Macht in der Sozialen Arbeit

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Gelingt im Anschluss an derartige Beiträge eine entsprechende angemessene Thematisierung der Dimension von Macht (und Herrschaft) in Bezug auf die Soziale Arbeit, dann wäre nicht nur das weiterhin bestehende Forschungsdesiderat geschlossen, sondern vor allem eine systematische Erkenntnis- und Kritikbasis erreicht, von der aus die gegenwärtigen fundamentalen Transformationsprozesse des bisherigen wohlfahrtsstaatlichen Arrangements, als dessen Teil Soziale Arbeit seit dem 19. Jahrhundert etabliert wurde, adäquat beobachtbar, kritisierbar und vor allem gestaltbar würden.

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1 Für hilfreiche Hinweise danke ich Hannah Dehm (Wuppertal).

2 Im vorliegenden Text wird von „Sozialer Arbeit“ als Bezeichnung für die Felder professioneller Tätigkeiten gesprochen, die sich auf die aktive Unterstützung und geplante Beeinflussung subjektiver Lebensführungsmuster in den Fällen beziehen, in denen diese als faktisch oder potenziell sozial problematisch markiert werden.

3 Vgl. Anhorn/Bettinger 2007; Kraus/Krieger 2007; Paulick 2018; Sagebiel/Pankofer 2015.

4 Vgl. Otto/Thiersch 2011.

5 Vgl. Thole 2012.

6 Vgl. Anhorn/Bettinger/Horlacher/Rathgeb 2012.

7 Vgl. Winter 2012.

8 Grundwald/Köngeter/Zeller 2019, S. 1290.

9 Oechler 2009, S. 45.

10 Vgl. Staub-Bernasconi 2007; Schaarschuch 1998.

11 Vgl. aktuell u. a. Beiträge in: Anhorn/Bettinger/Stehr 2008, Bereswill/Stecklina 2010, Dederich/Schnell 2010 und Kessl/Plößer 2010; auch: Mecheril/Kalpaka 2010.

12 Vgl. Schnurr 2011; Sturzenhecker 2008; Herriger 2020.

13 Vgl. Imbusch 1998; grundlegend: Russel 1973.

14 Engelke 2015, S. 9 [Vorwort zu Sagebiel/Pankofer 2015].

15 Sagebiel/Pankofer 2015, S. 13.

16 Weber 1921/1972, S. 28.

17 Ebd.

18 Ebd.

19 Vgl. Luhmann 1975/2003, S. 60.

20 Vgl. Arendt 1955/1986, S. 725.

21 Berger 2009, S. 13.

22 Vgl. Berger 2009; Krause/Rölli 2008.

23 Krause/Rölli 2008, S. 9.

24 Sofsky/Paris 1991, S. 12., zit. nach Berger 2009, S. 20.

25 Vgl. Foucault 1976/1999, S. 114.

26 Rabinow 2004, S. 81.

27 Vgl. Arendt 1970/1998, S. 36 ff.

 

28 Vgl. Ketterer/Becker 2019.

29 Mollenhauer 1964/1993, S. 25.

30 Ebd., S. 19.

31 Scherpner 1962, S. 18.

32 1964/1993.

33 1962.

34 Ebd., S. 77 f.

35 Vgl. Mollenhauer 1964/1993, S. 13 f.; S. 21.

36 Ebd., S. 19.

37 Vgl. Scherpner 1962, S. 22.

38 Vgl. Scherpner 1962, S. 122 ff.

39 Vgl. Mollenhauer 1964/1993, S. 55 f.

40 Scherpner 1962, S. 128.

41 Ebd., S. 129.

42 Mollenhauer 1964/1993, S. 27.

43 Ebd., S. 21.

44 Ebd., S. 135 ff.

45 Ebd., S. S. 139 f.

46 Scherpner 1962, S. 168 ff.

47 Mollenhauer 1964/1993, S. 134.

48 Ebd.

49 Ebd., S. 85.

50 Ebd., S. 125.

51 Scherpner 1962, S. 190 ff.

52 Ebd., S. 192.

53 Vgl. ebd., S. 135 ff.

54 Vgl. ebd., S. 139 f.

55 Vgl. ebd., S. 140 ff.

56 Vgl. dazu z. B. Hornstein 1995, S. 26 ff.

57 Vgl. z. B. Lütke-Harmann 2016.

58 Vgl. z. B. Wilhelm 2005; Mierendorff 2010.

59 Vgl. Kessl/Maurer 2010.

60 Vgl. dazu Beiträge in Widersprüche 2010.

61 Vgl. Herrmann 2010.

62 Vgl. Dahme/Wohlfahrt 2010.

TEIL I Interaktionsmacht in der Praxis der Sozialen Arbeit

Strukturen der Macht Konstruktivistische Perspektiven zur Mikrophysiologie der personalisierten Interaktionsmacht in der Sozialen Arbeit Wolfgang Krieger

