Der Gesang des Satyrn

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5. Kapitel


Ein Besuch in Athen

„Die Herrin hat Hylas verkauft“, teilte Idras Neaira am folgenden Tag mit und grinste dabei. Neaira war es egal. Sie hätte Hylas nicht mehr lieben können, nicht nach dem, was Nikarete ihnen angetan hatte. So war es besser – für Hylas und auch für sie.

Als Nikarete sie zum abendlichen Fest ins Andron holen wollte, weigerte Neaira sich jedoch, ihr zu folgen. Nikarete nahm ihre Weigerung mit scheinbarem Gleichmut hin, schloss sie eine ganze Woche in ihrem Zimmer ein und wies die Sklaven an, ihr nur eine einzige Mahlzeit am Tag zu bringen. Nach einer Woche gab Neaira ihren Trotz auf und ließ sich von Nikarete zur Kline eines älteren Mannes führen, der sich ihr als Hipparchos vorstellte. Er zog sie zu sich, ließ seine Hände den gesamten Abend immer wieder unter ihr Gewand gleiten, und schob ihr Häppchen in den Mund. „Sie frisst mir schon aus der Hand“, rief er den anderen Männern zu, die lachten und sich über Neaira amüsierten. Eine Woche Hunger hatte ausgereicht, ihren Stolz zu brechen. Hipparchos war anders als Xenokleides. Da er Schauspieler im Odeion war, fand er Gefallen an allerlei Spielen. Eines davon lernte Neaira am ersten Abend kennen. Auf der Schlafkline ließ er sie auf allen Vieren vor sich knien und meinte: „Ein gutes Pferd muss hart geritten werden.“ Dann rief er ihr allerlei Dinge zu, die er wohl auch seinen Pferden sagte, während er schnaufte und stöhnte.

Neaira spürte nichts mehr, nicht in ihrem Herzen und nicht in ihrem Verstand. Es gab nur eine Sache die wichtig war – Metaneira nach so vielen Jahren wiederzusehen, beinahe so selbstverständlich als wäre sie niemals fort gewesen. Entspannt lag sie an jenem Abend, als Neaira Hipparchos zugeführt wurde, neben einem großen noch nicht sehr alten Mann auf der Kline. Die Jahre hatten sie zu einer jungen Frau gemacht - schön, anmutig und auf eine nachlässige und unbedachte Art sehr reizvoll unter der dicken Schminkpaste. Als sie sich in die Augen sahen, schmolzen die Jahresumläufe, die sie getrennt gewesen waren, dahin. Neaira hätte gerne den Abend nur mit Metaneira verbracht. Als der Mann an Metaneiras Seite die Blicke zwischen ihnen bemerkte, flüsterte er Metaneira etwas zu, woraufhin sie schnell den Kopf schüttelte. Der Blick, den sie Neaira kurz darauf schenkte, verunsicherte sie. War es Furcht, die sie in Metaneiras Augen gesehen hatte?

Erst am nächsten Abend konnte sie mit der Freundin ein paar Worte wechseln. „Wo bist du all die Jahre gewesen?“

„Ich war die ganze Zeit hier.“

Da wusste Neaira, dass es allein Nikaretes Wille war, der darüber bestimmte, ob sie ihre Freundschaft wieder aufnehmen durften oder nicht. Die Harpyie hatte ihr ein Angebot sowie eine Drohung gleichermaßen unterbreitet. Gehorche, und ich werde großzügig sein. Als Neaira zu ihrer Kline zurückgehen wollte, hielt die Freundin sie am Arm fest. „Halte dich wenn möglich von Timanoridas fern. Er hat dich ins Auge gefasst.“

Meinte sie den, bei dem sie am gestrigen Abend gelegen hatte, diesen großen Mann? „Wir sind in ihrer aller Augen, Metaneira. Einer mehr oder weniger, was macht das schon?“

„Er ist schlimmer als sie alle zusammen“, konnte Metaneira ihr noch zuflüstern, bevor auch sie sich wieder ihrem Begleiter zuwenden musste.

