto nicht funktionierte und er sich mehr um den Anzünder gekümmert hatte, als um die anderen Fahrzeuge.

Vindicta gab sich mit einem Menschenleben als Ausgleich zufrieden.

Der Mann ging die drei Treppenstufen hinunter und setzte den ersten Fuß auf die Straße. Vindicta startete den Motor und freute sich darüber, dass er so leise lief.

Als der Mann mitten auf der Straße angekommen war, gab Vindicta Gas. Sie sah, wie der Mann näher kam, wie er sie anschaute und dann nicht mehr zu sehen war.

Hastig drehte Vindicta sich um. Der Mann lag reglos auf der Straße. Weit und breit war niemand. Die Straßenlampen waren fast alle ausgeschaltet, weil die Stadt sparen musste. Sie fuhr an den Straßenrand und stieg aus dem Wagen, während der Motor leise weiterlief.

Mit ein paar Schritten hatte sie den Mann erreicht. Schon von weitem konnte sie sehen, dass er sich nicht mehr rührte, nicht den schwächsten Atemzug von sich gab. Rasch lief sie zum Auto, froh über die städtischen Sparmaßnahmen, die für das große Dunkel sorgten. Sie fuhr ein paar Straßen weiter, ehe sie aus ihrer Tasche auf dem Beifahrersitz ein Champagnerglas und eine Flasche Champagner hervorkramte.

Es wird langsam hell. Ich sitze in meinem Arbeitszimmer auf dem Boden. Um mich herum liegen alle Fotos, die es von mir aus den letzten Jahren gibt.

Schickt man heutzutage noch Passfotos mit den Bewerbungsunterlagen. Auf Ganzkörperfotos komme ich viel besser rüber.

Dieses Foto, das Johannes kurz vor unserer Trennung von mir gemacht hat. Aus der Froschperspektive. Mit dem kurzen Rock und den schwarzen Strümpfen wirken meine langen Beine richtig schön.

Nicht, dass sie wirklich lang wären, ich bin nur 1,69 Meter groß. Im Ausweis steht 1,76, irgendwer muss wohl die Meter mit dem Geburtsjahr verwechselt haben.

In Schuhen mit Absätzen, wie ich sie auf dem Foto trage, stimmt nicht einmal diese Größe.

Durch die Froschperspektive ist mein Bauch nicht so deutlich erkennbar, vermutlich, weil ich meinen Busen in einen Push-up-BH gezwängt habe und mir ein weit ausgeschnittenes T-Shirt von Ulrike geliehen hatte, die zwei Kleidergrößen kleiner ist als ich.

Um die Hüfte habe ich einen breiten Gürtel geschlungen.

Keine Ahnung, wem der gehört, vielleicht auch Caroline?

Ich lasse das Foto in der engeren Wahl, die anderen gefallen mir alle nicht.

Auf dem Ackergaul meiner Tante sehe ich aus wie eine Bäuerin, das sichtbare Bein schwabbelt am Pferd herunter. Ich sitze zusammengesunken da, sodass die eigentlich winzigen Speckröllchen den Eindruck vermitteln, ich trüge unter meinem Pulli einen Schwimmreifen.

Aussortiert habe ich schon das Bild, das mich im Strandkorb zeigt. Ich glaube, so etwas ist nicht angesagt.

Wie wäre es mit mir als Brautjungfer, aber neben der strahlenden gut aussehenden Braut wirke ich farblos. Obwohl das Kleid schlappe 500 Euro gekostet hat. Für einmal tragen. Kann ich das eigentlich auch zu Vorstellungsgesprächen anziehen? Es ist zum Glück nicht lang, sondern geht nur bis zum Knie. Die Rüschen an Hals- und Ärmelausschnitt könnte ich abschneiden. Und wenn ich den Rest schwarz färbe, habe ich ein schickes Etuikleid.

Das Telefon läutet. Bisher schwieg es. Kein Wunder, es ist erst acht Uhr. Wer ruft so früh am Morgen an?

»Guten Tag, Tierschutzverein«, höre ich und bereue, dass ich das Gespräch angenommen habe. Was will der Verein von mir? Auf die Antwort muss ich nicht lange warten.

»Es ist so toll, dass es nun eine europäische Verfassung zum Transport von Tieren gibt«, erklärt der Mann mir, während ich mich mit dem Telefon in die Küche schleiche, um einen Kaffee zu kochen.

»Aber nun darf man nicht aufgeben. Sie sind sicher auch dafür, dass es den Tieren besser geht.«

Ich hasse rhetorische Fragen am frühen Morgen. »Wie kommen Sie denn auf die Idee?«, antworte ich abweisend.

 

Er schweigt kurz. Scheinbar habe ich ihn aus dem Konzept gebracht. Gut so, ich bin auch aus dem Konzept, wenn ich morgens um acht mit Tierschutzfragen belästigt werde.

