Macht in der Sozialen Arbeit

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Wenden wir uns vor diesem Hintergrund nun der Frage nach dem Phänomen der Macht zu und bedenken, dass Kognition als informationell geschlossenes System Informationen konsequenterweise nur innerhalb des Systems generieren kann und es nicht möglich ist, Informationen von außen in ein geschlossenes System zu transportieren. Wie aber kann dann auf ein solches System zielgerichtet Einfluss genommen werden? Wie kann ein solches System überhaupt extern gesteuert werden?

Genau diese Möglichkeit der externen Steuerung oder, mit den Worten von Paul Dell, die Möglichkeit zu „instruktiven Interaktionen“22 wurde im radikal-konstruktivistischen Diskurs als wesentliches Charakteristikum von Macht beschrieben. In Folge dessen scheint es eine geradezu zwingende Konsequenz radikal-konstruktivistischer Theorienbildung, die Möglichkeit von Macht zunächst generell zu verneinen. Immerhin hat in diesem Sinne – und für diesen Diskurs grundlegend – Dell die Möglichkeit zur „instruktiven Interaktion“ als Mythos ausgewiesen.

Wie oder ob überhaupt ein Lebewesen auf eine Perturbation23 reagiert, wird ausschließlich durch dessen innere Strukturen bestimmt. Interaktionen können zwar Perturbationen auslösen, sie können aber nicht die inneren Strukturen des Systems und damit das Reagieren des Systems bestimmen. Diese Position vertritt ähnlich auch Heinz von Foerster, der Menschen (und Lebewesen überhaupt) in Abgrenzung zu trivialen Maschinen beschreibt.24 Während die Reaktionen trivialer Maschinen determinierbar und somit auch vorhersagbar sind, zeichnen sich Menschen gerade durch das Fehlen dieser Berechenbarkeit aus. Mit den Worten Heinz von Foersters:

„… eine triviale Maschine koppelt in deterministischer Weise einen bestimmten Inputzustand mit einem bestimmten Outputzustand, oder, in der Sprache der naiven Reflexologen, einen bestimmten Stimulus mit einer bestimmten Reaktion.”25

Im Gegensatz dazu werden Menschen durch ihre inneren Zustände determiniert, was die Möglichkeit externer Steuerung undurchführbar erscheinen lässt.

Somit scheint konstruktivistisch folgende Argumentation naheliegend: Unter der Annahme, dass Macht mit der Möglichkeit zu instruktiven Interaktionen gleichgesetzt wird und instruktive Interaktionen konstruktivistisch als unmöglich gelten, folgert daraus, dass Macht nicht möglich sein kann. Ganz in diesem Sinn argumentiert nun Portele, dass es Macht aus den genannten Gründen eigentlich nicht geben kann und dass das, was wir als Phänomene der Macht beobachten, nur dadurch entsteht, dass sich die Ohnmächtigen unterwerfen. Diese Annahme sieht Portele auch schon bei Weber artikuliert. Max Weber definiert Macht bekanntermaßen wie folgt:

„Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“26

Dieses Zitat aufgreifend verweist Portele nun darauf, dass Weber im Kontext der zitierten Stelle Herrschaft als „Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“,27 definiert. Von besonderer Bedeutung ist dabei für Portele, dass Befehle nicht durchgesetzt oder erzwungen werden müssen, sondern dass „Gehorsam“ zu „finden“ sein muss. Es gilt also die Bereitschaft zu Gehorsam zu nutzen. Herrschaft ist folglich nur möglich, wenn der Beherrschte sie zulässt, sie ist nur möglich, wenn ein „Minimum an Gehorchenwollen, also Interesse am Gehorchen“,28 vorhanden ist. Somit scheint es, als würde die Möglichkeit der Herrschaft nicht von der Entscheidung der Herrschenden abhängen, sondern von der Entscheidung der Beherrschten. Und ganz in diesem Sinne überträgt Portele diese Überlegung auf das Phänomen der Macht, wenn er formuliert:

„Ohne die Bereitschaft zur Unterwerfung, zur Knechtschaft, kann Macht nicht ausgeübt werden.“29

Und weiter konkretisiert er:

„Unterwerfung ist, aus eigenem Willen den eigenen Willen aufgeben. (…) Unterwerfung ist ein autonomer Akt. Auf diese autonome Entscheidung den eigenen Willen aufzugeben, ist der Machtausübende angewiesen. Ohne diese Aufgabe des eigenen Willens kann er keine Macht ausüben.“30

Lassen wir jetzt einmal die Frage außer Acht, ob es nicht Gründe für die autonome Aufgabe des eigenen Willens geben kann, die nicht von den sich Unterwerfenden zu verantworten wären. Diskutieren wir an dieser Stelle stattdessen die grundlegende Frage, ob es überhaupt sinnvoll ist, Macht ausschließlich mit der Möglichkeit der instruktiven Interaktionen gleichzusetzen. Hierbei soll auch der Frage nachgegangen werden, ob denn aus der informationellen Geschlossenheit menschlicher Kognition tatsächlich gefolgert werden muss, dass Macht nur ein Mythos und eine soziale Illusion ist und dass Ohnmacht ausschließlich die Ohnmächtigen selbst zu verantworten haben.

Zur Klärung dieser Frage sollen nun Möglichkeiten von Macht skizziert werden, die es auch vor dem Hintergrund systemischer und konstruktivistischer Überlegungen geben kann. Wesentlich ist hierbei zweierlei: Erstens ist die Differenzierung in zwei Bereiche der Wirksamkeit von Macht relevant, nämlich in a) den Bereich informationell geschlossener Operationen und b) den Bereich struktureller Koppelung in der Interaktion von autonomen Systemen. Zweitens ist die Differenzierung der Kategorie Macht erforderlich, nämlich in a) die Möglichkeit zu instruktiven Interaktionen und b) die Chance zur Reduktion von Möglichkeiten.

Entscheidend für diese Perspektive ist dabei, dass ich zwar an dem Paradigma kognitiver Selbstreferentialität festhalte, aber dennoch Möglichkeiten der Macht begründe, die nicht von den Ohnmächtigen zu verantworten sind. Die folgende Argumentation ist also mit dem auch radikal-konstruktivistisch grundlegenden Paradigma vereinbar und geht davon aus, dass es nicht möglich ist, durch Machtprozesse Kognition strukturell zu determinieren – nur ist es eine Überziehung, daraus zu folgern, dass Menschen unbegrenzt eigenverantwortlich für die subjektive Konstruktion ihrer Lebenswirklichkeit sind.

Auf Basis der angenommenen „Doppelbindung menschlicher Strukturentwicklung“31 ist es möglich, am Paradigma der kognitiven Selbstreferentialität festzuhalten und dennoch ein Machtmodell zu entwickeln, mit dem Machtkategorien benannt werden können, deren Wirksamkeit unabhängig vom Eigensinn eines Menschen ist. Entscheidend ist dabei die Differenzierung des Begriffs der Macht selbst in instruktive Macht und destruktive Macht.32 Zur Illustration sei ein drastisches Beispiel erlaubt: Stellen wir uns vor, Person A zielt mit einem geladenen Revolver auf die unbewaffnete Person B. Auf den ersten Blick scheinen hier die Machtverhältnisse recht eindeutig geklärt. Möchte Person A „den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchsetzen“, so scheint sie über die hierzu notwendige Macht zu verfügen.

Kann aber Person A tatsächlich ihren Willen gegen den von Person B durchsetzen? Um die Antwort vorwegzunehmen: Ja und nein! Die Antwort ist „Ja“, solange sich der Wille von Person A auf die Reduktion von Möglichkeiten beschränkt, etwa wenn A verhindern möchte, dass B den Ort des Geschehens verlässt. Um diesen Wunsch durchzusetzen, müsste A lediglich B erschießen. Hierzu bedarf es nicht der Zustimmung oder Unterwerfung von B. Allerdings ist die Antwort „Nein“, wenn Person A Person B zu einem bestimmten Verhalten oder gar Denken zwingen möchte, denn hierzu ist die Unterwerfung von B notwendig. Denn auch wenn A die Möglichkeiten von B drastisch reduzieren kann, so kann sie B dennoch nicht determinieren. Denn auch die Androhung des Erschossenwerdens hat für B nur die Qualität einer Perturbation und die Reaktion auf diese bleibt für A unvorhersehbar. Nehmen wir einmal an, Person B plane gerade ihren Suizid. Unter dieser Voraussetzung dürfte die Bedrohung des eigenen Lebens nicht sonderlich Erfolg versprechend sein. Aber auch weniger extreme Gemütsverfassungen können die Drohung „ins Leere laufen“ lassen. Mag sein, dass B gerade gereizt ist und auf die Bedrohung nicht eingeschüchtert, sondern aggressiv reagiert. Dabei wäre es übrigens auch ohne Belang, ob die Gegenwehr erfolgreich ist oder aber mit dem Erschossenwerden endet – denn selbst, wenn A Person B tatsächlich erschießt, so hat B den Willen von A immer noch nicht ausgeführt.

