Vom Lügen und vom Träumen

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Und überhaupt: All die gutgemeinten Ratschläge von anderen – „Nimm dir doch eine kleinere Wohnung. Fang ganz von vorne an. Du wirst doch dauernd an ihn erinnert!“ – Sie zieht die Schuhe von den Füßen, drückt sie an sich. Mit dem feinen Ledergeruch aber atmet sie den Schmerz, der sie versengt, wieder ein, natürlich, wie sollte es auch anders sein, Hannes hatte so eine Jacke, ihre Arme fallen herab, ihre Brust hebt und senkt sich, die Schuhe drücken kalt durch den leichten Nachthemdstoff an ihre Schenkel, alles ist vergiftet rundherum, die Luft, die Gegenstände, allesallesalles – nein, Schluss jetzt, beruhige dich, los, geh schlafen.

Reiß dich zusammen.

An der Tür gähnt Salome, Tränen laufen über ihre Wangen, sie löscht das Licht.

Strafft in der Dunkelheit, der Stille erneut ihren Rücken.

Morgen.

Morgen wird sie sich hinsetzen und überlegen. Eine Strategie überlegen.

Diese Wohnung wird nicht aufgegeben.

Auf keinen Fall.

Nichts rührt sich, auch von der Straße dringt kein Laut herein.

Sie tappt blind über den Flur, öffnet die Schlafzimmertür und schleicht zum Bett. Stellt die Schuhe neben sich auf den Boden.

Salome ist nun so müde, dass sie es gerade schafft, unter die noch warme Decke zu kriechen und sie hochzuziehen.

Und in den wenigen Sekunden des Wegsinkens in den Schlaf hört sie nicht mehr, ob von der anderen Seite Gute Nacht, Schätzchen geflüstert oder ob es still bleiben wird.

Ein ungeheures Lachen über die ganze Welt

Anfang Oktober fuhren Hannes und Doreen zum Attersee, um seine Familie zu besuchen.

Von Wien kommend, wo er einen Vortrag gehalten hatte, wurde ihr Mietauto hinter Regau von einer Sekunde zur nächsten von einer plötzlich aufgetauchten Wattewelt verschluckt, bleich und trüb, keine Straße mehr, geschweige denn Landschaft links und rechts, und keine Berge, wie angekündigt, „die Seen“, lachte Hannes, bremste und starrte wie Doreen ins Nichts nach vorne.

„Achtung“, sagte sie, als aus dem grauen Brei zwei blasse Rücklichter näherkamen, „seh ich doch“, grinste er, tat lässig, „fahr“, forderte sie, „langsamer“.

Er rollte mit den Augen und bremste etwas, sie sah ihn ungläubig von der Seite an und entspannte sich auch nicht, als sie endlich die Ausfahrt erreichten und der Nebel durchlässig wurde, Konturen freigab, farbige Flächen.

„Siehst du“, sagte er, „alles gut“.

Sie sah ein überdimensional großes Einkaufszentrum mit Autos davor, Appartementhäuser, Beton.

Nach vielen Kehren in hügeliger Landschaft, die selbst bei geschlossenen Autofenstern streng roch, hielt Hannes schließlich vor einem Haus mit einem kleinen Vorgarten.

Eine Tür öffnete sich, aus dem Inneren schwangen Gesichter hervor wie Lampions, neugierige Blicke, schüttelnde Hände, es duftete nach Kaffee und „Mehlspeisen“, wie gesagt wurde, Geklimper von Besteck und dem guten Geschirr füllte die Küche, Stühle rücken in einem zu kleinen Wohnzimmer.

Doreen verstand wenig, außer, dass sie in eine Ansammlung lautstark durcheinandersprechender Menschen geraten war.

Niemand schien sich Mühe zu geben, dem oder der anderen zuzuhören.

Der Blick von Hannes’ Mutter streifte sie über den Tisch hinweg, ein Blick aus graublauen Augen hinter Gläsern, den Doreen nicht deuten konnte.

Der Vater hatte etwas Gutmütiges in seinem zerfurchten Gesicht, erzählte offenbar lustige Anekdoten, über die er sich selbst am meisten amüsierte und den Mund beim Lachen so weit aufriss, dass es golden blitzte.

Als die Mutter aufstand, um weitere Gläser zu holen und den Gästen die Kuchenplatte zu reichen, bemerkte Doreen, dass sie eine sportliche Person in Jeans und Pullover war, eine Radfahrerin oder Bergsteigerin mit flottem Kurzhaarschnitt in Grau, sicher fuhr sie auch noch Schi. Früher waren ihre Haare rötlich gewesen, Hannes hatte seine von ihr geerbt.

