Klausurenkurs im Bürgerlichen Recht II

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Fall 3 Straßenbahn › Überblick

Überblick

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Der Sachverhalt ist einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 1998 nachgebildet.[1] Zu prüfen sind die Ansprüche des verletzten Studenten A gegen zwei Personen: den Fahrer der Straßenbahn (F) und die Betreibergesellschaft (S-AG). Das Oberlandesgericht Köln, dessen Urteil Gegenstand der Revisionsentscheidung des BGH war, bejahte diese Ansprüche weitgehend.[2] Dagegen tendierte der BGH eher zu einer fast vollständigen Abweisung der Klage, von Ansprüchen aus Gefährdungshaftung nach dem Haftpflichtgesetz vielleicht abgesehen. Der BGH verwies die Sache zur erneuten Entscheidung an das OLG Köln zurück.[3] Dieses bejahte die Ansprüche mit Urteil vom 24.1.2000 erneut, allerdings lediglich in geringerem Umfang und mit anderer Begründung.[4]

Im Zentrum des Falls steht die Verkehrssicherungspflicht im deliktischen, bei der S-AG auch im vertraglichen Bereich. Eine Verkehrssicherungspflicht obliegt sowohl F als auch der S-AG. Die jeweiligen Pflichten sind indes nicht völlig inhaltsgleich. Die S-AG muss sich gegebenenfalls ein Fehlverhalten ihres Arbeitnehmers F zurechnen lassen. Deshalb liegt es nahe, mit den Ansprüchen gegen F zu beginnen. Generell ist es empfehlenswert, zunächst die Ansprüche gegen eine unmittelbar handelnde Person zu prüfen, bevor man sich Fragen der Haftungszurechnung zuwendet, um unübersichtliche Inzidentprüfungen zu vermeiden. Die Frage, ob eine Pflicht verletzt wurde, setzt eine sorgfältige Auseinandersetzung mit den Informationen im Sachverhalt voraus. Die Qualität der Fallbearbeitung steht und fällt mit dem argumentativen Geschick der Studierenden.

Bejaht man eine Verkehrssicherungspflichtverletzung des F und/oder der S-AG, schließt sich die Frage nach der Ursächlichkeit an. Da die Pflichtverletzung in einem Unterlassen liegt, muss geklärt werden, ob das pflichtgemäße Verhalten den Unfall und die Verletzungen des A hätte verhindern können. Schließlich ist auf die eher entlegene Anspruchsgrundlage im Haftpflichtgesetz einzugehen. Da zivilrechtliche Nebengesetze im Allgemeinen nicht zum Pflichtstoff für die erste Staatsprüfung gehören, sind vertiefte Kenntnisse nicht zu erwarten. Wegen des ausdrücklichen Bearbeitungshinweises auf die einschlägigen Normen im Haftpflichtgesetz kann von den Bearbeitern aber verlangt werden, dass sie sich zumindest mit dem Gesetzestext auseinandersetzen. Schließlich stellen sich weitere Fragen zum Anspruchsinhalt, insb. zur Ersatzfähigkeit von Besuchskosten naher Verwandter, bei denen der Grundsatz der Nichtersatzfähigkeit von Drittschäden durch verschiedene Argumentationsstränge umgangen werden kann.


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Anmerkungen

[1]

BGH NJW 1999, 573 f.

[2]

OLG Köln VersR 1998, 252 f.

[3]

Vgl. zu diesem Vorgehen, welches im Revisionsverfahren die Regel darstellt: Musielak/Voit-Ball, ZPO, § 563 Rdnr. 2 ff.

[4]

OLG Köln VersR 2000, 1383 f.

