Der Gesang des Satyrn

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2. Kapitel


Spuren im Sand

Langsam aber sicher schien Metaneira ihre alte Gelassenheit zurückzugewinnen, was Neaira beruhigte. Anfangs packte sie noch Angst, sobald Idras kam, um Metaneira zu holen. Nach Metaneiras Rückkehr am frühen Morgen suchte diese stets das Louterion auf, um sich zu waschen. Neaira glaubte ihre Freundin verloren zu haben – das was von Metaneira übrig war, hatte nichts mehr mit dem Mädchen zu tun, das Neaira kennengelernt hatte. Dann, im zweiten Mondumlauf, entwickelte Metaneira eine gewisse Gleichgültigkeit und folgte Idras ohne Furcht, wenn sie kam, um sie zu holen. Nach einem halben Jahreswechsel war es für Metaneira zur Gewohnheit geworden sich zu schmücken, und sie wies Neaira auch nicht mehr ab, wenn sie nachts zu ihr auf das Lager kletterte. Aus Angst vor den schrecklichen Dingen, die Metaneira ihr vielleicht erzählen könnte, fragte Neaira sie nicht, was in den Nächten geschah, in denen Idras sie ins Haus von Nikarete brachte. Sie hatte rasende Angst davor, dass man sie von Metaneira trennte und sie in diesem Haus alleine blieb.

Die verschiedenen Gerüche, die an Metaneira hafteten, nahm Neaira bald nicht mehr wahr. Auch Metaneira schienen sie gleichgültig, sodass sie ihren Besuch im Badehaus bis zum Mittag aufschob, wenn sie ausgeschlafen hatte. Metaneira wurde mittlerweile nicht mehr zu Nikarete gerufen, um Unterweisungen von ihr zu erhalten. Neaira dankte Aphrodite dafür.

Das Leben auf dem Hof verlief in eigentümlicher Langeweile, unterbrochen nur von Stratolas bösen Blicken, mit denen sie Metaneira bedachte. „Sie neidet mir meine bessere Stellung“, erklärte die Freundin Neaira dann. Noch immer konnte sich Neaira nichts unter den wenigen Erklärungen vorstellen, die Metaneira ihr zuteilwerden ließ.

Neaira lebte seit einem Jahr in Nikaretes Haus, ging Metaneira zur Hand, was bedeutete, dass sie tagsüber faul in der Sonne lag und der Freundin abends half sich zu schmücken, als sich im gleichtönigen Tagesablauf eine unverhoffte Abwechslung einzustellen schien, die ihr auch ihre Fluchtpläne wieder ins Gedächtnis rief. Idras stand eines Morgens überraschend auf ihrer Türschwelle. „Heute besuchen wir die Agora. Die Herrin braucht neue Tücher und Bänder. Nimm die kleine Mänade mit, damit sie die Einkäufe tragen kann“, befahl sie Metaneira.

Neaira, die ruhig in einer Ecke gesessen hatte, sprang auf und warf sich Metaneira in die Arme, sobald die schwarze Sklavin fort war. Gemeinsam drehten sie sich im Kreis und freuten sich über den Ausflug. „Endlich kommen wir aus diesem Haus heraus“, rief vor allem Metaneira immer wieder. Neaira dachte bereits darüber nach, wie sie Idras klammerndem Griff würden entkommen können. Diese Gelegenheit war ein Wink der Götter, den sie sich zunutze machen mussten. Neaira überlegte, ob sie Metaneira in ihre Fluchtpläne einweihen sollte. Doch Metaneira hatte schon einmal abgelehnt zu fliehen, und wer wusste schon, wie sehr Nikarete ihr den Kopf verdreht hatte. Wenn sie erst einmal aus dem Haus heraus wären, würde Neaira schon etwas einfallen, wie sie es anstellte, Metaneira zu überzeugen.



Neaira konnte ihre Aufregung kaum verbergen, während sie neben Metaneira und Idras über die Schwelle der roten Tür trat, hinter die sie vor nunmehr einem ganzen Jahresumlauf gestoßen worden war. Es war ein angenehmer Tag im Frühsommer, und die bunten Stoffe der Tuchweber flatterten wie Fahnen im Wind, sodass Neaira sich kaum vorstellen konnte, dass sie ihr einmal wie ein undurchdringliches Labyrinth erschienen waren. Kurz hielt sie den Atem an, als sie über die Schwelle trat, denn sie befürchtete, dass etwas oder jemand sie zurückhalten würde; doch es geschah nichts. Es war so einfach, über diese Schwelle zu treten. Neaira konnte ihr Glück kaum fassen.