Pointiert: Ist mit der Bedrohung ein instruktives Ansinnen verbunden, so hat dieses immer nur die Qualität einer Perturbation und die Entscheidung, wie der Bedrohte auf diese Perturbation reagiert, verbleibt unabdingbar bei ihm selbst. Auch eine bewaffnete Person kann eine unbewaffnete Person (trotz der ungleich verteilten Machtressourcen) nicht unmittelbar instruieren. Denn auch der/die scheinbar Ohnmächtige kann sich jeglichem Ansinnen, eine bestimmte Handlung auszuführen, verweigern – wenn auch in diesem Beispiel um den Preis des Erschossenwerdens.33

Diese Argumentation war es auch, die in den konstruktivistischen Diskursen der 1980er und frühen 1990er Jahre zu der Aussage führten, es gäbe gar keine Macht.34 Übersehen wurde dabei, dass es einen gravierenden Unterschied macht ob der Wille von Person A auf Instruktion oder auf Destruktion zielt. Denn wenn der Wille von Person A darauf zielt, die Möglichkeiten von Person B zu beschränken, dann ist die Frage nach der Möglichkeit von Macht auch konstruktivistisch mit „Ja“ zu beantworten. A kann zwar kein bestimmtes Verhalten von B determinieren. Möchte A aber, dass B bestimmte Handlungen unterlässt, so braucht sie zur Durchsetzung ihres Willens nicht die Unterwerfung von B und der Erfolg ist unabhängig vom Eigensinn der selbstreferentiell operierenden Kognition. Zur Durchsetzung dieses Willens genügt es, um beim Beispiel zu bleiben, B zu erschießen.35

An der Frage nach den Verweigerungsmöglichkeiten wird deutlich, dass es einen qualitativen Unterschied zwischen den Bemühungen instruktiver und den Bemühungen destruktiver Einflussnahme gibt. Um nun diesem qualitativen Unterschied gerecht zu werden, soll der Begriff der Macht differenziert werden. Hierzu habe ich dem Begriff der instruktiven Interaktion jenen der destruktiven Interaktion gegenübergestellt und dementsprechend das Phänomen Macht in instruktive Macht vs. destruktive Macht unterschieden.36

 

„Mit der Kategorie der instruktiven Interaktion […] sollen Interaktionen bezeichnet werden, die das Verhalten oder Denken des Gegenübers determinieren. Im Unterschied dazu soll die Kategorie der destruktiven Interaktion ein Interagieren bezeichnen, das die Möglichkeiten des Gegenübers reduziert. Basierend auf dieser Unterscheidung soll instruktive Macht die Möglichkeit zu instruktiven Interaktionen bezeichnen, während destruktive Macht aus der Chance zur Reduktion von Möglichkeiten, also aus der Chance zu destruktiven Interaktionen resultiert.“37

Mit anderen Worten: Während destruktive Macht die Möglichkeiten eines Menschen einschränkt (oder eben bestimmte Möglichkeiten destruiert, also „zerstört“), zielt instruktive Macht auf die Instruktion oder „Steuerung“ eines Menschen. Der qualitative Unterschied dieser Machtformen wird an den Möglichkeiten erfolgreicher Verweigerung deutlich. Denn während instruktive Macht vom Eigensinn der „Ohnmächtigen“ abhängt, ist destruktive Macht unabhängig vom Eigensinn der Betroffenen wirksam.