Fall 3 Straßenbahn › Gliederung

Gliederung

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I. Ansprüche des A gegen F
1. Anspruch auf Schadensersatz aus § 823 I BGB
a) Rechtsgutsverletzung
b) Verkehrssicherungspflicht
aa) Allgemeine Verkehrssicherungspflicht
bb) Verkehrssicherungspflicht aus der Dienstanweisung
c) Haftungsbegründende Kausalität
d) Zurechnung
e) Mitverschulden
f) Inhalt des Schadensersatzanspruchs
aa) Heilbehandlungskosten und Geldrente
bb) Schmerzensgeld
cc) Aufwendungen und Verdienstausfall der Mutter
2. Anspruch auf Schadensersatz aus § 823 II BGB i. V. m. § 229 StGB
II. Ansprüche des A gegen die S-AG
1. Anspruch auf Schadensersatz aus § 280 I 1 BGB
a) Schuldverhältnis
b) Pflichtverletzung
2. Anspruch auf Schadensersatz aus § 823 I BGB
3. Anspruch auf Schadensersatz aus § 831 BGB
4. Anspruch auf Schadensersatz aus §§ 1, 6 HaftPflG

Fall 3 Straßenbahn › Lösungswege

Lösungswege
I. Ansprüche des A gegen F
1. Anspruch auf Schadensersatz aus § 823 I BGB

A könnte einen Anspruch auf Ersatz des ihm entstandenen Schadens nach § 823 I BGB haben.

a) Rechtsgutsverletzung

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Die Verbrennungen, die er erlitten hat, stellen sowohl eine Körperverletzung (Eingriff in die körperliche Integrität) als auch eine Gesundheitsschädigung (Störung innerer Lebensvorgänge) dar.

b) Verkehrssicherungspflicht

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F hat die Verletzungen des A nicht durch aktives Tun verursacht. Das haftungsbegründende Verhalten bei § 823 I BGB kann jedoch auch in einem Unterlassen liegen.[1] Eine Unterlassung kann einem pflichtwidrigen Tun aber nur dann gleichgestellt werden, wenn eine Rechtspflicht zur Abwendung des Erfolgs, also zur Verhinderung der Rechtsgutsverletzung bestand.[2] Zudem muss die Vornahme der gebotenen Handlung den Schaden auch verhindern können.[3] Diese Rechtspflicht wird als Verkehrs- oder Verkehrssicherungspflicht bezeichnet.

 

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Vertiefungs- und Aufbauhinweis:

Die Prüfung von Verkehrspflichten bereitet Studierenden immer wieder Schwierigkeiten, was unter anderem daran liegt, dass die genaue Verortung, Bedeutung und das Verständnis der Verkehrspflichten extrem umstritten sind.[4] Gleichwohl ist unbestreitbar, dass die Verkehrspflichten eine zentrale Rolle im Deliktsrecht einnehmen und für die Gerichtspraxis schlicht unverzichtbar geworden sind. In den Verkehrspflichten kommt ein allgemeiner Grundsatz zum Ausdruck, der die Verantwortlichkeit für einen eingetretenen Schaden sowohl begründen als auch begrenzen soll.[5] Es geht letztlich um die Begründung von Sorgfaltspflichten und deren Umfang.[6] Bedeutung haben die Verkehrspflichten daher in den Fällen, in denen sich die Handlungspflicht nicht von selbst ergibt, mithin bei Unterlassungen und mittelbaren Verletzungshandlungen.[7] Eine der praktischen Schwierigkeiten für Studierende besteht bereits darin, dass umstritten ist, an welcher Stelle die Verkehrspflichten zu prüfen sind. Neben sehr speziellen Ansichten, nach denen Verkehrspflichten nicht einmal Teil von § 823 I BGB sein sollen,[8] finden sich Auffassungen, nach denen sie im Tatbestand oder im Rahmen der Rechtswidrigkeit und gegebenenfalls davon unabhängig nochmals bei Prüfung des Verschuldens angesprochen werden sollen.[9] Welchem Prüfungsaufbau gefolgt wird, sollte für den Erfolg einer Klausur oder Hausarbeit unerheblich sein, solange dem gewählten Aufbau konsequent nachgegangen wird. In dieser Falllösung wird das Vorliegen einer Verkehrspflicht als Begründung für den Vorwurf des Unterlassens bereits im Tatbestand erörtert.[10] Unabhängig von der Entscheidung der Aufbaufrage ist bei Prüfung der Verkehrspflichtverletzung zunächst eine Verkehrspflicht zu begründen und deren Umfang zu konkretisieren. Noch immer findet sich häufig die (vereinfachende) Formel, deliktisch relevante Handlungspflichten ergäben sich aus Gesetz, Vertrag oder vorangegangenem Tun (Ingerenz). Allerdings hat sich die tatsächliche Rechtsentwicklung von dieser Beschreibung sehr weit entfernt.[11] Den Studierenden kann diesbzgl. nur geraten werden, in ihrem Studium neben einschlägiger Literatur auch die Rechtspraxis in Form von Urteilen zur Kenntnis zu nehmen, um anhand dieser Muster die Argumentationstechnik zur Begründung bzw. Ablehnung von Verkehrspflichten zu erlernen.[12]