Obwohl Idras ihren Stock dabei hatte und wie ein Wachhund darauf achtete, dass keines der Mädchen fortlief, genoss Neaira den Weg zur Agora, der sie hinaus aus der Gasse der Tuchweber und immer hügelaufwärts durch die Straßen Korinths führte. Je weiter sie liefen, desto aufgeregter wurde sie. Auf der Agora wären viele Menschen. Es wäre leicht, Metaneira dort einfach an die Hand zu nehmen und mit ihr fortzulaufen. Idras war dick und würde ihnen in dem Gewimmel nicht so schnell folgen können. Nun bereute Neaira, dass sie der Freundin nicht vorher von ihren Fluchtplänen erzählt hatte. Sie hoffte, dass sie Metaneira nicht lange würde bitten müssen. Doch wer konnte schon widerstehen, an einem solch schönen Tag fortzulaufen?

Wie schon mit ihrer Mutter wurden sie hier und da angestarrt, während sie zu dritt durch die Straßen liefen. Doch ein Wort von Idras genügte bereits, die Blicke der Männer abzuwehren. Erinnerungen gingen Neaira durch den Kopf, die schnellen Schritte ihrer Mutter, das unbarmherzige Ziehen an ihrem Arm und die Hoffnung auf süße Datteln. Neaira zupfte an ihrem einfachen Chiton und erinnerte sich, dass sie bei ihrer Ankunft in Korinth einen vergleichsweise Schöneren getragen hatte. Doch was machte das schon? Sie fühlte den Sand der Straße zwischen ihren Zehen, der sich in ihre Sandalen setzte, spürte die warme Sonne auf ihr Haar scheinen, und sie vernahm den Lärm der Straße. So frei war sie schon lange nicht mehr gewesen. Metaneira, die den Ausflug ebenfalls genoss, hatte einen Schleier über ihren Kopf gelegt und hielt ihn sich vor das Gesicht, wenn ein vorbeifahrender Karren zu viel Staub aufwirbelte. Ihr Betragen war ganz so, wie es Idras gefiel. Die Freude über den Ausflug trübte sich ein wenig bei Neaira, als Idras an einer breiten Straße zwei gelangweilte Sänftenträger heranwinkte. Ohne große Eile handelten sie den Preis einer Beförderung bis zur Agora aus. „Sie ist eine edle Dame“, ereiferte sich Idras, um den Preis zu drücken.

Die beiden Träger grinsten und zeigten dabei ihre schlechten Zähne. „Ein edles Pferdchen“, sagte einer und machte eine kreisende Bewegung mit dem Becken. Neaira kramte in ihrer Erinnerung, wo sie dies schon einmal gesehen hatte und erinnerte sich an den Akrobaten, der ihre Mutter mit einer solchen Geste bedacht hatte.

Der überdachte Tragstuhl war zwar schäbig, trotzdem bestand Idras nach erfolgreicher Verhandlung darauf, dass Metaneira ihn bestieg. „Deine Haut wird sonst zu dunkel“, murrte sie. Für die gezahlten zwei Obolen erlaubten die Männer, dass Neaira sich zu Metaneiras Füßen kauerte. Neaira wäre lieber gelaufen, denn wer konnte schon wissen, wann sie das nächste Mal die Gelegenheit bekam, das Haus Nikaretes zu verlassen. Ach nein, ich werde ja gar nicht dahin zurückkehren, fiel ihr wieder ein. Ein Blick auf Idras Stock ließ sie ihren Unwillen hinunterschlucken. Ihre Weigerung war eine Trachtprügel nicht wert.