Programmatische Vorbemerkung

Der Begriff der „Macht“ hat zusammen mit Begriffen ähnlicher Bedeutung wie „Herrschaft“, „Autorität“ und „Gewalt“ eine lange Tradition in den Sozialwissenschaften und wird in seinem Verständnis sehr unterschiedlich bestimmt, nicht zuletzt, weil verschiedene sozial- und humanwissenschaftliche Disziplinen ihn mit unterschiedlichen Interessen und Vorannahmen für ihre Theoriebildung benutzen und verschiedene „Schulen“ in den Sozialwissenschaften den Begriff im Lichte ihrer Theoriekonzepte modulieren. Ferner hat der Begriff in seinem öffentlichen und alltagssprachlichen Gebrauch, beladen mit allerhand emotionalen und despektierlichen Konnotationen, Unrechtsvermutungen, abwehrenden Reaktionsbereitschaften und einem latenten Empörungsanreiz einen zum Negativen neigenden Gehalt, durch den er sich kritisch zum Symbol eines generellen Vorwurfs der Illegitimität und Ungebührlichkeit instrumentalisieren lässt.

Eingespannt zwischen den Polen scheinbar nüchterner phänomenaler Analyse und engagiert demaskierender Rhetorik nimmt der Begriff der Macht eine sehr unsichere Position im sozialwissenschaftlichen Diskurs ein, erfreut sich aber – vielleicht gerade aus diesem Grunde – doch einer verbreiteten Nutzung. Will man sich mit dem Phänomen bzw. dem Konstrukt der „Macht“ allerdings analytisch befassen, so tut es not, sich begrifflich festzulegen und für die eigenen Zwecke den Begriff aus dem Dilemma seines uneinheitlichen Gebrauchs herauszuheben. Zum einen kommt man nicht umhin, ihn im Dienste wissenschaftlicher Unvoreingenommenheit von seiner klischeehaft negativen Last zu befreien, zu „entdiabolisieren“ und zu „entmythologisieren“, zum anderen wird es erforderlich werden, die Möglichkeiten des Phänomens und seiner Erklärungen erkenntnistheoretisch zu problematisieren, um so schließlich den Begriff zu schärfen und gewinnbringend anwendbar zu machen. Dies soll hier nach den Maßgaben des konstruktivistischen Paradigmas vollzogen werden. Erst auf der Basis einer solchen paradigmenorientierten Vorverständigung über den Begriff der Macht und über die Konstitutiva von Machtphänomenen kann eine Analyse der Machtquellen, der Machtstrukturen, der Machtmittel und -ressourcen und der Machtpraktiken, kurzum des Bereiches, den wir im Folgenden als „Mikrophysiologie“ der Macht bezeichnen wollen, erfolgen. Das Modell einer solchen Mikrophysiologie der Macht soll sodann auf Interaktionen in der Sozialen Arbeit transferiert werden. Die Erörterung folgt daher der Logik eines Dreischrittes: Wir wollen zunächst Machtbegriff und Machtphänomene aus multidisziplinären Perspektiven beleuchten, um so eine begründete und handhabbare Systematik der Machtformen gewinnen zu können. Sodann soll der Machtbegriff aus konstruktivistischer Sicht kritisiert, aber auch reformuliert werden, um schließlich mit konstruktivistischem Spürsinn Machtverhältnisse in der Sozialen Arbeit zu entdecken und zu analysieren und die Problematik eines konstruktiven Umganges mit Macht darzustellen.

Wir beschränken im Folgenden unsere Betrachtungen auf den Bereich von Macht in Interaktionsverhältnissen. Es soll genauerhin um „personalisierte Interaktionsmacht“1 in zwischenmenschlichen Beziehungen gehen, nicht um Machtphänomene auf politischer oder interorganisationeller Ebene (obschon diese letztlich auch ein Interaktionsverhältnis beschreiben).2 Interaktionsmacht im Verhältnis zwischen Professionellen und ihrem Klientel ist in der Praxis der Sozialen Arbeit in allen erdenklichen Aufgabenbereichen anzutreffen. Sie begründet sich weitgehend außerhalb dieses Verhältnisses, d. h. im Kontextsystem der sozialarbeiterischen Praxis. Indem Sozialarbeiter/Sozialarbeiterinnen „hilfemächtige Institutionen“ repräsentieren und einen öffentlichen Auftrag wahrnehmen, sind sie in übergeordnete Machtstrukturen eingebunden, zu welchen sie sich in jedem Falle verhalten müssen. Indem es ihre Aufgabe ist, ein Arbeitsbündnis konstruktiv und zielorientiert zu gestalten, welches im Kern eine Abhängigkeitsbeziehung beinhaltet, müssen sie balancierte Machtverhältnisse arrangieren, die einerseits ein überschaubares Arbeitskonzept gewährleisten, andererseits die Mitarbeitsbereitschaft der Klientel nicht gefährden. Zudem eignet ihnen als Experten und Expertinnen ein Nimbus zugeschriebener Macht, der in der „helfenden Beziehung“ vielfältig bedeutsam wird.