Zur Begründung einer Handlungspflicht des F kommen vorliegend zwei Ansätze in Betracht: eine allgemeine Verkehrspflicht gegenüber hilflosen Personen und eine besondere Verkehrspflicht, deren Begründung in der Dienstanweisung der S-AG liegen könnte.

aa) Allgemeine Verkehrssicherungspflicht

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Nachdem A dem F zu erkennen gegeben hatte, dass er zu weit gefahren war, ließ ihn F im Waggon sitzen, ohne sich weiter mit ihm zu beschäftigen. Als Fahrer einer Straßenbahn im öffentlichen Verkehr muss sich F um erkennbar hilfsbedürftige Personen kümmern, die sich in dieser Bahn aufhalten. Dies ergibt sich mittelbar aus der Verkehrspflicht, die originär der Betreibergesellschaft obliegt. Die S-AG betreibt einen Verkehr, bei dem sie alle entstehenden Gefahren ausschließen bzw. so gering wie möglich halten muss.[13] Diese Pflicht kann sie teilweise auf ihre Angestellten delegieren, so dass sie selbst nur noch eine allgemeine Überwachungspflicht trifft. F tritt dadurch kraft vertraglicher oder auch faktischer Übernahme in die delegierte Pflicht seines Arbeitgebers ein.

Fraglich ist, ob F diese Pflicht verletzt hat. Immerhin ist er durch die Waggons gegangen und hat den schlafenden A geweckt und angesprochen. Genau dieses Verhalten hat das OLG Köln in seiner ersten Entscheidung von einem sorgfältigen Straßenbahnfahrer gefordert.[14] Besonders nachts, wenn nur noch wenige Fahrgäste unterwegs sind, bedarf es nach Ansicht des OLG einer Kontrolle auch der hinteren Wagenteile, um festzustellen, ob Gefahrenquellen für hilflose Personen ersichtlich sind. Es sei damit zu rechnen, dass gerade betrunkene Fahrgäste nicht angemessen auf Gefahren reagieren könnten.

Im rechtlichen Ausgangspunkt bestätigte der BGH die allgemeinen Kontroll- und Überwachungspflichten von Straßenbahnfahrern.[15] Er stellte auch fest, dass eine erhöhte Aufmerksamkeit zu fordern sei, wenn eine schlafende Person an der Endhaltestelle sitzen bleibe. Wenn aber keine weiteren, konkreten Anhaltspunkte für eine gefährliche Lage ersichtlich seien, müsse der Fahrer nichts Weiteres unternehmen.

Somit ist zu prüfen, ob von F ein weitergehendes Verhalten zu fordern war. Dies wäre dann der Fall, wenn A erkennbar hilfsbedürftig war und eine gefährliche Situation als vorhersehbar betrachtet werden muss. An diesem kritischen Punkt ist auf den konkreten Sachverhalt einzugehen:

A wies eine Blutalkoholkonzentration von 2,5 Promille auf. Dies bedeutet aus medizinischer Sicht, dass bei einem nicht sehr alkoholgewöhnten Menschen bereits eine Alkoholvergiftung vorliegt. Die hochgradige Trunkenheit des A war angesichts der lallenden Sprache und allgemeinen Verhaltensweise offensichtlich. Auch hatte F einige Mühe, den A überhaupt aufzuwecken.

Ein hochgradig betrunkener und übermüdeter Mensch ist einem deutlich erhöhten Unfallrisiko ausgesetzt. In einer menschenleeren Straßenbahn kann er während der Fahrt oder beim Aussteigen leicht zu Fall kommen. Dass F den späteren konkreten Unfallhergang (Brand) möglicherweise nicht vorhersehen konnte, ist im Rahmen der Prüfung der Verkehrssicherungspflicht unerheblich.