Bald darauf setzten Neairas Mondblutungen ein. Die Schwarze kam, um Neaira zu erklären wie eine ungewollte Schwangerschaft zu vermeiden war – mit einer Salbe aus Bleiweiß, einem unsichtbaren Geheimnis, das sie sich vor dem Zusammentreffen mit den Männern in die Scham einführte. „Bleiweiß ist der Segen und die Verderbnis der Frauen. Es gibt der Haut eine milchig weiße Farbe und zerstört sie, wenn man zu viel davon nimmt. Ebenso verhält es sich beim Verhüten von Schwangerschaften. Zu viel bedeutet den Gifttod, zu wenig eine ungewollte Leibesfrucht.“ Idras wies auf ihr schwarzes Gesicht. „Ich bin froh, dass meine Haut so schwarz ist, dass kein Bleiweiß sie heller machen könnte. Das Bleiweiß wird dich für lange Zeit jung halten, doch irgendwann wird es dich zerstören. Selbst Nikarete will nicht auf mich hören und hellt damit ihre Haut auf. Jetzt ist sie so fleckig, dass sie ohne Bleiweiß das Haus nicht mehr verlassen kann. Aber für dich wird Bleiweiß trotzdem dein bester Freund sein, solange du für Nikarete arbeitest.“

Wie hätten die Götter in einen Leib, der nichts kannte als Zorn und Hass, ein Leben hineintun können? Neaira tat jedoch, was Idras von ihr verlangte. Sie lernte von ihr, das weiße Pulver mit Fett zu mischen und sich ihre Salben und Schminkpasten selbst anzurühren. Neaira hatte oft versucht zu fliehen, und was hatte es ihr gebracht? Nur noch mehr Hass und Demütigung. Mit Schrecken hatte sie erkennen müssen, dass all die Herren, die sie auf ihre Kline zogen, in ihren eigenen Häusern Töchter hatten, die nicht älter waren als Neaira. Mit Wärme und Zärtlichkeit sprachen sie von ihnen, versteckten sie in Frauengemächern und erwähnten niemals ihre Namen, da es als unziemlich galt. Aber sie kamen in Nikaretes Haus, riefen laut nach Neaira und taten mit ihr Dinge, von denen ihre Töchter nicht einmal wissen durften, dass es sie gab. Sie waren reich, besaßen Macht und Ansehen – wer hätte es ihnen verbieten sollen? Alle, deren Wort so viel Gewicht hatte, dass sie Neaira hätten helfen können, kamen selbst in Nikaretes Haus und zerrten sie auf ihr Lager. Warum also fliehen ... und wohin?

Als Neaira es schon fast vergessen hatte, kam Idras zu ihr: „Heute Abend wirst du auf der Kline des Herrn Timanoridas liegen!“ Neaira hatte kaum noch an ihn und die Warnung Metaneiras gedacht. Aber was machte es schon, neben wem sie lag? Hipparchos, Xenokleines, Timanoridas - sie waren nur Namen und Körper, nichts weiter.

Timanoridas empfing sie mit Freundlichkeit auf seiner Speisekline, strich ihr über das Haar und war weniger unangenehm als die anderen, neben denen sie sonst lag. Neaira wartete vergeblich auf Metaneira, da sie die Freundin gerne noch einmal gefragt hätte, weshalb sie Timanoridas gefürchtet hatte. Sie erschien nicht, so oft Neaira auch nach ihr Ausschau hielt. Als die Nacht spät wurde, nahm Timanoridas sie schließlich bei der Hand und führte sie in eines der Zimmer. Neaira wäre lieber in ihrem eigenen Bett eingeschlafen, doch sie wusste dass jeder Abend auf der Speisekline eine Nacht auf der Schlafkline mit sich brachte.

Timanoridas schloss die Tür hinter ihnen. Mit einer einzigen Handbewegung riss er ihr den Chiton vom Leib, warf sie auf das Lager, und starrte sie an. Dann schlug er sie - mit den Händen, einem schweren Gürtel und mit Worten. „Hure ... ihr mögt es doch, wenn man euch hart anfasst.“

Neaira mochte es nicht, hütete sich jedoch ihm das zu sagen. Viel zu erschrocken war sie über seine Rohheit, der sie nichts entgegenzusetzen hatte. Als Timanoridas sie am Morgen verließ, war er wieder ein normaler Mann. Neaira meinte, jeden einzelnen Teil ihres Leibes schmerzhaft zu spüren. Als Idras kam, zeigte sie der Schwarzen die roten Striemen und die blauen Flecken. „Es ist ganz richtig, dass du mir das sagst. Für solche Art von Lust muss er mehr bezahlen.“

„Ich kann kaum den Arm heben. Er wird mich totschlagen.“

Idras zuckte mit den Schultern und schlug Neaira vor, Timanoridas möglichst viel Wein einzuschenken, wenn sie das nächste Mal auf seiner Kline lag. Damit war die Angelegenheit für sie erledigt.