Die Faktoren, die für Machtphänomene in der HelferInnen-KlientInnen-Interaktion konstitutiv sind, sind daher vielschichtig angelegt; sie wirken zudem zusammen und bilden ein komplexes Netz synergetisch wirksamer und sich wechselseitig stabilisierender Momente. Eine kurze Analyse dieser Faktoren soll daher den Anfang unserer Überlegungen bilden. Wir gehen dabei von vier konstruktivistisch orientierten Hypothesen aus:

1. Menschen handeln als autopoietische biologische Systeme auf der Grundlage ihrer Wirklichkeitskonstruktionen und nicht determiniert durch physikalische Parameter oder durch den Willen anderer Personen. Dennoch reagieren sie – zum Erhalt ihrer selbst und ihrer Interessen – auf Veränderungen bestimmter physikalischer Parameter in jenen Systemen, mit denen sie strukturell gekoppelt sind, und orientieren ihre semantischen Konstrukte an diesen.

2. Das Wissen über Machtphänomene ist in den subjektiven Konstruktionen der sozialen Wirklichkeit bei InteraktionspartnerInnen in der Sozialen Arbeit präsent und geht gleichermaßen in die Handlungsorientierung von Professionellen und Klienten/Klientinnen mit ein. Macht als Modell einer Beziehungsstruktur, die durch Faktoren der Abhängigkeit, des Durchsetzungsvermögens, des Wissensvorsprunges etc. geprägt ist, steht als interpretativer Hintergrund für die wechselseitige Fremdwahrnehmung im Interventionsprozess der sozialarbeiterischen Praxis.

3. Machtphänomene lassen sich soziologisch als Rahmenbedingungen sozialer Situationen im Milieu der Handelnden feststellen und als „soziale Tatsachen“ aus dem Orientierungshandeln von InteraktionspartnerInnen abstrahieren. Sie lassen sich ferner auf den Menschen bezogen als Bewusstseinskonstrukte der Mächtigen und der von Macht Betroffenen als Attributionen in der Konstruktion der jeweils Anderen verstehen, die für die Steuerung des eigenen Verhaltens, für die Entwicklung von sozialen Erwartungen und für die Erklärung der Motive des Anderen zentral sind. Diese Attributionen sind richtungsweisend für die Handlungsorientierung der InteraktionspartnerInnen. Die von Bateson, Keeney, Dell und anderen propagierte grundsätzliche „Verwerfung“ der Machtmetapher als Beobachtungskonstrukt ist daher aus unserer Sicht kurzschlüssig und nicht ausreichend begründet.3 Die externe Beobachtung von sozialer Wirklichkeit unter Anwendung der Machtmetapher macht u. E. auch aus konstruktivistischer Sicht für die wissenschaftliche Analyse und ebenso für die Selbstreflexion der Praxis einen Sinn.

4. Der Umgang mit Macht spielt in der (sprachlichen) Interaktion eine prekäre Rolle, oft verbunden mit Peinlichkeit. In kooperationsorientierten Settings vermeiden es InteraktionspartnerInnen tunlichst, auf ihre Machtpotenziale hinzuweisen und die ihnen zur Verfügung stehenden Machtmittel zu explizieren. Die Macht bleibt im Hintergrund (latente und potentielle Macht), um selbstgesteuerte Produktivität nicht zu behindern. Die Rede von Macht, d. h. das sprachliche Hinweisen auf Machtmittel, ist in diesen Interaktionen also unwahrscheinlich; wenn Macht explizit wird, hat dies besondere Gründe, z. B. die Absicht, das Machtgefälle zwischen den beteiligten Personen deutlich zu machen, die Abhängigkeit herauszustellen oder mit der Anwendung der Machtmittel zu drohen.