Eine zumutbare Handlungsmöglichkeit zur Abwendung etwaiger Gefahren war verfügbar. Der Fahrer hätte den betrunkenen A auffordern können, sich mit ihm in den vordersten Wagenteil zu begeben, um ihn im Auge behalten zu können. Denkbar wäre auch gewesen, über Funk die Polizei oder den Rettungsdienst zu verständigen. An Karneval dürften Polizei und Einsatzdienste im Raum Mainz zwar überaus beansprucht sein, so dass die Erfolgsaussicht eines solchen Vorgehens womöglich zweifelhaft erscheinen könnte, dies spricht aber nicht gegen einen entsprechenden Versuch. Das alles deutet auf das Vorliegen einer Verkehrssicherungspflichtverletzung hin.

Andererseits war A immerhin ansprechbar. Er vermochte – wenn auch mit sichtlicher Mühe – zu reagieren. Undeutlich, aber nachvollziehbar erklärte er dem Fahrer, dass er seine Haltestelle verpasst hätte. Demnach lag es keineswegs fern, dem A weiteren Aufenthalt in der Bahn zu gewähren, bis die Rückfahrt, die in wenigen Minuten bevorstand, beginnen würde. Es lässt sich gut hören, dass die konkrete Situation nicht erkennbar gefährlich gewesen war und F davon ausgehen konnte, dass A über das Wachrütteln hinaus keiner weiteren Hilfe bedurfte. Darauf ließe sich zwar erwidern, dass zumindest die Möglichkeit bestand, dass A alsbald wieder einschlafen und wiederum bis zur Endhaltestelle weiterfahren würde. Dies würde für A jedoch keinen sonderlichen Schaden darstellen.

Eine Verletzung der allgemeinen Verkehrspflicht des A, sich um hilfsbedürftige Personen zu kümmern, kann deshalb ebenso gut bejaht wie auch verneint werden.

bb) Verkehrssicherungspflicht aus der Dienstanweisung

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Eine Haftung des F könnte sich ferner aus der Verletzung seiner speziellen Dienstpflichten aus seinem Anstellungsverhältnis ergeben. Die Dienstanweisung verlangt von den Fahrern, an der Endhaltestelle in den Waggons verbleibende Fahrgäste zum Verlassen der Bahn aufzufordern. Man kann vertreten, dass F dies nicht mit hinreichendem Nachdruck getan habe. Er hat A zwar mit einiger Mühe wachgerüttelt und auf die Endhaltestelle hingewiesen, aber nicht darauf bestanden, dass A die Bahn verlässt.

Legt man die Dienstanweisung allerdings teleologisch aus, ist fraglich, ob F im konkreten Fall tatsächlich eine entsprechende Pflicht traf. Es erscheint stattdessen fast unzumutbar, von einem Fahrgast, der seine Haltestelle „verschlafen“ hat, in einer kalten Februarnacht zu verlangen, die Bahn zu verlassen, um sie für die Rückfahrt nach wenigen Minuten erneut zu besteigen.

Im konkreten Fall könnte das sogar den strafrechtlichen Tatbestand der Aussetzung gem. § 221 StGB[16] erfüllen und wäre angesichts der Möglichkeit von Erfrierungen und anderen Verletzungen jedenfalls grob sorgfaltswidrig.

Selbst wenn man die Verletzung der Dienstanweisung bejaht, bleibt fraglich, ob die Rechtsgutsverletzung in den Schutzbereich dieser Anweisung fällt. Hierzu müsste mittels Auslegung geklärt werden, warum die Fahrgäste zum Verlassen der Straßenbahn aufgefordert werden sollen. Der BGH hat im Originalfall insoweit an das OLG zurückverwiesen, um den Sachverhalt weiter aufzuklären.[17] Das OLG Köln hat daraufhin festgestellt, dass die Anweisung der Kölner Verkehrsbetriebe, von der die hier verwendete in entscheidenden Details abweicht, auch den Schutz aller Fahrgäste vor Gefährdungen bezweckt.[18]