2.1 „Instruktive Macht“ vs.“ Destruktive Macht“: Beobachter*innenabhängig und relational

Die Definition von instruktiver Macht und destruktiver Macht fokussiert, wie bei Weber, die „Chance innerhalb einer sozialen Beziehung, den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen“. Dabei wird die Kategorie Macht nicht als ein ontologisches, sondern als ein soziales Phänomen gefasst. Insofern beschreiben die Begriffe instruktive Macht und destruktive Macht keine beobachter*innenunabhängigen, ontologischen Entitäten über die eine Person verfügt, sondern Durchsetzungspotentiale in sozialen Relationen. Relationen müssen zumindest angenommen werden, da die hier in den Blick genommene Interaktionsmacht immer einen durchzusetzenden Willen voraussetzt,38 wozu es mindestens zwei Systeme geben muss, die zueinander in Bezug gesetzt werden können. Dabei können Systeme sowohl einzelne Personen, als auch soziale Systeme sein.39

Ferner gilt für Machtphänomene, was konstruktivistisch für alle Phänomene gilt: Sie können nur aus einer Beobachterperspektive bestimmt werden.40 Der/die Beobachter*in kann Teil der zu beschreibenden sozialen Relation sein oder außerhalb dieser stehen. Der Verweis auf die Beobachterperspektive betont, dass Macht nicht objektiv zu erkennen ist, sondern in einem aktiven Prozess soziale Potentiale als instruktive Macht oder destruktive Macht rekonstruiert und eingeordnet werden müssen. Entschieden werden muss hierbei sowohl, von welchen Willen ausgegangen wird (die gegebenenfalls als einander widersprechend bestimmt werden), als auch, welche Potentiale angenommen werden (zur Durchsetzung des zuvor bestimmten Willens). Dabei ist es unerheblich, ob diese Beobachtungen aus einer Binnen- oder einer Außenperspektive vorgenommen werden, da die Entscheidung darüber, ob und welche Macht vorliegt, so oder so ein Prozess ist, der auf den Beobachtungs- und Unterscheidungskriterien der Beobachter*innen basiert.41

Insofern definiere ich instruktive Macht und destruktive Macht folgendermaßen:

Wichtig ist, dass mit dieser Unterscheidung keine normative Bewertung verbunden ist42 und zudem instruktive Macht nicht als Gegenteil von destruktiver Macht gefasst wird. Beide Machtkategorien fokussieren lediglich Bedingungen der Möglichkeit von Macht und erlauben eine differenzierte Analyse von Durchsetzungspotentialen in Konflikten.43

2.2 Destruktive Macht gegen Körper und Kognition

Differenzieren wir zur weiteren Verdeutlichung zwischen Körper und Kognition als Bereiche denen gegenüber destruktive Macht ausgeübt werden soll. Die Möglichkeiten destruktiver Macht, die sich aus der Verfügungsgewalt über den Körper eines Menschen ergeben können, scheinen offensichtlich. Organismen sind nicht unabhängig von ihrer Systemumwelt, sondern strukturell an diese gekoppelt. Die Chancen zur Beeinflussung ergeben sich aus dem Verfügen über Einflussgrößen, die es erlauben, die Optionen eines Organismus zu reduzieren. Entweder direkt, etwa durch die Anwendung von Gewalt, oder indirekt durch das Vorenthalten oder Wegnehmen von für den Organismus relevanten Gütern (etwa Nahrungsmittel etc.). Dabei handelt es sich allerdings nur um die Chance zur Reduktion von Handlungsmöglichkeiten, nicht aber zur Instruktion. Wie sehr die Möglichkeiten auch reduziert werden, wenn mit der Anwendung oder Androhung solcher Machtmöglichkeiten Versuche der Instruktion verbunden sind, so haben diese lediglich die Qualität einer Perturbation. Die Reaktion darauf wird durch die operational geschlossene und somit nicht instruierbare Kognition eines Menschen bestimmt.

Insofern scheinen zunächst Chancen zur destruktiven Machtausübung gegenüber dem kognitiven Bereich unwahrscheinlich. Denn wie soll es möglich sein, auf die Kognition eines Menschen Macht auszuüben, wenn doch diese Kognition als operational geschlossen gilt?