1 Macht als Begriff und ihre Formen

1.1 Machtbegriff und Machtphänomene

Machtphänomene sind Phänomene, in welchen „Macht“ zum Ausdruck kommt. Sie sind also dadurch zu bestimmen, dass sie die Struktur „von Macht“ aufweisen, im Dienste „von Macht“ stehen und somit „das Mächtige“ an ihnen erkennbar wird. Was aber ist „die Macht“, die hier zum Ausdruck kommt, was ist „das Mächtige“?

Eine Erörterung zur Bedeutung von Phänomenen der Macht hat zunächst die Schwierigkeit zu bewältigen, dass der Begriff der „Macht“ als ein „theoretisches Konstrukt“ logischerweise nicht dazu taugt, selbst phänomenal in Erscheinung zu treten. Vielmehr werden Phänomene dank eines bestimmten Explikationsrahmens als Folge einer Gegebenheit gedeutet, für die der Begriff „Macht“ verwendet wird. Ein Zugang zum Machtbegriff ist somit nur nominaldefinitorisch zu erreichen. Die Rede von „Macht“ bezeichnet ein Explikationsmodell für eine bestimmte Abhängigkeitsdynamik4 zwischen Systemen, die sich in diversen Phänomenen darstellen kann – wir werden sie später „Machtformen“ nennen.

Die Phänomene, die als Ausdruck von Macht verstanden werden können, benötigen bestimmte Merkmale, um für das Explikationsmodell „Macht“ als geeignet qualifiziert zu werden. Webers als „klassisch“ zu bezeichnende Definition von Macht soll hier zunächst herangezogen werden, um solche Bestimmungskriterien ausfindig zu machen:

„Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“5

 

Weber setzt zwei Personen oder Parteien voraus, deren eine als Willensträger und deren andere als Ausführende in Erscheinung tritt. Die Chance auf Durchsetzung des eigenen Willens kann auf verschiedenen Ursachen beruhen. Die ausführende Partei empfindet ein Widerstreben, hat aber offenbar doch Gründe, der fremden Intention zu entsprechen.

Berachten wir diesen Definitionsversuch hinsichtlich seiner interaktionalen Voraussetzungen, um Machtphänomene6 als solche qualifizieren zu können, müssen also folgende Bestimmungskriterien zur Geltung gebracht werden: Die Phänomene müssen

a) an mindestens zwei verschiedenen Subjekten oder Gruppen als kausal aufeinander bezogen beobachtet werden, sie müssen

b) im Kontext einer Abhängigkeitsbeziehung zwischen diesen Subjekten oder Gruppen erklärt werden können und sie müssen

c) bei den Mächtigen als strategisches Interaktionsverhalten7 im Dienste eigener Interessen (Wille) interpretiert werden, bei den von Macht Betroffenen als ein Verhalten, das im Widerspruch (Widerstreben) zu einem Teil ihrer Interessen und Bedürfnisse steht.

1.2 Macht, Herrschaft und Gewalt

a) Das Verhältnis von Macht und Herrschaft

Es ist ein Kennzeichen von Macht, dass sie hinsichtlich der Forderungen des Mächtigen inhaltlich schier unbegrenzt erscheint. Macht ist – vergleichbar dem Tauschmedium Geld – offenbar vielfältig transformierbar, ihre Organisation kann so weit vorangetrieben werden, dass sie hinsichtlich der erreichbaren Zwecke universal wird.8 Wenn die Berechtigung von Machtansprüchen nicht für bestimmte Geltungsbereiche begrenzt wird (etwa Weisungsbefugnisse, Entscheidungskompetenzen etc.), sondern sich auf eine generelle Vormundschaft einer Person oder Gruppe gegenüber bezieht, wird sie indifferent gegenüber Zwecken. Abhängige können so zu beliebigen Handlungen gezwungen werden. Talcott Parsons hat Macht daher als ein „allgemeines Mittel“ beschrieben, das zur Erreichung beliebiger Ziele eingesetzt werden kann.9 Die Allgemeinheit der Macht impliziert zugleich ihre Unspezifiziertheit hinsichtlich eines konkreten Machtinteresses. Dies macht den Unterschied zur Herrschaft aus.