In ihrem Zimmer mit den blauen Wänden setzte sich Neaira auf ihr Bett und starrte die Wand an. Wenn es doch keine Wand, sondern der blaue Himmel gewesen wäre, und sie ein Vogel, der einfach hätte fortfliegen können. Doch die Wand blieb eine Wand und sie war kein Vogel, sondern Neaira, die Sklavin der Harpyie. Es kümmerte Nikarete nicht, ob Timanoridas sie totschlug oder ob sie starb. Die einzige Berechtigung ihres Lebens bestand darin, Nikaretes Geldbeutel zu füllen. Da wurde Neaira klar, dass niemand sie vor Timanoridas schützen würde, wenn sie es nicht selbst tat. Als die Tür ihres Zimmers sich öffnete, dachte sie bereits über die wenigen Möglichkeiten nach, die ihr als Sklavin gegeben waren.

„Ich habe gehört, dass Timanoridas dich auf seine Kline geholt hat – es tut mir leid, ich wollte es verhindern. Doch was kann ich schon tun?“ Metaneiras helles Haar war unter einem Perlennetz gebändigt, und sie trug einen gelben Chiton, der viel zu unauffällig für Nikaretes Geschmack war.

„Wo bist du gestern Abend gewesen?“

Metaneiras Gesicht strahlte wie die Sonne - als hätte sie gehofft, Neaira würde sie fragen. „Ich wollte es dir bereits sagen – es gibt einen Mann, der mir ein Zimmer nahe der Agora bezahlt, wenn er in Korinth ist. Lysias aus Athen. Er behandelt mich gut und mit Respekt, fast als wäre ich seine Gattin.“

Wie konnte Metaneira mit einem derart glücklichen Lächeln über einen Mann sprechen? Neaira verstand es nicht.

„Ich muss nur noch zu Nikarete, wenn er zurück nach Athen geht. Wenn er in Korinth ist, bezahlt er für mich, führt mich aus und will mich für sich alleine. Es gibt keine anderen Männer in dieser Zeit, Neaira. Kannst du dir das vorstellen?“

Neaira konnte sich nicht vorstellen, dass Metaneira so dumm war, auf diesen Lysias hereinzufallen. Jeder Mann war ein Satyr, und jeder Mann war ein Timanoridas.

„Er ist Metöke in Athen, ein freier Fremder, aber sehr reich, und er hat so viel erlebt. Beinahe wäre er ermordet worden. Aber nun ist er ein bekannter Mann, ein Redner vor den Gerichten.“

„Du solltest dich selber hören, Metaneira! Er bezahlt für dich, so einfach ist das.“ Neaira fühlte sich betrogen von der Freundin, aber Metaneira legte ihr die Hand auf die Schulter. „Mir hätte nichts Besseres widerfahren können. Er ist zwar alt aber gütig. Ich wünsche mir nichts mehr, als dass du auch einen solchen Mann findest, Neaira.“

 

Neaira runzelte die Stirn. Einen Mann sollte sie finden? Hier gab es doch genügend Männer, die sie fanden - jeden Abend, immer wieder aufs Neue.



Neaira sah Lysias einige Tage später auf einem Fest in Nikaretes Haus, wo er neben Metaneira auf der Speisekline lag. Er hätte Metaneiras Vater sein können, und beinahe so behandelte er sie, mit Rücksicht und liebevoller Fürsorge. Wie sollte die sanftmütige Metaneira jemals damit zurechtkommen, wenn Lysias sie fallen ließ? Und das, da war sich Neaira ganz sicher, würde er tun. Düstere Vorahnungen beschäftigten sie den gesamten Abend, während sie neben Xenokleides auf der Speisekline lag. Es war ein ausgelassenes Fest, auf dem die Männer sich mit zotigen Bemerkungen übertrafen. Die Sklaven huschten von einer Kline zur anderen und hatten alle Hände voll zu tun Wein nachzuschenken. Die Mädchen lachten schrill und übertrafen sich darin, den Männern zu gefallen. Neaira bemühte sich nicht darum zu gefallen, und vielleicht war gerade dies der Grund, weshalb die Männer sie begehrten. Sie war ein Wild, das sich zu jagen lohnte – eine Beute, die erobert werden musste. Heimlich wurden den Mädchen Haarspangen oder Ringe zugesteckt, die sie vor Nikarete zu verbergen versuchten. Neaira wollte keine Geschenke, da sie wusste, dass die Augen der Harpyie überall waren. Keines der Mädchen würde die Geschenke nach dem Fest behalten dürfen. Neaira versuchte erst gar nicht, Xenokleides schöne Augen zu machen. Er war zufrieden, Neaira ab und an auf seiner Kline zu haben, und sie war zufrieden damit, dass er nicht mehr von ihr begehrte als in der ersten Nacht. Für die ausgefallenen Wünsche der Männer bestellte Nikarete Flötenmädchen ins Haus, die nicht nur die Doppelflöte hervorragend beherrschten, sondern auch das Spiel mit mehreren Männern gleichzeitig. So war die Ordnung gesichert – für die groben Bedürfnisse die Straßenhuren, für die ausgefallenen Gelüste die Flötenmädchen, für erlesene Genüsse die Töchter Nikaretes, und um Kinder zu zeugen gab es Gemahlinnen, die nach Erfüllung ihrer Pflichten kaum noch angerührt wurden und im Haus eingesperrt blieben. Dazwischen gab es nichts für Frauen. Neaira erschien keines von diesen Leben erstrebenswert. Weshalb also hätte sie sich anstrengen sollen?