Ab und zu drangen Wörter zu Doreen durch. Sie entnahm ihnen, dass es ums vergangene Mittagessen, um die unterschiedlichen Kuchen am Tisch und deren Herstellung ging, um den See, um Gärten, um überstandene oder zu befürchtende Krankheiten.

Niemand fragte sie etwas, was ihr recht war, einerseits.

Aber andererseits, vermutete sie nach einiger Zeit, schien das alles hier ein Ablenkungsmanöver zu sein, ja, eine Strategie. Sie aß ein Stück Nussstrudel und verneinte dankend, als ihr die Mutter noch eines von der Schokoladentorte anbieten wollte. Auch den Zwetschgenkuchen musste sie ablehnen, und die Mutter beugte sich wegen des Lärms vor, um zu hören, dass Doreen leider nicht so viel Süßes essen könne. Auch wenn es fantastisch schmecke.

Aha.

Wenn er was sagen dürfe, sagte ein Mensch, der sich als Onkel Rudi vorgestellt hatte, langsam und auf gewisse Weise hochdeutsch, sie solle das bitte jetzt nicht in den falschen Hals bekommen, also: Sie könne sich durchaus einige Kuchenstücke leisten. Bei ihrer Figur.

Er meine wohl die Speiseröhre, antwortete Doreen liebenswürdig, und Onkel Rudi dachte einige Momente zu lange über ihre Antwort nach, sodass sie sich von ihm abwenden und dem Wortschwall von links überlassen konnte. Sie kam aus dem Lächeln nicht mehr heraus, auch, wenn Hannes sich an sie wandte, Dialektworte gebrauchend, die ihm eine eigentümliche Fremdheit verliehen.

Beim Gang zur Toilette musste sie an einer Kommode vorbei, auf der sich Fotos befanden. Sie erkannte den Cousin von Hannes, Clemens. Er machte irgendetwas mit Maschinenbau in Berlin, Frau, zwei Kinder. Sie hatten keine Zeit gehabt zu kommen.

Eines der Fotos war eine Todesanzeige.

Ein schwarzer Engel war darauf abgebildet, ein Name:

„Florian, unser geliebtes Kind“. 1980–1983.

Sie wusste, dass Hannes’ Bruder als Kleinkind an einer Erbkrankheit, dem Tay-Sachs-Syndrom, gestorben war. Ein fernes Ereignis. Aber nun, da sie seinen Namen las, erhielt der kleine Bruder ein Gesicht, das sie berührte.

Das größte Foto in einem Silberrahmen zeigte einen strahlenden jungen Hannes mit einer ebenso heiteren jungen dunkelhaarigen Frau im weißen Brautkleid.

Doreen überlegte, ob das Bild bewusst dorthin gestellt worden war.

Als sie zurückkam, deutete sie ihm, dass sie aufbrechen wolle, bald.

Eigentlich sofort.

Nach geräuschvollen und langwierigen Verabschiedungsszenen, in denen bedauert wurde, dass man „gar nicht zum Reden gekommen“ sei, fuhr Hannes mit ihr die Straße am nun nebelfreien See entlang.

Er benannte die Dörfer, sie sah Bauernhöfe und Pensionen weit hinten zwischen den Hügeln, vor steil abfallenden Bergen, deren Namen sie sofort wieder vergaß. Auf der anderen Seite des Sees, sagte Hannes, lebe ein Fischer, der Dichter sei.

Oder umgekehrt.

Und ein anderer, der eine Buchhandlung führe, habe die Geschichte von Adhara ausgegraben, der Nixe, die den Menschen dieser Gegend in uralten Zeiten Gold, Silber und Edelsteine schenkte.

Aber da sich „die Leit“, so Hannes, „wie immer“ als habgierig erwiesen, verschwand die Nixe eines Tages. Ihr Geschmeide aber streut sie seither in den See, dessen Name sich wohl von ihr herleitet und an dessen Glitzern und Funkeln sich nun alle erfreuen können.

„Ah“, sagte Doreen und suchte zwischen den Mauern der vorüberziehenden Häuser, die den Blick auf den See verstellten, das Geschmeide.

„Ihr Menschen! Ihr Ungeheuer! Ihr Ungeheuer mit Namen Hans!“

Nein. Herrgott. Hannes war froh, dass er nach vorne schauen, das Auto lenken musste. Geh weg.