Hier gilt es zu bedenken, dass es zum Konstruieren der kognitiven „Wirklichkeit“ einer Systemumwelt bedarf („Realität“). Das Individuum ist zwar für die Bewertung der Perturbationen verantwortlich, nicht aber für die Anlässe der Perturbationen selbst. Die Konstruktion der subjektiven „Wirklichkeit“ geschieht zwar nach den Regeln des kognitiven Systems, aber dieses System benötigt eine Systemumwelt, die Reize zur weiteren Verarbeitung zur Verfügung stellt. Insofern wäre z.B. das Vorenthalten von Informationen (etwa „das Dummhalten des Volkes“) eine weitere Möglichkeit von Macht, die wiederum auf der Reduktion von Möglichkeiten basiert. Dass aus dem Vorenthalten von Informationen destruktive Macht erwachsen kann, lässt sich am Beispiel der Sprache zeigen. Wie Bourdieu in seiner Auseinandersetzung mit den „verborgenen Mechanismen der Macht“ feststellt, hat es „… auf dem sprachlichen Markt immer Monopole gegeben, ob es sich nun um sakrale oder einer Kaste vorbehaltene Sprachen oder Geheimsprachen wie u.a. die Wissenschaftssprache handelt.“44

Diese Monopole sind insoweit Mittel destruktiver Macht, als aus dem Vorenthalten der zur Teilnahme an bestimmten Diskursen notwendigen Sprache die Teilnahme an eben diesen Diskursen verhindert werden kann. Und die Bedeutung, die daraus erwächst, wenn ein Diskurs als wissenschaftlich ausgewiesen ist, hat Foucault schon in den 70er Jahren thematisiert. In seinen Vorlesungen am Collège de France konstatiert er – mit Blick auf die Bestrebungen, bestimmte Diskurse als wissenschaftlich einzuordnen –, das vorrangige Ziel solcher Bemühungen sei die Ausstattung des jeweiligen Diskurses und derer, die diesen Diskurs führen, „… mit Machteffekten […], die das Abendland nunmehr seit dem Mittelalter der Wissenschaft verliehen und jenen vorbehalten hat, die einen wissenschaftlichen Diskurs führen.“45

Natürlich ermöglicht auch diese Form der Macht keine instruktiven Interaktionen. Den Mächtigen mag es möglich sein, die „Ohnmächtigen“ an bestimmten Überlegungen oder Handlungen zu hindern, indem sie ihnen das hierzu notwendige Wissen vorenthalten. Aber auch auf diesem Weg können sie keinesfalls bestimmte Handlungen oder gar Denkweisen determinieren. Dennoch können sie die Chance zur Reduktion von Möglichkeiten haben und somit auch auf kognitiver Ebene die Chance zu destruktiver Macht.

Es lassen sich also auch gegenüber dem kognitiven Bereich Möglichkeiten destruktiver Macht begründen. Insofern kann Portele weder für den Bereich des Körpers noch für den Bereich der Kognition zugestimmt werden, wenn er verallgemeinernd ausführt:

„Unterwerfung ist ein autonomer Akt. Auf diese autonome Entscheidung, den eigenen Willen aufzugeben, ist der Machtausübende angewiesen. Ohne diese Aufgabe des eigenen Willens kann er keine Macht ausüben.“46

Was Portele dabei außer Acht lässt, sind etwaige Chancen zur Reduktion von Möglichkeiten, also Chancen destruktiver Macht. Denn diese Form der Macht kann — und zwar sowohl gegenüber dem Körper als auch gegenüber der Kognition – „ohne die Bereitschaft zur Unterwerfung […] ausgeübt werden“.47 Sie bedarf der Verfügungsgewalt über die notwendigen materiellen oder immateriellen Größen und nicht der Unterwerfung des Ohnmächtigen. Es können also auch aus einer konstruktivistischen, selbst radikal-konstruktivistischen Perspektive sowohl gegenüber dem Körper als auch gegenüber der Kognition eines Menschen Machtmöglichkeiten begründet werden, die nicht der Unterwerfung bedürfen.

2.3 Instruktive Macht – zur Relevanz einer sozialen Konstruktion

Auch wenn gegenüber instruktiver Macht Verweigerung möglich ist und diese mithin nur als ein soziales Konstrukt gedacht werden kann, so ist sie doch gerade als ein solches Konstrukt in sozialen Beziehungen wirksam. Insofern nämlich, als sie in Form reziprok organisierter Rollenerwartungen Handlungsentwürfe orientiert. Daher kann zur adäquaten Beschreibung sozialer Beziehungen nicht auf die Kategorie der instruktiven Macht verzichtet werden.