Als die Stunde später wurde, der Wein reichlich geflossen war und einige der Herren einen hitzigen Disput darüber ausgetragen hatten, ob ein gewisser Athanos aus Athen die Anklage als Moichos, als Ehebrecher, verdient hätte, da er mit der Frau eines anderen ins Bett gestiegen sei, von der man jedoch wusste, dass sie sich gleich einer gewöhnlichen Porne jedem anböte, der ihren Weg kreuzte, hob Lysias schließlich seine Weinschale und prostete den anderen zu: „Bei Zeus, sollen sie ihm einen Rettich tief in den After schieben und einen Klaffarsch aus ihm machen! So halten wir es in Athen mit Ehebrechern. Ich werde euch berichten, wie der Fall ausgegangen ist, wenn ich aus Athen zurückkehre.“

Metaneiras traurige Antwort bestätigte Neaira in ihren Befürchtungen. „Verlässt du mich schon wieder? Noch keinen Mondumlauf bist du in Korinth.“

Neaira erwartete, dass er sie rügte wie ein Kind und ihr klarmachte, wo ihr Platz in diesem Leben war. Doch Lysias hielt Metaneira seinen Becher an die Lippen und ließ sie trinken, wobei er ihr ein Auge kniff. „Du wirst mich dieses Mal begleiten. Ich habe ein besonderes Geschenk für dich - die Einweihung in die eleusinischen Mysterien, die im nächsten Mondumlauf zu Ehren Demeters gefeiert werden.“

Metaneira fiel ihm um den Hals, als ob er ihr gerade die Freiheit geschenkt hätte.

„Du verwöhnst sie als wäre sie deine Hetäre.“ Xenokleides rief es Lysias zu, meinte es jedoch nicht böse. Augenscheinlich rührte ihn die Zuneigung, die Metaneira Lysias entgegenbrachte. Neaira trank ungerührt ihren Wein. Sollte Xenokleides davon träumen, dass auch sie ihm Zuneigung schenkte. Was hatte er ihr geschenkt außer der Gewissheit, dass sie nichts vom Leben und der Liebe zu erwarten hatte.

„Deine Großzügigkeit ehrt dich, Lysias. Aber Metaneira gehört noch immer zu meinem Haus und kann nicht nach Athen reisen. Es ist bereits sehr großzügig von mir, dass ich sie außerhalb meines Hauses wohnen lasse, wenn du in Athen bist.“ Es war die Harpyie gewesen, die allein auf einer Kline lag und deren Vogelaugen ebenso wenig entging wie ihren Ohren. Mit spitzen Lippen nippte sie an ihrer Weinschale und winkte dann dem Sklaven, ihr nachzuschenken.

War es Metaneiras enttäuschter Blick, der Lysias dazu veranlasste gegen Nikarete anzugehen? Lysias war nicht unfreundlich, jedoch entschlossen. „Welche Kosten hast du für Metaneira, die ich nicht großzügig zahle? Ich werde Metaneira etwas schenken, was du ihr nicht fortnehmen kannst. Und ich bezahle die Reise gerne für eine Schwester, die Metaneira auswählt sie zu begleiten. Dies wird wohl auch in deinem Sinne sein, wo du doch so um das Wohl deiner Töchter besorgt bist.“ Er sagte es nicht ohne Spott und forderte Nikarete heraus, was die anderen Gäste zum Lachen brachte. Metaneira nutzte die Verblüffung Nikaretes und beeilte sich ihre Wahl zu treffen. „Ich möchte, dass Neaira mich begleitet. Wir stehen uns nah, seit wir Kinder waren.“