Aber schon hatte sich ein grauer Sommerhimmel, schieferfarbenes Wasser vor sein geistiges Auge geschoben, Salomes übermütiges Lachen, ihre leidenschaftliche Stimme. Das Bild ihres ersten Besuchs hier am See – und er, eifrig bestrebt, sie mit seiner Adhara-Sage zu beeindrucken. Worauf sie ihm die ersten Sätze aus der Erzählung Undine geht von Ingeborg Bachmann entgegengeworfen hatte.

Er erinnerte sich an seine verliebte Ausgelassenheit, an Salome in ihrem hellen Kleid – dieses Kleid, das um ihre Knie geschwungen war! –, wie sie sich gedreht und mit ausgebreiteten nackten Armen, wehenden schwarzen Haaren, gerufen hatte:

„Ungeheuer bin auch ich!“

Geh, Salome, verdammtnochmal, geh wieder, dachte er, lächelte hinüber zu Doreen, schickte ihr ein Küsschen.

Schließlich bremste er in einem der Orte, parkte, sagte nicht, was er vorhatte. Hinter einem Gasthaus, das geschlossen war, an Campingwägen vorbei, ging er mit ihr Richtung See einen Abhang hinunter.

Ein scharfer Wind wehte vom Wasser her. Darüber grauhelle, riesige Wolkentürme, zwischen denen Himmelslücken leuchteten, in einem, wie Doreen schien, geradezu magischen Blau.

Sie schlang die Arme um die zu dünne Jacke.

Hannes wies auf ein weißes winziges Haus, irgendwie stolz, als gehöre es ihm, Doreen verstand erst, als sie das Schild las:

„Gustav Mahler. Komponierhäuschen.“

„Nein!“, rief sie, „das glaub ich nicht!?“, Hannes strahlte, die Überraschung war perfekt.

Man konnte in das Zimmerchen lugen, in welches das Klavier und ein Hocker passte. Im Sommer könne man sich vom Gasthaus den Schlüssel holen und hineingehen, sagte Hannes.

Und sie müsse versuchen, sich die Wohnwägen wegzudenken, den modernen Anbau des alten Gasthauses, der zu Mahlers Zeit „Gasthof zum Höllengebirge“ geheißen hatte. Eine bunte Wiese müsse sie sich vorstellen und gackernde Hühner, die den Mann am Stutzklavier wahnsinnig gemacht hatten und deshalb verbannt worden waren, der schmächtige Mann, der hier Ende des 19. Jahrhunderts von drei Fenstern aus auf den See geblickt hatte.

 

Das Wasser war nun tiefblau bis dunkelgrau, imposant bewegt, „Frechheit“, sagte Doreen, „das nehme ich jetzt persönlich. Adhara hat nichts gestreut!“

„Unter uns“, zwinkerte Hannes und senkte seine Stimme, als könne ihn jemand anderer hören, „verrate ich dir die Wahrheit: Es ist das Sonnenlicht in Verbindung mit Calzitkristall, das dem Wasser die türkise Farbe und das Gefunkel gibt.“

Er grinste, gab ihr einen Kuss, erklärte, bewegte die Hände.

Sprach über Mahler, der in diesem Häuschen zwei Sommer lang an der 3. Sinfonie gearbeitet und sein Werk in einem Brief als „ein ungeheures Lachen über die ganze Welt“ beschrieben hatte.

Doreen sah ihm bei seinem Bestreben zu, sie abzulenken.

Oder sich.

Es war ihr recht. Was sollten sie schon über diese Familie reden?

Er sei immer ein Fremdkörper in ihr gewesen, hatte er ihr erzählt. Als Jugendlicher wollte er nur weg. Das verband ihn auch mit seinem Cousin Clemens, dem es ebenso ergangen war.

Nur nicht so wie die anderen Jungs in der Fabrik arbeiten oder eine Pension oder einen Bauernhof übernehmen und das ganze Leben an diese Region gekettet sein.

Das verstand Doreen.

Bloß nicht an ein Land, einen Staat oder sonst irgendetwas gekettet sein.

Gut, dass sie an den See gefahren waren. Die Distanz, die sie in seinem Elternhaus ihm gegenüber empfunden hatte, war gewichen, hier, in diesem frischen, kühlen Wind, an diesem Ort.

Beim Zurückgehen zum Auto dachte sie an die Platte, die ihr Vater damals in ihrer Kindheit ergattert hatte, an den Schriftzug:

Jascha Horenstein dirigiert Gustav Mahler 3. Sinfonie.

Aber nein, berichtigte sie sich innerlich, solche Platten hatte es damals nicht gegeben. Nicht bei ihnen in der DDR. Sie war dem Vater sicher geschenkt worden, von irgendjemandem mit Kontakt in den Westen.