Wie aber lässt sich instruktive Macht inhaltlich fassen? Zunächst ist instruktive Macht als soziales Phänomen innerhalb konsensueller Bereiche beschreibbar. Von instruktiver Macht wäre dann zu sprechen, wenn die „Ohnmächtigen“ entgegen ihren eigenen Wünschen den instruktiven Wünschen der Mächtigen folgen, da sie diesen die hierzu notwendige Macht zuschreiben. Somit können dann – zumindest aus der Perspektive der Ohnmächtigen – die Mächtigen „innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchsetzen“.

Natürlich sind solche Interaktionen im eigentlichen Sinne keine instruktiven Interaktionen, da sich aus den genannten Gründen die zu Instruierenden jeglichen instruktiven Bemühungen letztlich verweigern könnten. Dennoch ist instruktive Macht als soziales Konstrukt nicht minder wirksam. Daher gilt es, sich der Möglichkeit von instruktiver Macht in zwischenmenschlichen Beziehungen im Allgemeinen und in Beziehungen von Fachkräften der Sozialen Arbeit zu ihren Adressat*innen im Besonderen bewusst zu sein. So haben eben diejenigen, vor allem im professionellen Bereich, die Macht zugesprochen bekommen, mit den hieraus resultierenden Möglichkeiten verantwortungsvoll umzugehen.

3 Möglichkeiten zu Hilfe und Kontrolle

Nachfolgend soll der Ertrag der bisherigen Überlegungen auf zwei wesentliche Kernfunktionen Sozialer Arbeit angewendet werden, nämlich auf die Funktion der Hilfe und Kontrolle. Dabei liegt der Fokus auf der Frage, ob aus einer konstruktivistischen Perspektive plausibel ist, dass Soziale Arbeit überhaupt noch über Möglichkeiten zu Hilfe und Kontrolle verfügt. Es geht hier also ebenso wenig wie schon bei den machttheoretischen Überlegungen um die Reflexion normativer Fragen, sondern um die Reflexion grundsätzlicher Möglichkeiten. Nicht die Legitimation von Hilfe und Kontrolle soll erörtert werden,48 sondern die grundsätzliche Möglichkeit dieser Funktionen. Nimmt man nämlich das konstruktivistische Menschenbild ernst, so scheint die Möglichkeit von Hilfe und Kontrolle zumindest fraglich. Besonders deutlich scheint dies bezüglich der Kontrollmöglichkeiten. Wie soll eine Fachkraft der Sozialen Arbeit das Denken und Handeln eines Adressaten/einer Adressat*in methodisch kontrollieren, wenn doch Kognition als von außen nicht steuerbar gilt? Aus einer konstruktivistischen Perspektive muss dies unwahrscheinlich, wenn nicht unmöglich anmuten. Scheint es doch, als setze die Möglichkeit zur Kontrolle das Bild eines fremdbestimmten Menschen voraus, was unter Berücksichtigung der Selbstreferentialität menschlicher Kognition als unmöglich angenommen wird. Bedeutet dies nun, dass auch Kontrolle unmöglich ist? Müssen daher jegliche kontrollierenden Bemühungen Sozialer Arbeit grundsätzlich scheitern? Kann dann Soziale Arbeit ohne die Möglichkeit zur Kontrolle überhaupt ihren Aufgaben (zu denen ja auch das „Wächteramt des Staates“ gehört) gerecht werden?

Zur Beantwortung dieser Frage ist es von Vorteil, den Begriff der Kontrolle zu differenzieren. Dazu wird auf die gleiche Logik zurückgegriffen, wie in den obigen Ausführungen zu den Grundformen der Macht und entsprechend der Unterscheidung von instruktiver Macht und destruktiver Macht zwischen „instruktiver Kontrolle“ und „destruktiver Kontrolle“ unterschieden.