Nur kurz meinte Neaira, dass Nikaretes Gesicht zu einer hässlichen Fratze wurde. Zu schnell gewann sie ihre Fassung zurück. Kurz schien sie zu überlegen, wagte aber nicht einem gut zahlenden Kunden wie Lysias seinen Wunsch abzuschlagen. Sie lächelte betont großmütig, als wäre ihr klar geworden, wie wunderbar Lysias Einfall im Grunde genommen war. Neaira hätte ihr zu gerne den Rest ihres Weines ist Gesicht geschleudert. „Wenn es denn dein Wunsch ist, edler Lysias, kann ich ihn dir nicht abschlagen. Ganz bestimmt wird den Mädchen die Schönheit Athens eine willkommene Abwechslung bieten.“

Neaira versuchte zu begreifen, was gerade geschehen war, und sah ungläubig zu Metaneira, die ihr ein Auge kniff. Sie würde dieses Haus verlassen – und nicht nur für einen Tag! Sie würde für einen ganzen Mondumlauf nach Athen reisen! Den Rest des Abends hätte ihr selbst ein brutaler Mann wie Timanoridas nicht mehr verderben können.


Neaira und Metaneira fielen sich in die Arme, tanzten durch Neairas kleines Zimmer und stießen dabei Tiegel und Salbgefäße um. Neaira hatte es nicht erwarten können, mit der Freundin zu sprechen und die Nacht kaum ein Auge zugetan.

„Ich war noch nie fort aus Korinth! Athen zu sehen und in die eleusinischen Mysterien eingeweiht zu werden ist mehr, als ich mir je vorzustellen gewagt habe. Und du kommst mit uns! Die Götter lächeln uns zu.“ Metaneira, sonst ruhig und gelassen, konnte sich kaum beruhigen. Auch Neaira konnte ihr Glück kaum fassen und fragte sich erstmals, ob Lysias tatsächlich in Metaneira verliebt war ... oder liebte er sie sogar? Warum sonst sollte ein Mann das alles für ein Mädchen tun, dessen Dienste er kaufen konnte? „Weshalb hat Lysias dich nicht längst von Nikarete freigekauft?“

Metaneira wurde still. Die Ausgelassenheit des Tages war vergessen, und Neaira bereute beinahe, dass sie nicht einfach den Mund gehalten hatte. „Er hat es versucht, mehrere Male. Aber sie ist eine Natter und weiß genau, dass sie viel mehr Geld mit mir verdienen kann, wenn sie mich immer wieder an Lysias vermietet. Sie weiß, dass er mich liebt. Den Kaufpreis für mich hat sie so hoch angesetzt, dass selbst ein reicher Mann wie Lysias ihn nicht aufbringen kann.“

Neaira erkannte die schwierige Lage, in der Metaneira sich befand, und nahm sie in den Arm. „Er wird einen Weg finden. Ich glaube, dass er ein guter Mann ist.“ Hatte wirklich sie das gesagt? Metaneiras Gesichtsausdruck erhellte sich, und sie umarmte Neaira erleichtert.

„Immerhin werden wir fast einen ganzen Mondumlauf den Fuchteln Nikaretes und Idras entkommen und Vieles erleben, was selbst eine freie Frau in ihrem Leben nicht zu Gesicht bekommt. Lysias ist großzügig. Du wirst es sehen“, nahm Metaneira am nächsten Tag den Faden ihrer Unterhaltung wieder auf. Es war ein warmer Sommertag, an dem ein angenehm frischer Wind wehte. Sie waren gemeinsam zum Louterion gegangen und hatten sich gegenseitig die Haare gewaschen, viel gelacht und sich mit Wasser bespritzt. Jetzt saßen sie in luftigen Gewändern im Hof und ließen ihre Haare und die letzten Wassertropfen vom Wind trocknen. Neaira streckte ein schlankes braunes Bein in die Sonne und beobachtete die glitzernden Wassertropfen auf ihrer Haut, während Stratola mit mürrischem Gesicht an ihnen vorbei lief und sie mit leisen Flüchen bedachte. Die Reise nach Athen hatte sich bereits herumgesprochen und Neid unter den Mädchen hervorgerufen. Neaira streckte Stratola die Zunge heraus, was diese mit einem wenig freundlichen Handzeichen quittierte.