Die fiktive Dienstanweisung im Sachverhalt führt auf, dass Ortsunkundige auf das Erreichen der Endhaltestelle hingewiesen werden sollen. Dies trifft die vorliegende Situation offenkundig nicht. Aber auch der Fall einer missbräuchlichen Rundfahrt liegt nicht vor. A ist versehentlich eingeschlafen. Er wollte nicht über seinen Heimweg hinaus in der Bahn sitzen bleiben, wie das bei Obdachlosen der Fall sein mag, die in der kalten Jahreszeit möglichst lange in einer beheizten Straßenbahn zubringen wollen.

Die in der Dienstanweisung angesprochenen Gründe sprechen vorliegend gegen eine weite Erstreckung des Schutzbereichs. Es geht der S-AG offenbar vorrangig darum, missbräuchliches Verhalten zu verhindern. Dazu gehören neben den Rundfahrten auch Vandalismus und mutwillige Verschmutzung der Waggons. Mit einem solchen Verhalten ist zwar bei Betrunkenen grundsätzlich zu rechnen, hier geht es aber um Gefahren, denen die Betrunkenen selbst ausgesetzt sind und nicht um Beschädigungen an der Bahn. Gewichtige Gründe sprechen deshalb gegen die Annahme einer Verletzung der Verkehrssicherungspflicht aufgrund der Dienstanweisung.

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Hinweis zum Aufbau:

Auch wenn hier eher dazu tendiert wird, eine Verkehrssicherungspflichtverletzung des F zu verneinen, wird die Lösung aus didaktischen Gründen an dieser Stelle im Sinne der ebenso gut zu vertretenden Gegenmeinung fortgeführt. In einer Klausur wäre ein anderer Aufbau erforderlich: Lehnt man eine Verkehrssicherungspflichtverletzung des F ab, ist die Prüfung von Ansprüchen gegen ihn beendet. Die Lösung ist mit den Ansprüchen gegen die S-AG fortzusetzen. Kommt man auch dort nicht über den objektiven Tatbestand hinaus, bietet es sich an, die Fragen des Mitverschuldens und des Anspruchsinhalts im Rahmen eines Hilfsgutachtens zu erörtern. Der Sachverhalt verlangt insb. nach einer Auseinandersetzung mit den Aufwendungen der Mutter des A.

c) Haftungsbegründende Kausalität

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Bejaht man eine Pflichtverletzung, ist zu prüfen, ob diese für die eingetretene Rechtsgutsbeschädigung des A auch kausal geworden ist. Besteht das Verhalten des Schädigers in einem Unterlassen, spricht man von Quasi-Kausalität. Unter Abwandlung der Äquivalenztheorie ist dann zu fragen, ob der Erfolg mit hinreichender Wahrscheinlichkeit entfallen wäre, wenn man die gebotene Handlung hinzudenkt.[19] Hätte F darauf bestanden, dass A den Zug verlässt, hätte sich dieser nicht in gleicher Weise auf den Zeitungen zur Ruhe legen können. Der Brand und die Verletzungen wären aller Wahrscheinlichkeit nach verhindert worden. Das Unterlassen ist somit als kausal anzusehen.

d) Zurechnung

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Bejaht man ein pflichtwidriges Unterlassen, so ist auch die Rechtswidrigkeit der Verletzungshandlung anzunehmen. Vorgezeichnet ist dann zugleich die Annahme einer Fahrlässigkeit i. S. v. § 276 II BGB. Das Verschulden des F ist auch kausal für den Schaden des A. Gleichwohl kann man die Frage aufwerfen, ob ihm die Rechtsgutsverletzung im haftungsrechtlichen Sinn zurechenbar ist. Der Brand entstand erst durch die Verkettung unglücklicher Umstände. Dazu haben sowohl A selbst als auch ein unbekannter Dritter, der den Zigarrenstummel auf den Boden der Straßenbahn warf, erheblich beigetragen.