3.1 „Instruktive Kontrolle” vs. „destruktive Kontrolle”

Kontrolle zielt auf die Einhaltung von rechtlich legitimierten und fachlich begründeten Vorgaben über deren Durchsetzung die ausübenden Fachkräfte entscheiden. Dies trifft in den Bereichen zu, in denen gesellschaftliche und fachliche Entscheidungen darüber vorliegen, was als richtig oder falsch gilt. Diese Entscheidungen sind weder durch die Realität determiniert noch endgültig oder unumstößlich gesetzt. Dennoch sind solche Entscheidungen zu einem bestimmten Zeitpunkt gültig. Konkret bedeutet dies, dass gesellschaftliche Übereinkünfte in Rechtsnormen münden, deren Anwendung und fachlich begründete Auslegung in bestimmten Bereichen den Fachkräften der Sozialen Arbeit obliegt. Entscheidend für die Abgrenzung gegenüber der Kategorie der Hilfe ist, dass die Entscheidungsmacht im Fall der Kontrolle bei den Fachkräften liegt. Insoweit die Ausübung von Kontrolle auf Macht angewiesen ist, ist es sinnvoll die Unterscheidung zwischen instruktiver Macht und destruktiver Macht auch bei der Analyse des Begriffes der Kontrolle zu berücksichtigen. In Korrelation zur genutzten Machtform wird daher der Begriff der Kontrolle differenziert und die Kategorien der instruktiven Kontrolle und der destruktiven Kontrolle eingeführt.

 

Demgemäß gilt das Einwirken mittels instruktiver Macht, damit erwünschte Verhaltensweisen gezeigt oder unerwünschte Verhaltensweisen unterlassen werden, als instruktive Kontrolle. Das Unterbinden unerwünschter Verhaltensweisen mittels destruktiver Macht gilt hingegen als destruktive Kontrolle. Instruktive Kontrolle ist also auf instruktive Macht angewiesen so wie destruktive Kontrolle auf destruktive Macht.

Wichtig ist, dass für die Unterscheidung zwischen instruktiver Kontrolle und destruktiver Kontrolle nicht entscheidend ist, ob Handlungen erwünscht oder unerwünscht sind, sondern vielmehr ob Handlungen tatsächlich auch gegen Widerstreben der Adressat*innen erzwungen bzw. unterbunden werden können. So kann instruktive Kontrolle sowohl auf das Ausführen als auch auf das Unterlassen bestimmter Handlungen zielen, wohingegen destruktive Kontrolle ausschließlich die Verhinderung bestimmter Handlungen erwirken kann. Während instruktiver Kontrolle ebenso wie die hierzu notwendige instruktive Macht am Eigensinn der Adressat*innen scheitern kann, ist die Verweigerung gegenüber destruktiver Kontrolle ebenso wenig wirksam wie gegenüber der eingesetzten destruktiven Macht. Auf Grund der Selbstreferentialität menschlicher Kognition bedarf instruktive Kontrolle der Unterwerfung des zu Kontrollierenden. Dies gilt nicht für die Ausübung destruktiver Kontrolle. Diese kann auf Grund der strukturellen Koppelung menschlicher Organismen an ihre Umwelt auch gegen Widerstand durchgesetzt werden. Insofern gilt:

Destruktive Kontrolle zielt auf das Einhalten von Vorgaben mittels destruktiver Macht – solche Kontrollbestrebungen können nur auf Verhinderung unerwünschter Verhaltensweisen zielen und deren Erfolg ist ebenso wenig vom Eigensinn der Adressat*innen abhängig, wie die eingesetzte destruktive Macht.49

Was für die eingesetzten Machtformen gilt, gilt natürlich auch für die Kontrollformen: Kontrolle ist ein soziales Phänomen. Insofern beschreiben die Begriffe instruktive Kontrolle und destruktive Kontrolle keine beobachter*innenunabhängigen ontologischen Entitäten, über die eine Person verfügt, sondern Durchsetzungsintentionen in sozialen Relationen. Relationen müssen zumindest angenommen werden, da die hier in den Blick genommene Interaktion immer einen durchzusetzenden Willen voraussetzt, wozu es mindestens zwei Systeme geben muss, die zueinander in Bezug gesetzt werden können.