„Wärest du auch gern nach Athen gereist, Stratola? Aber weiter als bis zum Hafen von Piräus zu den Straßenhuren wärest du ohnehin nicht gekommen!“

Metaneira stieß Neaira in die Seite. „Ärgere sie doch nicht!“

„Sie war immer gemein und hinterlistig. Glaubst du etwa, dass sie uns diese Reise gönnt?“ Neaira sah ihr nach, wie sie in ihrem groben Wollchiton in ihrem Zimmer verschwand. „Ich habe gehört, dass sie schwanger sein soll ... von irgendeinem Hafenarbeiter.“ Wenn das stimmte, würde Idras ihr bald eines ihrer Kräutergebräue mischen, um das Kind aus ihrem Leib zu treiben. Stratola war mittlerweile fast zu alt für Nikaretes Haus, doch zwei Jahresumläufe würde sie sicherlich den Männern noch genügen. Neaira verscheuchte Stratola aus ihren Gedanken. Dieser Tag war zu schön, als dass sie ihn sich von ihr verderben lassen würde.

Als Nikarete sich vor ihnen aufbaute, verschwand die Sonne und damit die Wärme des Tages augenblicklich. Neaira und Metaneira blinzelten zu ihr hoch. Da Nikaretes Lippen noch nicht für den Abend geschminkt waren, wirkten sie schmal und blutleer. „Ich werde euch begleiten“, und mit einem Blick auf Neaira fügte sie hinzu: „Auch in Athen gibt es reiche Herren. Ich kann dafür sorgen, dass du mir die Kosten für diese Reise zurückzahlst!“

Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich ab und ging, während Neaira ihr mit düsteren Blicken hinterher sah. „Wie sehr ich sie hasse! Ich würde alles tun, um von ihr fortzukommen. Wir werden niemals frei von ihr sein!“

Metaneira zog Neaira in ihre Arme, wie sie es früher getan hatte, als sie noch klein gewesen war. Die Geste der Freundin vertrieb Kälte und Zorn und brachte die Wärme des Sommertages wieder zurück.

„Irgendwann werden wir zu alt für sie sein. Dann wird sie uns verkaufen. Wichtig ist nur, dass wir bis dahin einen Mann haben, der bereit ist uns von ihr freizukaufen.“ Sie bedachte Neaira mit einem ruhigen, jedoch entschlossenen Blick. „Wir müssen auch für dich einen Mann wie Lysias finden. Einen, der ein gutes Herz hat und sich in dich verliebt.“

Mit Unwillen dachte Neaira an die Männer, auf deren Kline sie Abend für Abend lag. Keinem von ihnen hätte sie allein gehören mögen, vor allem nicht Timanoridas. Und sie bezweifelte auch, dass einer von ihnen in Liebe zu ihr entbrannt war. Sie war nicht Helena von Troja - soviel hatte sie das Leben in Nikaretes Haus gelehrt. „Kennst du eigentlich Phrynion?“

Metaneira hob die Brauen und sah sie verwundert an. „Phrynion aus Athen?“

Neaira nickte und hielt die Luft an. Wusste Metaneira etwas über ihn? Seit dem Tag ihrer Entjungferung hatte sie ihn nicht mehr gesehen, auf keinem von Nikaretes Festen. Obwohl sie nicht wusste warum, drängte es sie danach mehr über den geheimnisvollen Mann zu erfahren. Doch Metaneira schüttelte den Kopf. „Der ist nichts für dich, Neaira. Ein Mann wie Phrynion ist zu schön, um jemand anderen als sich selbst zu lieben.“

Metaneiras Worte ärgerten sie, doch dann schob Neaira die schwermütigen Gedanken beiseite und beschloss, sich auf die Reise nach Athen zu freuen.


Nikarete ließ sich von Lysias in den überspannten Eselskarren helfen, mit dem er gekommen war, um die Mädchen abzuholen. Ein Kleiderbündel an ihre Brust drückend, bedachte sie Metaneira und Neaira mit mürrischen Blicken. Es war offensichtlich, dass Nikarete wenig Lust zu dieser Reise verspürte. Zwar war sie in einen üppig fallenden Peplos auffälliger Farbe gekleidet und ließ zusätzlich zwei vollgepackte Truhen mit Kleidern auf den Karren laden. Da sie jedoch geizig war, hatte sie darauf verzichtet eine Sklavin mitzunehmen, die sie und die Mädchen auf der Reise umsorgte. „Soll ich sie etwa einen ganzen Mondumlauf durchfüttern in Athen?“ hatte sie Lysias entsetzt geantwortet, als er Nikarete gefragt hatte, ob sie ohne Dienerschaft reisen würde.