 

Dieses gefahrträchtige Verhalten führt aber nicht zu einem Ausschluss der Zurechnung. Der Schädiger kann sich seiner Haftung grundsätzlich nicht entziehen, nur weil andere Personen und der Geschädigte selbst ebenfalls Ursachen für den Schaden gesetzt haben.[20] Ein Fehlverhalten Dritter unterbricht den Zurechnungszusammenhang in der Regel nicht. Nur bei vorsätzlichem Verhalten des Dritten oder des Geschädigten wird ein sogenanntes Regressverbot diskutiert.[21] Aus der Mitverursachung der Verletzung durch einen Dritten kann sich lediglich eine zusätzliche Haftung dieses Dritten ergeben, der dann gegebenenfalls mit F als Gesamtschuldner nach § 840 BGB haftet. Da die Identität des Rauchers unbekannt ist und die Haltestelle menschenleer war, erscheint eine Verfolgung der Ansprüche gegen diesen aber von vornherein aussichtslos.

Vgl. zum Dazwischentreten des Verhaltens Dritter den Fall 6 „Erkerzimmer“.

Für die Zurechnung ist ferner erforderlich, dass die Rechtsgutsverletzung adäquat ist. Da der Geschehensablauf jedenfalls nicht außerhalb jeder Lebenserfahrung ist, kann dies ohne längere Ausführungen bejaht werden.

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Vertiefungshinweis:

Das Adäquanzkriterium dient der Rechtsprechung als Einschränkung der „naturwissenschaftlichen“ Kausalität nach der Äquivalenztheorie. Hintergrund ist letztlich, dass die Haftung für Schäden ein unübersehbares Maß annehmen könnte, wenn man Personen für all das verantwortlich macht, was man naturwissenschaftlich als Folge ihres Handelns betrachten kann.[22] Die Adäquanztheorie wird unterschiedlich formuliert.[23] Die gängigste Formel lautet: „Das Ereignis muss im Allgemeinen und nicht nur unter besonders eigenartigen, unwahrscheinlichen und nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge außer Betracht zu lassenden Umständen geeignet sein, einen Erfolg der eingetretenen Art herbeizuführen.“[24]

Studierende, insb. Anfänger, überschätzen die Reichweite dieser Einschränkung der Äquivalenztheorie regelmäßig. Nach der Rechtsprechung ist eine objektive, nachträgliche Prognose über die Gefahrenlage abzugeben. Dabei sollen alle einem optimalen Betrachter zum maßgeblichen Zeitpunkt erkennbaren Umstände berücksichtigt[25] und alles zur Verfügung stehende Erfahrungswissen herangezogen werden.[26] Adäquate Kausalität wurde etwa angenommen bei Impfschäden, obgleich die Schadenswahrscheinlichkeit geringer als 0,01 % war.[27] Es handelt sich hier um ein Kriterium zur Bestimmung der äußersten Grenzen der Zurechnung (ein unterhaltsames Beispiel: Verletzung einer aufgeschreckt vom Kratzbaum springenden Hauskatze durch nächtlich eingehendes Fax ist kein adäquat kausaler Ursachenzusammenhang[28]).

In der Literatur wird die Adäquanzprüfung mit gewichtigen Argumenten teilweise als vollkommen überflüssig angesehen.[29] Sie sei zur Begrenzung der Haftung kein sinnvolles Kriterium,[30] die Rechtsprechung habe kein einheitliches Modell der Adäquanz entwickeln können, und die wenigen Fälle, die mit diesem Kriterium gelöst würden, ließen sich auch durch entsprechende Anwendung der Lehre vom Schutzzweck der Norm bewältigen.[31] Die dogmatisch gewichtigen Argumente der Gegner der Adäquanztheorie sind in einer juristischen Klausur jedoch in aller Regel entbehrlich. Ob eine Haftungseinschränkung für einen konkreten, bei Zweifeln an der Adäquanz ohnehin mit Ausnahmecharakter versehenen Vorgang über die Adäquanztheorie oder über die Lehre vom Schutzzweck der Norm erfolgt, hat kaum praktische Bedeutung und kostet im Zweifel dringend anderweitig benötigte Bearbeitungszeit. Zudem sprechen praktische Erwägungen durchaus für eine Beibehaltung der tradierten Kriterien von mittlerweile mehr als 100 Jahren Rechtsprechung.[32]