Auf der Agora bezahlte Idras die Träger und schob ihre beiden Mündel mit wachsamen Augen vor sich her, während sie an diesem und jenem Stand mit den Händlern in keifendem Tonfall um die Preise der Waren feilschte. „Für diese einfachen Bänder verlangst du zwei Obolen? Zeus muss dich geblendet haben oder glaubst du, mich für dumm verkaufen zu können?“, waren ihre Argumentationen, denen die Händler immer wieder nachgaben, wenn Idras nur laut genug zeterte. Einem anderen, der ihr zwei Schleier für einen ihr viel zu hoch erscheinenden Preis verkaufen wollte, drohte sie mit dem fleischigen Finger. „Ich warne dich Theodenis, Sohn des Inreneus. Bist du nicht oft genug Gast in Nikaretes Haus, sodass du großzügig sein kannst?“ Sie zog Metaneira zu sich hin und schob sie vor den Händler, der mit verschränkten Armen vor ihr stand. „Soll dieses arme Ding etwa keine neuen Kleider bekommen wegen eines Geizhalses wie dir? Die Götter sollen dich strafen.“

Das Grinsen des Händlers wurde breit. Er beglotzte Metaneira als wäre sie eine Kuh, die zum Verkauf stand. Neaira fand, dass er ziemlich dumm aussah.

„Ich erlasse dir einen Obolus für jeden Schleier“, schlug er vor. „Aber dafür will ich bei meinem nächsten Besuch auch das Mädchen.“

Idras schob Metaneira wieder ein Stück zur Seite. „Die ist zu teuer für dich. Sie ist eine von Nikaretes Töchtern. Aber die Herrin wird sich dir gegenüber bei den anderen Mädchen großzügig zeigen.“

Der Mann wurde zornig. „Meine Schleier soll ich dir für weniger Obolen überlassen, und im gleichen Augenblick sagst du, dass das Mädchen da zu teuer für mich ist. Wen wundert es da, du alte Halsabschneiderin!“

Idras zog ungerührt ihren Geldbeutel hervor und zählte dem verärgerten Mann seine Obolen in die Hand. Dann raffte sie die Schleier und drückte sie Neaira in die Arme. Drohend beugte sie sich so weit zu ihr hinunter, dass Neaira ihre schlechten Zähne riechen konnte. „Wenn du auch nur einen Zipfel des Stoffes im Sand schleifen lässt, schlag ich dich grün und blau.“

Geistesabwesend nickte Neaira und raffte die Stoffe fest vor ihre Brust, während Idras sie und Metaneira wieder vor sich herschob. „Die Herrin sagt, dass du fleißig bist“, wandte Idras sich mit unfreundlicher Stimme an Metaneira, während sie sich inmitten der Menschen auf der Agora weiter voranschoben. „Sie sagt, dass du dir als Belohnung etwas aussuchen darfst, doch es soll nicht mehr als einen Obolus kosten.“ Wie um ihre Worte zu unterstreichen, schob sie Metaneira auf einen Stand mit hübschen Schmuckstücken und Salbtiegeln zu. Neaira trottete gelangweilt hinter ihnen her und überlegte fieberhaft wie es ihr gelingen sollte Metaneira zur Flucht zu bewegen, wenn Idras sie nicht aus den Augen ließ. Ihre gemeinsame Flucht hatte sie sich einfacher vorgestellt. Unauffällig sah Neaira sich um und verzog ihren Mund zu einem Schmollen. Sie brauchte zuallererst einen guten Fluchtweg - vielleicht die kleine Gasse hinter dem Tempel oder doch lieber die andere in der entgegengesetzten Richtung? Während Neaira sich umsah, blieb ihr Blick plötzlich auf der sandigen Straße haften. Aufgeregt folgte sie mit den Augen den ungewöhnlichen Fußspuren und nahm aus den Augenwinkeln wahr, wie ein roter Mantel hinter der Ecke eines Hauses in der schmalen Gasse verschwand. Vergessen waren Mänaden, Satyrn und ihre schauerlichen Feste. Erinnerungen und längst vergessene Gefühle erfassten Neaira, während sie wie angewurzelt dastand und auf die Fußabdrücke starrte. Hektisch sah sie sich nach Metaneira um, die mit Idras am Stand eines Händlers um eine Haarspange feilschte. Neaira sah unentschlossen von Metaneira zu der kleinen Gasse, in welcher der rote Mantel verschwunden war. Dann vergaß sie Idras und den Stock in ihrer Hand, sie vergaß sogar Metaneira und wurde endgültig von ihren Sehnsüchten gepackt ... von den Mustern in den Sandalen ihrer Mutter, von dem roten Mantel, den sie an kühlen Tagen getragen hatte, von versprochenen Datteln, die sie nie bekommen hatte. Neaira ließ die Stoffe fallen und rannte los. Mutter! Mutter bitte warte doch auf mich, flehte sie stumm. Obwohl sie den erschrockenen Aufschrei Metaneiras hinter sich vernahm und den wütenden Fluch Idras, zwängte Neaira sich furchtlos zwischen den Leibern der Menschen hindurch. Sie verfing sich im Mantel eines Chitons, dessen Besitzer ihr eine Ohrfeige verpassen wollte, entschlüpfte ihm aber und rannte weiter. Sie wusste, dass Idras es mit ihrer Leibesfülle schwer haben würde, ihr zu folgen. Keuchend bog Neaira in die schmale Gasse ein und wusste, dass sie es nicht noch einmal schaffen würde fortzulaufen, falls Idras sie einholte. Wie ein Spürhund folgte Neaira den Fußspuren. Als Nächstes bog sie um eine Häuserecke und lief eine abschüssige Gasse entlang, die von hohen Bäumen gesäumt war. Neaira wunderte sich darüber, dass sie menschenleer war, und konzentrierte sich weiter auf die Fußspuren im sandigen Boden. An einer Gabelung endeten die Fußspuren, da die Gasse ab hier mit Steinen gepflastert war. Als Neaira um die nächste Ecke bog, wäre sie fast auf das nackte Hinterteil eines Mannes geprallt, bevor es ihr gelang sich im letzten Augenblick an der Häuserecke festzuklammern. „Mutter!“ Die Worte kamen Neaira über die Lippen, ehe sie darüber hätte nachdenken können.