 

Ihr Gesichtsausdruck war entsprechend missmutig als Lysias das Zeichen zum Aufbruch gab. Eine kleine Eskorte von berittenen Männern begleitete sie, da die Fahrt nach Athen einige Tage dauern würde. Als der Wagen sich in Bewegung setzte, wurden Neaira und Metaneira immer aufgeregter und vergaßen sogar die missmutige Harpyie, die neben ihnen im Wagen saß. Mittlerweile nannten sie Nikarete nur noch bei diesem Namen, wenn sie alleine und unbeobachtet waren. Metaneira hatte ihre Freundin sogar lachend zu dieser treffenden Namenswahl beglückwünscht. Da sie wussten, dass sie auf der Reise unter Lysias Schutz standen, beachteten sie Nikarete kaum. Immer wieder spähten sie aus dem Wagen und bestaunten das große Theater mit seiner halbrunden Tribüne, kicherten über einen Esel, der seinen Reiter abwarf, und empfanden fast jede Kleinigkeit, die sie sahen, als bemerkenswert. Als sie die Stadtmauern von Korinth hinter sich gelassen hatten, herrschte Nikarete sie an endlich Ruhe zu geben, da sie schon jetzt müde von der Reise wäre und schlafen wollte.

Die Fahrt in dem holprigen Wagen war trotz der Polster, mit denen Lysias ihn für die Frauen hatte ausstatten lassen, nicht sehr bequem. Das Unbequemste an der Reise war Nikarete, da sie an allem etwas auszusetzen hatte, ständig nörgelte und die beiden Mädchen verfluchte, wegen denen sie ihr Haus unter Idras Aufsicht hatte lassen müssen. Wie es Nikaretes raffgierigem Gemüt gemäß war, vertraute sie der schwarzen Sklavin nicht, obwohl Idras schon so lange in ihren Diensten stand, dass Nikarete behauptete nicht mehr zu wissen, wann sie Idras gekauft hatte.

Lysias kümmerte sich rührend um Metaneira, schaute ab und zu in den Wagen und fragte, ob sie einen Wunsch hätte. Stets war es Nikarete, die antwortete und Lysias mit unverschämten Forderungen nach einer weiteren Decke, einer Rast oder etwas zu Essen belästigte. Obwohl sie auf eine Sklavin verzichtet hatte, war Nikarete nicht bereit Einschränkungen in ihrer Bequemlichkeit hinzunehmen. Lysias, dessen fortgeschrittenes Alter und bewegtes Leben ihm eine gewisse Ruhe des Gemüts verliehen hatten, erfüllte klaglos die Wünsche Nikaretes.

Erst als sie den Isthmus von Korinth erreichten, die Landenge, über die Schiffe von einem Hafen zum anderen gezogen wurden, verstummte Nikarete für eine Weile. Die großen Schiffe, teilweise zerlegt und auf Schlitten von unzähligen Männern und Ochsen gezogen, boten einen gewaltigen Anblick und entlohnten zumindest die Mädchen für die Unbequemlichkeit auf dem holprigen Wagen.

Neaira beneidete Metaneira, die ihre Nächte in Lysias Wagen verbringen durfte, denn Nikarete war nicht nur am Tag unerträglich – sie schnarchte auch mit der Inbrunst von zwei Männern in der Nacht.

In diesem Sinne war besonders Neaira froh, als sie am vierten Tag Athen erreichten und die Stadttore passierten. Sobald Neaira den ersten Blick auf Athen warf, war sie von der Polis verzaubert. Die weißen Gebäude mit den großen Säulenhallen, die Tempel, auf deren Stufen bunte Blüten zu Ehren Demeters gestreut worden waren, Priester, die eifrig die bronzenen Standbilder vor den Tempeln auf Hochglanz polierten. Die Stadt besaß einen Herzschlag, der so anders war als der von Korinth. Es war ein Herzschlag des Aufbruchs, der Erneuerung und der Freude. Wenn Korinth ein alter Mann war, dessen Herz langsam und gemächlich schlug, so war Athen das aufgeregte Herz eines Mädchens, das voller Vorfreude auf den Geliebten wartet. Metaneira und Neaira drückten sich am hinteren Teil des Wagens herum und konnten nicht genug von den Straßen Athens zu sehen bekommen, in denen die Vorbereitungen für die eleusinischen Mysterien voranschritten. Gut gemästete Opfertiere mit glänzendem Fell und Stiere mit vergoldeten Hörnern wurden zu den Tempeln geführt, die Händler boten Figuren der Demeter oder glücksbringende Amulette an. Lysias ließ den Wagen anhalten und kaufte von einem der Händler zwei Demeterfigürchen, die er Metaneira und Neaira schenkte. Sie kramten in ihren Sachen nach Bändern und banden sich die Schutzamulette gegenseitig um. Nikarete übersah mit verkniffenem Mund, dass Lysias nur den Mädchen ein Amulett geschenkt hatte. Es war offensichtlich, dass Nikarete nicht erwünscht war auf dieser Reise. So wie Nikarete Athen missmutig beäugte, schloss Neaira die Stadt mit ihren offenen und luftigen Straßen, den vielen Gebäuden, Tempeln und Läden schnell in ihr Herz. Korinth war zwar auch eine belebte Polis, doch Athen schien trotz der bevorstehenden Festtage vergleichsweise geordneter als Korinth. Als kleines Mädchen an der Hand ihrer Mutter hatte sie Korinth beeindruckt. Jetzt meinte Neaira, dass Korinth im Vergleich zu Athen schwermütig war.