Anscheinend hat er entschieden, einfach so zu tun, als hätte ich »Ja« gesagt. Er leiert weiter seinen Text herunter. Für das nächste Ziel brauche man viele freiwillige Mitglieder, ob ich nicht auch eins werden wolle.

Vermutlich haben alle Menschen, die er vor mir angerufen hat, auch hier »Ja« gesagt. Mein »Nein« irritiert ihn. Verblüfft fragt er: »Sie wollen nicht, dass es den Tieren besser geht?«

Als ich ihn darauf hinweise, dass dieser Wunsch aber nicht zu einer Mitgliedschaft führt, wirft er den Hörer grußlos auf die Gabel.

Vermutlich hat er keinen Hörer in der Hand, sondern sein rechter Zeigefinger schwebt über der Entertaste, mit der er meine Nummer auf dem Bildschirm löschen kann. Oder er hat einfach mit Hilfe der linken Maustaste die Telefonverbindung beendet.

Das schlechte Gewissen quält mich. Vielleicht sitze ich demnächst auch in einem Callcenter und werbe Mitglieder für einen Tierschutzverein oder ich gehe von Wohnung zu Wohnung, um Telefonverträge zu verkaufen.

Ich sollte prüfen, ob die Imbissstube, die man mir vor einigen Jahren vererben wollte, noch zu haben ist. Vermutlich nicht! Diese blöde Angelina, die sich damals bei den Besitzern eingeschleimt hat und mich fast vergiftet hätte, hat sie sicherlich heruntergewirtschaftet.

Pommes mit Mayo konnte ich immer gut machen. Ob es für solche Leute auch Fortbildungen gibt. Ulrike isst immer Pommes spezial, ich habe keine Ahnung, was das ist.

Vielleicht könnte ich den Eisberg in eine Imbissstube locken und ihn mit Pommes de Mort um die Ecke bringen. Bestimmt gibt es ein Gift, das die gleiche Konsistenz hat wie Salz oder Paprika. Es muss vor allem langsam wirken, damit ich seinen Tod genießen kann.

Das Telefon summt erneut.

Ich starre es an. Hoffentlich nicht wieder ein Seelen- oder Versicherungsverkäufer. Obwohl ich gegen einen Mann an meiner Seite im Moment nichts einzuwenden hätte. Okay, zwischen den Fotos könnte ich ihn nicht gebrauchen, aber vom Wohn-Arbeitszimmer ist es nur ein Katzensprung bis ins Schlafzimmer.

»Kerstin Junker, guten Tag«, hauche ich voller Hoffnung auf einen netten Gesprächspartner ins Telefon.

»Karsten Denker, hey.«

Was will der schon wieder, der soll bei seinem Eheweibchen bleiben und in mir nicht dauernd unerfüllbare Wünsche wecken.

»Meine Kollegin hat mir gesagt, dass Sie zurückgerufen haben.«

Das hört sich schon besser an. Und wenn ich es mir genau überlege, klingt seine Stimme nahezu unwiderstehlich.

Bleibt nur die Entfernung zwischen uns, aber das lässt sich organisieren.

»Sie hatten mir auf Band gesprochen«, entgegne ich freundlich und versehe meine Stimme mit einem Sound, der hoffentlich verführerisch klingt.

»Ich wollte mich erkundigen, wie es Ihnen geht, aber inzwischen habe ich gesehen, dass Sie wieder etwas ins Forum geschrieben haben.«

Das ist ein schöner, langer Satz, der zeigt, dass er sich für mich interessiert.

»Wie wäre es eigentlich mit einer eigenen Website?«

Hört sich gut an, dann wäre ich unabhängig von Schwapp.de.

»Wir haben da im Moment ein Sonderangebot.«

Ich schwöre, ich habe an dieser Stelle nicht absichtlich aufgelegt. Das Telefon ist mir einfach aus der Hand gefallen. Mitten zwischen die Fotos, die ich für die Bewerbungsmappe ins Auge gefasst habe. Dort dröhnt sein Tuuut in die vielen Ohren, die auf dem Boden liegen.

So eine Unverschämtheit! Ich stehe auf, nehme einen Zettel aus der Box, schreibe »Mister Internet« darauf und klebe ihn an die rechte Pinnwandseite, direkt unter »Tod des Eisbergs«.

Ich denke, er interessiert sich für mich und er will mir nur eine Website verkaufen. Na warte! Die Rache wird fürchterlich sein!

Vielleicht kann ich den Eisberg und Monsieur Schwapp.de dazu bringen, gleichzeitig in einem Auto zu sitzen, unter dem eine Bombe befestigt ist. Dann könnte ich genüsslich den Feuerball betrachten, in dem winzige Teilchen von ihnen verbrennen. Schöne Vorstellung, allerdings würde der Eisberg dabei nicht lange genug leiden.