 

Der Mann vor ihr erschrak und zog fluchend seinen hochgefrafften Kurzchiton über sein nacktes Hinterteil, bevor er seinen Mantel über die linke Schulter warf und sich zu ihr umwandte. Seine Augen hatten etwas Zorniges, das Neaira erschreckte. Ängstlich wich sie vor ihm zurück und erkannte im selben Augenblick, dass er nicht allein war. Eine grell geschminkte Frau, die vor ihm gestanden hatte, zupfte ihren Peplos zurecht.

„Ist das dein Balg?“, fragte er gereizt, woraufhin die Frau schnell den Kopf schüttelte.

„Ich kenne das Balg überhaupt nicht, Herr.“

Neaira erkannte, dass sie einem Irrtum unterlegen war. Die Frau mit der grellen Schminke, deren Mund jetzt nervös zuckte, war nicht ihre Mutter – und doch trug sie deren Sandalen! Die fremde Frau drückte sich gegen die Häuserwand und musterte Neaira ohne großes Mitgefühl, während der Fremde mit erhobener Hand auf sie zukam. Neaira fühlte sich in ihrem Empfinden aus Entsetzen und Enttäuschung so gelähmt, dass sie die Augen schloss. Plötzlich vernahm sie die Stimme Idras hinter sich. Gefolgt von Metaneira schob sie ihre Furcht einflößenden Körpermassen auf sie zu. Auf ihrer Stirn glänzte Schweiß. „Halte ein, Herr! Sie ist mir entwischt, diese undankbare Sklavin. Ich werde sie grün und blau schlagen, das verspreche ich dir! Sie ist der Besitz der Herrin Nikarete.“

Tatsächlich ließ der Mann die Hand sinken, und Neaira fühlte sich von Idras im Nacken gepackt wie ein Hase. Beinahe bedauerte sie, dass nicht der Fremde ihr die Trachtprügel verabreichen würde. Niemand konnte schlimmer zuschlagen als Idras – soviel stand fest.