Seltsam, sie hatte es vergessen.

Manchmal waren Gegenstände, die anders rochen und aussahen als die üblichen, wie durch Zauberhand in den Haushalt gelangt, Gegenstände, von denen sie und ihre Brüder gewusst hatten, dass sie mit einem Schweigen belegt waren, einem Frageverbot, ohne dass die Eltern dies aussprechen hatten müssen.

Sie erinnerte sich an das Zittern, als ihr Vater die Platte aufgelegt und den Tonarm in die Rille geschoben hatte.

Alles hatte den Atem angehalten, so schien es ihr, alles in jenem Zimmer damals, nicht nur die Eltern und sie und ihre Brüder, mit denen sie auf dem abgeschabten Sofa gesessen hatte, auch die Wände, Lampen, Zierdeckchen auf der Anrichte, der Laminatfußboden, die Bücher in den Regalen der Wohnung in Oranienburg, die Vorhänge, alles schien sich der Kostbarkeit der Situation bewusst gewesen zu sein.

Und mit den ersten Klängen war etwas mit ihr passiert, das sie nie vergessen hatte können, eine Erinnerung, gespeichert wie das Bild der auf dem Holzstuhl aufrecht sitzenden Mutter links neben dem Gerät, die Augen geschlossen in dem müden Gesicht, das umrahmt war von fahlblondem, gewellten Haar, rechts davon der Vater, versunken in seinem kantigen Körper.

Als die letzten Töne verstummt waren, hatte alles im Wohnzimmer geschwiegen, so lange, bis die Brüder ihre Glieder zu strecken und zu schütteln begonnen hatten, und die Eltern aus ihrer Entrücktheit zurückgekehrt waren. Da hatte sich auch Doreen aufgerichtet und nach den „spitzen Schreien“ gefragt.

Die Brüder hatten losgeprustet, die Eltern einander fragend angesehen.

Sie hatten die Platte erneut auflegen müssen, und Doreen, die eine Woche später in die Schule gekommen war, hatte gesagt: „Da.“

Genau das wollte sie spielen können.

Und wie viele Zaubertricks notwendig waren, wurde ihr erst viel später erzählt:

Wirklich war, dass es ein Jahr später in ihr Leben kam, das Cornett.

Und danach die Trompete.

In Salzburg ließen sie das Mietauto stehen, weil die Autobahn nach München wegen eines Unfalls teilweise gesperrt war, sie beschlossen eine Pause zu machen und den Zug zu nehmen.

Doreen ging mit großen Augen im Mirabellgarten umher, und obwohl es kühl war, bedeckt, sagte sie: „Kneif mich mal, das kann doch nicht wirklich sein“, und Hannes lachte und entschied, ihr eine Reise nach Salzburg zu schenken, im Sommer.

Später in der Bahn sah er, wie sie das Buch mit dem Titel Amanda. Ein Hexenroman von Irmtraud Morgner, die ihm ausnahmsweise nichts sagte, aus der Tasche zog, ein Buch, das sie in Berlin begonnen hatte und sie seither immer wieder zum Kichern brachte.

Doch nachdem sich der Großraumwagen mit lederbehosten Männern und jungen Frauen in quietschbunten Synthetikdirndln, deren Röcke kurz unter dem Po endeten, füllte, blieb das Buch ungeöffnet auf ihrem Schoß liegen und landete schließlich erneut in ihrer Tasche.

Der Bierdunst aus den Dosen, der Schweißgeruch störten Doreen auf eine Weise, die sie an sich nicht kannte, und die von derben Sprüchen durchsetzte Umgebung erschien ihr mit einem Mal unangenehm, ja bedrohlich.

Hannes las unbeeindruckt von dem Trubel in seinen Studien, den Laptop auf den Knien, weggekabelt. Ab und zu streifte sie sein Blick, fröhlich und unerreichbar.

Sie war doch sonst nicht so empfindlich –

Erleichterung, als sie in München hielten.

Aber schon befanden sie sich abermals in einer Menschenmenge, mit der gemeinsam sie aus der Bahnhofshalle hinausgespült wurden, hinein in eine Atmosphäre merkwürdig urwüchsiger Leichtigkeit, eine Art gemütlicher Bereitschaft zur Ekstase, von der alle umfangen wurden, sobald sie diesen Boden betreten und diese Luft geschnuppert hatten, etwas anders Aufgekratztes, als es Doreen von Konzerten oder Demonstrationen oder sonstigen Ansammlungen her kannte.