Ferner gilt auch für Kontrollphänomene, dass sie nur aus einer Beobachterperspektive bestimmt werden können.50 Der/die Beobachter*in kann Teil der zu beschreibenden sozialen Relation sein oder außerhalb dieser stehen. Der Verweis auf die Beobachter*innenperspektive betont, dass Kontrolle nicht objektiv zu erkennen ist, sondern in einem aktiven Prozess soziale Relationen als instruktive Kontrolle oder destruktive Kontrolle rekonstruiert und eingeordnet werden müssen. Entschieden werden muss hierbei sowohl, von welchen Vorgaben ausgegangen wird (die gegebenenfalls als durchzusetzend bestimmt werden), als auch, welche Machtformen angenommen werden (zur Durchsetzung der zuvor bestimmten Vorgaben). Dabei ist es unerheblich, ob diese Beobachtungen aus einer Binnen- oder einer Außenperspektive vorgenommen werden, da die Entscheidung darüber, ob und welche Kontrolle vorliegt, in jedem Fall ein Prozess ist, der auf den Beobachtungs- und Unterscheidungskriterien der Beobachter*innen basiert.

Insofern definiere ich instruktive Kontrolle und destruktive Kontrolle folgendermaßen:

3.2 Kontrolle: Zwischen Gewalt und Verführung?

Zur Konkretisierung der eingeführten Unterscheidung zwischen instruktiver und destruktiver Kontrolle werden nun am Beispiel des „Wächteramt des Staates“ grundsätzlichen Kontrollmöglichkeiten der Sozialen Arbeit erörtert. Dazu wird der „Fall Jenny“ aufgegriffen:

„Nach Geburt in der Entbindungsklinik wird Jenny von ihrer Mutter (22 Jahre, IQ: 55) nicht ausreichend versorgt. Nach Information durch den Arzt bringt der ASD in Lüneburg Mutter und Kind in einem Übergangswohnheim der Diakonie zur Intensivbetreuung unter. Nach Misshandlung des Kindes durch die Mutter erfolgt Unterbringung in einer Tagespflegestelle. Mit Vollzeitpflegestelle war die Mutter nicht einverstanden.

Im März 1994 erfolgt Unterbringung in einem Wohnheim in Stuttgart, wobei nicht geklärt war, ob dies im Rahmen des § 39 BSHG oder im Rahmen des § 19 SGB VIII geschah. Die Leistung erfolgte durch das Sozialamt Lüneburg. Eine Information des Jugendamts Stuttgart erfolgte nicht. Anfang 1996 zog die Mutter aus dem Wohnheim aus zu Freunden in Stuttgart. Der Heimleiter informierte das Jugendamt Stuttgart, schildert den Fall aber als unauffälligen Normalfall. Das Jugendamt sucht daraufhin mittelfristig einen Tagesheimplatz. Bei der Mutter und ihren Freunden wird Jenny misshandelt. Davon wird der Jugendamtsleiter am 3.3.96 informiert. Er veranlasst sofortige Überprüfung. Jenny stirbt am 15.3.96.“51

Das diesbezügliche Gerichtsurteil vom 17.9.99 des LG Stuttgart ist an dieser Stelle nicht von Interesse, da der Fokus nicht auf etwaigen rechtlichen Folgen unterlassener Kontrolle liegen soll, sondern auf den grundsätzlichen Möglichkeiten, Kontrolle auszuüben.

Wie hätte eine Fachkraft der Sozialen Arbeit Jennys Tod verhindern können? Der sicherste Weg wäre wohl die zwangsweise räumliche Trennung von Mutter und Kind gewesen, etwa durch die vollstationäre Unterbringung des Kindes in einer Einrichtung der Jugendhilfe. Ein solches Vorgehen ist dann eine Form destruktiver Kontrolle, welche auf der Ausübung destruktiver Macht basiert52. An diesem Beispiel wird auch deutlich, dass destruktive Kontrolle unabhängig vom Eigensinn der Mutter ist, da zu deren Ausübung keinerlei Unterwerfung oder Zustimmung der Mutter notwendig ist. Der Wille der Mutter ist in diesem Moment unerheblich – sind Mutter und Kind räumlich getrennt, ist es der Mutter unmöglich, ihr Kind zu misshandeln. Gleichfalls wird an diesem Beispiel aber auch deutlich, dass destruktive Kontrolle ausschließlich das Unterlassen bestimmter Handlungen erwirken kann. Es ist nicht möglich, mittels destruktiver Kontrolle Jennys Mutter zu einem liebevollen Umgang zu zwingen – lediglich die Ausübung von Gewalt kann verhindert werden.

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