„Pass besser auf sie auf oder meine Kameraden und ich werden künftig ein besonderes Augenmerk auf das Haus deiner Herrin legen“, rief er verärgert und hielt die Hand auf, in welche ihm Idras großzügig zwei Obolen zahlte. Sein überlegener Auftritt ließ keinen Zweifel daran, dass er sein Versprechen wahr machen würde. „Es tut mir sehr leid, Herr! Ich bitte noch einmal um Verzeihung.“

Er murmelte einen leisen Fluch und bedachte Neaira mit einem letzten bösen Blick, bevor er ein wegwerfendes Zeichen in Idras Richtung machte, damit sie endlich verschwand. Idras ließ sich nicht zweimal bitten und schleifte die sich heftig wehrende Neaira fort. Erst als sie ein ganzes Stück hinter sich gelassen hatten, griff Idras nach ihrem Stock. Schützend legte sich Neaira die Hände vor ihr Gesicht. Metaneira gab einen flehenden Laut von sich. „Idras, bitte schlag sie nicht. Es waren die Sandalen! Sie dachte, die Frau wäre ihre Mutter.“ Sie wandte sich an Neaira. „So ist es doch, nicht wahr?“

Schnell nickte Neaira und klammerte sich an Metaneiras Hand.

„Sie hat die Herrin zwei Obolen gekostet und beinahe Ärger eingebracht. Mit den jungen heißspornigen Stadtwachen legt man sich besser nicht an! Zudem hat sie die Stoffe fallen lassen, die nun verloren sind, weil ich so schnell hinter ihr herlaufen musste. Meine Herrin war großzügig und hat ihr eine Aussicht auf ein besseres Leben geboten, und so dankt diese kleine Mänade es ihr. Ich habe ihr gesagt, dass dieses Mädchen nur Ärger machen wird, bei den Göttern! Solche Mädchen sind nicht gut ... solche, die mit den Augen lügen können!“ Wieder schickte sich Idras an, mit dem Stock auszuholen.

„Bitte Idras!“ Metaneiras Augen flehten geradezu. „Es ist meine Schuld.“ Sie machte eine kurze Pause und holte tief Luft. Neaira konnte sehen, dass ihre Freundin Angst hatte weiterzusprechen. „Ich habe ihr doch gar nicht erzählt, was man von ihr erwartet. Sie ist noch so jung.“

Idras Zorn wandte sich gegen Metaneira. Sie versetzte dem Mädchen drei schnelle, jedoch harte Schläge, unter denen es sich krümmte. „Du nutzlose Sklavin! Hatte die Herrin dir nicht befohlen, das Mädchen vorzubereiten? Ein ganzes Jahr ist wegen dir verloren. Möge der Tartaros dich vor deiner Zeit verschlingen!“

„Es tut mir leid, so furchtbar leid“, stammelte Metaneira, während Neaira sich ängstlich an sie klammerte. Idras schob ihren Weidenstock zurück in den Gürtel.

„Soll die Herrin über eure Strafen entscheiden.“ Sie packte beide Mädchen am Handgelenk und zog sie zurück zur Agora. An einen weiteren Einkauf war nicht mehr zu denken. Die Schwarze schleppte sie auf direktem Weg zurück in die Gasse der Tuchhändler und ließ sie nicht mehr aus den Augen. Neaira wusste, dass ihre Flucht gescheitert war. Idras stieß sie über die Schwelle der roten Tür und verschloss diese sorgfältig und unwiderruflich.



Zurück in ihrer Unterkunft, ließ Metaneira sich müde auf ihr Schlafpolster fallen und zog Neaira an sich. Idras hatte ihnen gedroht sie beide zu verprügeln, wenn sie es wagen sollten ihr Zimmer zu verlassen. Vor allem Metaneira erschrak bei jedem Geräusch, das auf dem Hof zu hören war. Als längere Zeit nichts geschah, beruhigte Metaneira sich. „Neaira, ich bin so dumm. Ich wollte dich beschützen, weil ich dich lieb habe. Doch ich habe sowohl dir als auch mir selbst nur Unglück gebracht.“

Sie umschlang Neaira mit den Armen und drückte sie an sich. „Du musst mir jetzt sehr gut zuhören, meine Kleine. Ich weiß nicht, ob Nikarete uns noch länger zusammenlässt.“

Neaira löste sich aus der Umarmung und starrte ihre Freundin mit vor Schreck geweiteten Augen an. „Aber ... sie darf uns nicht trennen! Die Mänaden und die Satyrn ... alle Waldgeister des Dionysos werden über mich herfallen.“