Und nun war alles zu viel. Die intensiven Gerüche, der Lärm, die Nähe der Körper –

Wut stieg in ihr hoch, auf Hannes, der das gewiss wusste.

Sie war zum ersten Mal hier, sie konnte doch nicht ahnen, dass das Oktoberfest bereits in den Zügen begann und vom Bahnhof aus sternförmig alle Straßen, Plätze, umliegenden Biergärten, Parks und Hotels mit Menschen bevölkerte, die wie von einem riesigen schwarzen Loch angesaugt wurden, ein Strömen, ein Wogen von Menschenmassen, je näher man dem geheimen Zentrum kam.

Das in seinem Kern ein grellbuntes, ohrenbetäubend lautes – Doreen stolperte, Hannes fasste ihren Arm, konnte aber nicht verhindern, dass Entgegenkommende sie streiften, einer sogar grob an ihre Schulter stieß.

Grölendes Volk in der U-Bahn, Rucksäcke und Körper bedrängten sie, der Geruch von Leder, Ziege oder Hirsch, heisere Rufe, Rülpser.

„Wie immer“, sagte Hannes in ihr Ohr, „hochinteressant“, ohne Doreen anzusehen, die kaum Luft bekam und über seine Schulter hinweg den flackernden Blick einer älteren Frau auffing, der das Eingezwängtsein wohl ebenso unangenehm war wie ihr.

Sie wollte „Was?“ fragen, aber da tauchte ein sommersprossiges Gesicht unter einem Filzhut neben der älteren Frau auf, öffnete ein herzförmiges Mündchen: „Wie schön Sie sind, Madame!“, und zu Doreens Verwunderung schob sich ein Lächeln über die fransigen Lippen der Frau, weil in den Augen des Mädchens zu erkennen war, dass dieser Satz ernst gemeint war, irgendwie.

Dann, als ihnen Hugo, ein bärtiger Hüne mit offenem Blick, den Hannes schon seit dem Studium kannte, in Neuhausen in der Frundsbergstraße mit dem Spruch „Viel Freund, viel Ehr“ öffnete und sie einander in die Arme fielen und in der Küche Lasagne aßen und Rotwein tranken, fragte sie Hannes, was er mit dem „hochinteressant“ gemeint habe, dem in der U-Bahn.

Er lachte auf.

An München habe ihn immer das Phänomen Oktoberfest fasziniert.

Bevor er hier gelebt hatte, war sie ihm äußerst suspekt erschienen, diese alljährliche, zweiwöchige Zusammenkunft verkleideter Menschenmassen, die stumpfsinnige Schlager grölend, mit überdimensionalen Bierkrügen in den Händen, auf Bierbänken und Tischen tanzten.

„Aber das gibt’s doch auch in Österreich“, wandte Doreen ein.

„Nein“, antwortete Hannes, „nicht in dieser Dimension. Und das ist der entscheidende Unterschied.“

Als er begonnen hatte, das Oktoberfest zu besuchen, war ihm klar geworden, was es mit dieser Tradition auf sich hatte.

„Entgrenzung!“, pflichtete ihm Hugo bei, „Aufgehen in der Masse, Verwischung der Stände, Schichten, Klassen, kein Oben, kein Unten mehr…“

„Mittelalterliche Karnevalskultur! Außerkraftsetzen gesellschaftlicher Regeln, Gesetze, Übereinkünfte!“, rief Hannes.

„Genau! Michail Bachtin“, rief Hugo zurück und stieß sein Glas gegen das seines Freundes:

„Aufs Lachen!“, schrien sie beide.

Und sie lachten.

Das war der Moment, in dem Doreen eine Gesichtshälfte in ihre Handfläche legte und bemerkte, dass ihr übel wurde.

Sie hatte nur einige Male am Wein genippt. In Hugos Bart hing eine Zigarette.

Wer war Michail Bachtin?

Sie wich Hannes’ Blick aus.

Überhaupt München. Sie hätte die Stadt lieber nur gestreift, vom Zugfenster aus beiläufig auf die Glasfassaden und Betonblöcke links und rechts gesehen. Den kurzen Aufenthalt im Bahnhof verdöst, gelesen oder am Handy gespielt. Was hatte sie mit alldem zu tun?

Dieses Bayern konnte ihr gestohlen bleiben.

„Ach, komm. Ich habe Hugo schon so lange nicht mehr gesehen. Außerdem möchte er dich kennenlernen.“

Zum Vergleichen, oder?, hatte sie gedacht, und dann, Na, wenn schon.

Zumindest hatte sie ein Hotelzimmer durchgesetzt.