Lysias erklärte Neaira, die ihn immer wieder allerlei Dinge fragte, dass Athen durch sein demokratisches Gesinnungsbild Blüte und Wohlstand hervorbrachte. „Dies sieht man der Polis an. Korinth ist immer wieder in Wirren und Kriege demokratischer Machthaber und Aristokraten geraten. Nicht umsonst habe ich mich in Athen niedergelassen.“ Lysias war der Stolz auf seine Heimat anzusehen. Seine freundlichen Augen schienen zu leuchten, wenn er von Athen sprach.

Nikarete, die Lysias Begeisterung nicht verstand, winkte ab. „Solange ihr Herren nur oft genug nach Korinth kommt, soll es mir egal sein, wo ihr eure Häuser baut.“ Sie hatte kein Auge für die Schönheit Athens. Für sie galt nur die klingende Münze als schön, das goldene Geschmeide und ein kostbares Gewand.

Auch Lysias Großmut schien langsam überstrapaziert, denn er beachtete Nikarete nicht weiter. Sie verdarb mit ihrer mürrischen Art die Vorfreude und gute Stimmung. „Ihr werdet bei einem Freund von mir untergebracht sein, der im Hafen von Piräus ein Haus hat“, erklärte er, um ein unverfängliches Thema anzuschlagen. Metaneira nickte. Lysias hätte sie aus Rücksicht auf seine Gattin niemals in sein eigenes Haus gebracht. Trotzdem zeigte er sich beflissen, die Frauen auf dem Weg zum Haus des Freundes auf einige Sehenswürdigkeiten hinzuweisen, wie den Tempel des Hephaistos auf der Agora und den beeindruckenden Tempel der Athene auf der Akropolis, der ganz Athen überragte.

„Ich will versuchen, euch während eurer Zeit in Athen so viel wie möglich zu zeigen“, sagte Lysias lächelnd, da die Freude der beiden Mädchen ihm gefiel. „Aber heute sind wir alle zu müde und brauchen nur noch ein gutes Mahl und einen vollmundigen Wein im Haus meines Freundes Philostratos. Er ist wie ich ein Metöke, ein freier Fremder in Athen, aber bekannt für seine Gastfreundschaft.“



Philostratos, ein Mann, der noch keine dreißig Jahresumläufe zählte und demnach noch nicht den Bart der älteren Männer trug, hieß sie herzlich in seinem Haus willkommen. Neaira fühlte sich sofort wohl, denn das helle und nicht überladen eingerichtete Haus spiegelte das Wesen seines Besitzers wieder. Neaira mochte sowohl Philostratos als auch sein Haus, sobald sie es betreten hatte. Nikarete ließ ihre gierigen Augen über die Einrichtung wandern, um den Wohlstand des Besitzers abzuschätzen. Sie schien ein wenig ratlos. Für Nikarete musste Wohlstand sichtbar sein – durch funkelnde Geschmeide, üppige Einrichtung und kostspielige Gewänder. Philostratos schien ihr zu schlicht, um ein reicher Mann zu sein. Neaira musste über ihre plumpe Art der Einschätzung innerlich lachen.

Lysias musste seinen Freund darüber unterrichtet haben, welche Art Frauen er in sein Haus brachte, doch Philostratos ließ sich nichts anmerken und fragte höflich nach, ob die Frauen alleine, wie es für Bürgerinnen üblich war, ihr Mahl in den Frauengemächern einzunehmen wünschten.

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