Metaneira hob die Brauen und wollte von Neaira wissen, was sie damit meinte. Schließlich nahm Neaira all ihren Mut zusammen und erzählte der Freundin von ihren Ängsten und den Dingen, die sie herausgefunden hatte. Zu ihrer Überraschung schien Metaneira jedoch nicht verängstigt, sondern begann zu lachen. Als sie erkannte wie entsetzt Neaira über ihr Lachen war, wurde Metaneira ernst und erzählte Neaira die Wahrheit über das Haus, in dem sie lebten. Je mehr Neaira darüber hörte, desto weniger gefiel es ihr. Sie suchte nach der geheimen Tür ihrer Gedankenwelten, um dahinter zu verschwinden, doch Metaneira ermahnte sie zuzuhören. Sie erzählte Neaira von Männern, die Nikaretes Haus besuchten, um mit den Mädchen zu trinken und sich mit ihnen zu vergnügen. „Mit dem Ding, was sie zwischen den Beinen haben“, fügte sie erklärend hinzu.

„So wie die Hunde auf der Straße?“, fragte Neaira, die sich voller unguter Gefühle daran erinnerte, dass auch Satyrn dieses Ding besaßen, ebenso wie Esel und Pferde.

„So ähnlich.“

„Aber was ist dann der Unterschied zwischen ihnen und den Satyrn?“

Metaneira strich ihr über das Haar als müsse sie ernsthaft über die Frage nachdenken. „Sie sind nicht so hässlich, und sie sind keine bösen Geister.“

Neaira überzeugte das alles nicht. Die Geräusche und die Schreie, die sie in den Nächten gehört hatte, erinnerten sehr wohl an böse Geister! Nach vergnüglichen Festen hörte sich das nicht an. Dann dachte sie an die Frau, die sie für ihre Mutter gehalten hatte.

„Sie war eine Porne, eine Straßenhure, die sich für Geld den Männern anbietet.“

„Und warum hat sie die Sandalen meiner Mutter getragen - die mit den Mustern?“ Alles, was Metaneira sagte, erschien Neaira immer weniger überzeugend.

„Das hat sie ja gar nicht, Kleines. Viele von ihnen tragen solche Sandalen, in denen Nägel stecken, die Worte in den Sand zeichnen. Damit fordern sie die Männer auf, ihnen zu folgen.“

„Meine Mutter hat das auch getan?“, schrie Neaira entsetzt auf.

Metaneira erkannte, dass sie vielleicht besser geschwiegen hätte und bedachte Neaira mit einem mitleidigen Blick. Anscheinend hatte sie nicht damit gerechnet, dass Neaira noch nicht einmal das gewusst hatte. „Tut mir leid, Kleines. Aber du und ich, wir müssen nicht so sein wie diese Frauen oder wie Stratola. Nikarete lässt nur die reichen Männer zu den Mädchen, die sie ihre Töchter nennt.“

Neaira tröstete das wenig. Ihre Kinderwelt war im Begriff zusammenzufallen. Langsam begann sie zu begreifen, dass ihre Mutter sie mit Absicht bei Nikarete gelassen und niemals vorgehabt hatte, sie abzuholen. Diese Erkenntnis schmerzte beinahe mehr als sie zugeben wollte. Neaira fühlte sich von ihrer Mutter verraten.

„Du musst lernen, den Männern zu gefallen“, hörte sie Metaneira wie durch einen dichten Nebelschleier auf sie einreden. „Nur das bewahrt dich davor, so zu werden wie deine Mutter oder die Frau auf der Straße.“

Dann hörten sie Idras watschelnde Schritte näherkommen. Metaneira rüttelte Neaira an den Schultern. „Versprich mir, dass du alles dafür tun wirst nicht so zu werden wie diese Frauen!“

Neairas Zähne klapperten aufeinander, so fest schüttelte Metaneira sie durch. Auf keinen Fall wollte sie so werden wie ihre Mutter. Überhaupt wollte sie nichts mit Männern zu tun haben, und schon gar nicht mit diesem Ding, das sie mit den Tieren und den Satyrn gemeinsam hatten! Sie umarmte die Freundin. Als Idras die Tür aufstieß und Metaneira mitnahm, jammerte Neaira nicht und versuchte auch nicht, Metaneira festzuhalten. Zu viel ging ihr durch den Kopf, was sie nicht verstand und was ihr kindliches Gemüt erst einmal verdauen musste.