Diese Zeiten waren für sie endgültig vorbei: Auf herausgezogenen Sofas oder weichen Gästematratzen bei Freunden von Bekannten von Freundinnen schlafen wie in den Tingel-Tangel-Jahren mit ihrer Band.

Nein, sie brauchte mittlerweile Abstand. Privatsphäre.

„Cheers“, sagte er nun.

Sie hob ihr Glas und schüttelte den Kopf, als Hugo ihr nachschenken wollte.

Seit der Trennung von seiner Frau war Hannes schon zweimal hier in München gewesen. Natürlich hatte er beruflich zu tun wegen seiner früheren Praxis und deren Übergabe an einen Kollegen.

Und logischerweise hatte er sich auch mit ihr getroffen.

Selbstverständlich, wegen der gemeinsamen Wohnung.

Sie hatte nie etwas gefragt, wenn er nach Berlin zurückgekommen war. Mit Unbehagen registrierte sie, dass Hugo sich erneut eine Zigarette ansteckte.

Warum sagte Hannes nichts? Noch dazu als Arzt?

Er mochte das doch sonst nicht.

Sie musste raus hier.

Am winzigen Balkon atmete es sich beim ersten Luftholen gleich besser.

Beim zweiten war alles viel zu herb, abgasdurchsetzt, modriger Blättergeruch, Fäulnis rundherum, Doreen sah in den schwarzen Himmel hinauf und dachte, dass das nicht sein könne.

Aber es war nicht zu verdrängen. Diese Überempfindlichkeit war nicht normal.

Sie wollte nun nicht denken, was sie eigentlich schon wusste.

Sie kannte das alles.

Ihr Körper hatte die Erinnerung daran offenbar eingespeichert, eine frühe Erinnerung, eine –

In ihr bäumte sich ein riesiges NEIN auf.

Sie rechnete nach. Konnte es tatsächlich –?

Dieses an alle Gerüche Ausgeliefertsein, dieses Dünnhäutige, diese seltsamen Anwandlungen bedeuteten doch –

Ihre Hände umklammerten das Balkongeländer. Erst später würde sie an ihren Fingern bemerken, dass es rostig war.

Sie vermied es nach unten zu sehen, konzentrierte sich auf die runzligen Blätter des Kastanienbaums vor ihrer Nase.

Und plötzlich schrie sie heiser auf.

Da waren Augen, zwei Meter von ihr entfernt, brennende Augen, eine Figur im Halbdunkel, sitzend in einer Astgabel, etwas wehte sie an, das sie nicht zuordnen konnte, ein namenloser Schrecken, nichts rührte sich, weder der Baum noch die Luft noch sie, und Doreen konnte den Blick nicht wenden, sie war gefangen, konnte sich nicht bewegen, wie mit einem Zauberbann belegt von diesen brennenden Augen, die sie endlos zu fixieren schienen, und schließlich hörte sie kleine, verzweifelte Laute –

„Was ist denn, was hast du?“

Hannes plötzlich neben ihr, besorgt, wollte sie umarmen, sie war steif, sah noch einmal hin, in den Baum hinein, das Kind war weg, der Blick –

„Ist dir kalt?“, fragte er forschend, „komm doch rein“, Hugo hinten, vom Tisch aus, schuldbewusstes Aufblähen der Backen –

„War es der Rauch? Sorry, kommt nicht mehr vor“, Doreen drehte sich, trat mit Hannes zurück in den Raum und sagte:

 

„Mir ist speiübel.“

*

Sie schaffte es noch bis zur Toilette der Pension.

Hannes stand vor der verschlossenen Tür, rief: „Alles in Ordnung? Doreen? Geht’s wieder?!“

Sie spülte den Lasagneschlamm hinunter, stützte sich am Waschbecken ab, sah in ihr mascaraverschmiertes Gesicht. Zwang sich, ihrem Blick im Spiegel standzuhalten, nicht auszuweichen und wischte sich ab.

„Ja“, sagte sie laut, stieg in die Dusche, schrubbte sich das Gefühl, überall schmutzig zu sein, von der Haut.

Mit roten Wangen und feuchten Strubbelhaaren kehrte sie zurück ins Zimmer, das Handtuch um den Körper drapiert.

Hannes saß breitbeinig in einem tiefen altmodischen Sessel, daneben eine kleine Bierflasche auf dem runden Tisch, soeben warf er sich eine Handvoll Nüsse in den Mund.

Sie wusste nicht, was ihr den Atem nahm – sein mahlender Kiefer, die Kaugeräusche, der Salzgeruch oder die Ausdünstungen des Zimmers, in denen sich der Hauch von Putzmittel und jener undefinierbare von Vorhängen mischte, die längst schon hätten gereinigt werden müssen.

Natürlich war es fast aussichtslos gewesen, Oktoberfestzeit – „Da heißt’s schnell sein, sonst bleibt nur mehr der Campingplatz“ –, und Hannes hatte sie ungläubig angesehen, als sie darauf beharrt hatte:

„Nicht bei deinem Freund. Dazu habe ich einfach keine Lust mehr.“

„Du kannst ja richtig stur sein“, hatte er hinterhergeschickt, ohne das jungenhafte Lächeln, das seine Aussagen sonst oft begleitete.

Irgendwie hatte er doch noch diese Pension hier aufgetan, „Glückstreffer!“, wie er Doreen die Übernachtung in München schmackhaft hatte machen wollen, und nun, die Überraschung: „Sogar ein Wasser, ein Bier, Snacks!“

Warum brauchte er jetzt noch Erdnüsse?

Sie versuchte die erneut aufsteigende Übelkeit wegzuatmen.

Drehte sich um, hängte das Handtuch ins Bad. Ekelte sich mit ihren nackten Sohlen vor dem Teppichboden, stieg in Hannes’ Schuhe, die vor ihr lagen, um zum Koffer und somit ihrem Pyjama und den Sandalen zu gelangen.

„Alles wieder in Ordnung?“, wiederholte Hannes kauend.

Sie ließ sich am Bett nieder, zog sich an.

„Ja, jaja“, antwortete sie leichthin, „irgendetwas scheine ich nicht vertragen zu haben…“

Hannes nickte.

„Also, Hugos Lasagne kann es nicht gewesen sein… was hast du heute noch alles gegessen?“

Sie wusste, dass es nicht stimmte: „Ah, in der Bahn. Dieses Sandwich…“

„Der Schinken vielleicht…“

An den wollte sie tatsächlich nicht erinnert werden.

Sie legte ihre Fingerspitzen an die Schläfen.

Hannes starrte auf die leere Bierflasche. Wo kam nur dieser unbändige Durst her? Er ertappte sich bei dem Wunsch, das Zimmer zu verlassen, zurück zu Hugo zu gehen, der vermutlich noch herumzappte und es eine Spitzen-Idee fände, noch ein, zwei Biere miteinander zu trinken.

„Ich glaube, schlafen wird das Beste sein“, sagte Doreen, „gute Nacht“, sie lächelte vage hinüber zu ihm, wartete seine Reaktion nicht ab, sondern knipste das Licht an ihrer Seite aus und schlüpfte unter die Decke, die sie sich bis zu den Ohren hochzog.

*

Hannes betrachtete eine Weile die weiße Hügellandschaft im Bett.

Er war nicht müde, kein bisschen.

Wie gerne hätte er die Nacht von Anfang an bei Hugo verbracht. Doreen hätte bequem im Gästezimmer schlafen können und er und sein bester Freund –

Missmutig warf er die Nusspackung in den Papierkorb. Er schüttelte die Bierflasche, auch sie war leer.

Er dachte an die Termine der nächsten Tage in Berlin, den Kollegen in der Praxis, in die er sofort hatte einsteigen können nach seinem Weggang aus München – Leute wie er waren begehrt –, er nahm sein Smartphone vom Tisch, spielte einige Minuten ein Spiel, das ihn langweilte, sah nach den Nachrichten.

Hugo hatte ihm ein Zeichen geschickt, den nach oben gereckten Daumen. Er konnte sich auf das Wiedersehen, den Abend beziehen.

Oder auf Doreen.

Schließlich ging er ins Bad.

Als er sich neben sie legte, schien sie tief zu schlafen.

Er dachte an die vergangenen fünfzehn Monate, an den Rausch der ersten Zeit, an die Radikalität, mit der sich sein Leben geändert hatte.

Er dachte daran, dass er im letzten Dezember noch in München gewohnt hatte, in seinem alten Leben mit Salome, und Doreen in Berlin währenddessen Verletzte des Anschlags vom Breitscheidplatz versorgt hatte.

Eine absurde Analogie.

„Wohin geht das alles?“, hatte Salome am Küchentisch in der Nimrodstraße beim Ausrollen eines goldenen Bandes gemurmelt, „was ist nur los in dieser Welt?“, es durchgeschnitten und eine Schleife um ein Weihnachtsgeschenk gebunden.

Arschloch, hatte Hannes gedacht, ich bin so ein Arschloch, Salomes Handrücken gestreichelt und gehofft, dass das, was Doreen und ihr Noch-Freund Jon in diesen Tagen erlebten – dieser war, wie sie ihm am Telefon berichtet hatte, Teil der polizeiinternen Untersuchungskommission – keine neue Nähe, kein Aufflammen ihrer Beziehung bewirkte.

Die Toten und Verletzten, das Entsetzen über dieses zweite Terror-Ereignis innerhalb weniger Monate, all das hatte Hannes wie durch einen Schleier registriert.

Und plötzlich dachte er: Diese Reise ist ein Flop.

Sein Herz schlug bis zum Hals hoch. Raus hier.

Er stand rasch auf und versank im Sessel gleich daneben, dessen Stoff an der Unterseite der Schenkel kratzte.

Er rutschte nach vorne, legte die Ellbogen auf seine Knie und starrte auf das Bett, zwang seinen Atem zur Ruhe.

Vielleicht war jener Tag im Frühjahr, an dem er Doreen im Überschwang den Antrag gemacht hatte, ein Fehler gewesen.

Die Zeit damals kam ihm nun wie ein Ausnahmezustand vor, eine permanente Fernsteuerung.

Hatte sich nicht etwas verändert zwischen ihnen?

Seit jener Nacht?

Doreen war beschwipst gewesen in jenem Friedrichshainer Lokal, so wie er, sie hatte die Augen aufgerissen und geflüstert: „Mich? Mich willst du heiraten?“, und dann den Kopf mit ihrem weißen Hals zurückgebogen und gelacht, Tränen gelacht, und sie wäre umgekippt mit dem Barhocker, wäre er nicht aufgesprungen und hätte sie aufgefangen.

Später im Taxi hatte sie gekichert: „Stimmt! Stimmt eigentlich. Warum nicht!“, und nachdem sie ihm das Versprechen abgenommen hatte, „nur zu zweit, weit weg von Deutschland!“ sowie „auf keinen Fall mit Familie!“, sondern mit Trauzeugen „von der Straße“ zu feiern, er eingewilligt hatte, weil ihm alles – ausgenommen ihr „Ja“ – unwichtig erschienen war, hatte sie danach ihre Brüder angerufen, jeden einzeln, mitten in der Nacht, und ins Telefon hineingerufen:

„Ich werde heiraten! Verstehst du? Dodo kommt nun doch unter die Haube!“

Dodo, ihr Kindername.

Als er sie gefragt hatte, ob sie wisse, dass Dodo der Name eines flugunfähigen Vogels auf Mauritius gewesen war, hatte sie den Kopf schräg gelegt und festgestellt: „Gibt es eigentlich irgendetwas, das du nicht weißt…“

Und weil er nur die Achseln gezuckt und sich einen gelehrten Spruch verkniffen hatte, hatte sie hinterhergeschickt, dass der Name hervorragend passe: Eigentlich komme sie ja von einer Insel, auf der man flugunfähig gewesen war.

Und das gefalle ihr auch: Dass der Name ihrer Band – „DodoQuintett“ – etwas mitmeinte, das „auf immer verloren“ war.

Doreen und ihre Brüder.

Älter als sie, rundliche Typen mit Köpfen, die jedes Stadium männlichen Haarverlusts zeigten, die sich aber so ähnlich sahen, dass sie an jenem Abend für Hannes nicht zu unterscheiden waren. Sie wechselten zwischen Posaune, Cello, Kontrabass, Saxophon und Klavier, mittendrin diese Elfe in Jeans, hellem T-Shirt, Sneakers, die blonden Haare kurz wie ein Junge, mit ihrer blitzenden Trompete.

Alles lief über winzige Bewegungen, Blicke, Gesten, eine sich blind vertrauende Gemeinschaft, wie auch in diesem vollen Saal, über Hunderte Köpfe hinweg, zu erkennen war.

Brennender Cool Jazz vom Feinsten.

Am Abend des Kongresses in Berlin, an jenem 22. Juli 2016, bildete das DodoQuintett das Kulturprogramm, und als Hannes nach einem anstrengenden Tag die ersten Töne aus der Trompete hörte, verschränkte er die Arme vor der Brust, wie um etwas abzuwehren.

Als einer der Organisatoren der Veranstaltung musste er später durch die begeisterte Menge hindurch, um sich bei der Band zu bedanken, er schüttelte die nassen, erstaunlich feingliedrigen Hände der Männer hinter der Bühne, „Allet klar“, sagte der eine, „Ham wa jern jemacht“, der nächste, und dann stand er vor der Trompeterin, die gerade einen kräftigen Schluck aus einer Bierflasche nahm.

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