Bekanntlich hat Weber Herrschaft als „die Chance (bezeichnet), für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“10. Der Begriff der Herrschaft erfährt damit jenem der Macht gegenüber eine mehrfache Konkretion, zum einen hinsichtlich der von Macht Betroffenen („angebbare Personen“), zum anderen hinsichtlich der Form des Machtausdruckes (des „Machtphänomens“), nämlich des Befehls, und der Artikulation des Interesses des Mächtigen („für einen Befehl bestimmten Inhalts“). Herrschaft ist damit nach Weber eine Kraft mit relativ präziser Wirkgestalt und somit nicht mehr jenes amorphe oder „allgemeine Mittel“ (Parsons), das wir in der „Macht“ erkennen. Zugleich gilt, dass Herrschaft ohne Macht nicht denkbar ist; sie steht gewissermaßen hinter ihr. Herrschaft tritt erst auf, wenn die Form der anzuwendenden Macht, nämlich das Befehlen, entschieden ist und die Personen für die Ausführung des Befehls bestimmt sind. Herrschaft ist also dadurch gekennzeichnet, dass Macht in spezifischer Weise institutionalisiert worden ist und damit einige Regeln und Rollen geschaffen worden sind, die angebbare Personen zum Gehorsam verpflichten.11 Zugleich stellt Herrschaft auch eine Begrenzung der Transformationspotenziale dar, indem sie durch Regeln eingeschränkt werden. Der sogenannte „Machtmissbrauch“ ist tatsächlich ein „Herrschaftsmissbrauch“.

Im Vergleich zu Weber auf den Kopf gestellt hat der französische Organisationssoziologe Erhard Friedberg das Verhältnis von Macht und Herrschaft. Er entwickelt eine ganz andere Sichtweise auf die Begriffe Macht und Herrschaft und macht nicht Macht zur Voraussetzung von Herrschaft, sondern Herrschaft zur Voraussetzung von Macht. Im Anschluss an Chazel betrachtet er Herrschaft als einen strukturellen Aspekt der Macht und zugleich als eine faktische Voraussetzung von Macht, nämlich als Ausdruck der Ressourcendifferenz zwischen den InteraktionspartnerInnen:

„Herrschaft ist eine strukturelle Eigenschaft der Machtbeziehung: Sie spiegelt die grundlegende Asymmetrie der Ressourcen wider, auf die sich die Akteure bei ihren Transaktionen miteinander stützen können. Diese Herrschaft macht aber ihre Auswirkungen nicht in einer einzigen Richtung geltend (sie ist von ihrem Wesen her umkehrbar). Vor allem aber braucht sie für ihren Erhalt das Spiel der Machtbeziehungen. Herrschaft steht somit nicht im Widerspruch zu Macht, sie ist im Gegenteil eine Bedingung für die Ausübung von Macht und läßt sich nur durch sie wiederherstellen.“12

Auch für Friedberg ist Herrschaft damit der konkretere Begriff, ein Begriff zur Bezeichnung einer strukturellen, je historisch situierten Konkretion der Macht. Im Kontext seiner Theorie der „Spielkonstrukte“ der Macht betrachtet Friedberg Macht als eine Grunddimension menschlicher Beziehungen; menschliche Handlungssysteme erzeugen notwendigerweise Macht, „um es den Akteuren möglich zu machen, bei ihren Vorhaben zu kooperieren“13. Im kollektiven Handeln entsteht Macht in der „gleichzeitig gemeinsame(n) und autonome(n) Vermittlung der verschiedenen Ziele und Einsätze der betroffenen … Gegenspieler“14. Indem die Akteure ihre Kooperation strukturieren, schaffen sie „Spielkonstrukte“, in welchen sowohl die zu bewältigenden Probleme definiert werden wie auch das Handlungsfeld strukturiert wird. Dabei entstehen oder treten jene Differenzen im Verhältnis zu den Ressourcen hervor, die die konkrete Gestalt der Herrschaft in diesem Transaktionssystem ausmachen. Herrschaft wird also unter den Bedingungen vereinbarter Macht organisiert und drückt sich darin aus, dass Ressourcen unterschiedlich verteilt werden.

Friedbergs Ansatz ist für eine konstruktivistische Betrachtung insofern interessant, als er in den Begriffen „Macht“ und „Herrschaft“ eine Differenz formuliert, welche den Aspekt der Anerkennung gemeinsamer Ziele zwischen Mächtigen und Untergebenen von den Mechanismen und Strukturen trennt, die die unterschiedliche Verfügbarkeit über Ressourcen hervorbringen, legitimieren und auf Dauer stellen. Zugleich verdeutlicht der Ansatz die Relation zwischen Macht und Herrschaft: Beide geben sich wechselseitig Bestand; die Herrschaft der Macht, indem sie den Zugang zu Ressourcen regelt, welcher es erlaubt, Macht auszuüben; die Macht der Herrschaft, indem sie legitimiert, dass der Zugang zu Ressourcen so geregelt werden muss, wie er geregelt ist.15

b) Das Verhältnis von Macht und Gewalt

In der sozialwissenschaftlichen Fachsprache ist der Begriff der Gewalt kaum weniger diffus als in der Alltagssprache. Er übertrifft in dieser Hinsicht womöglich sogar die Vieldeutigkeit des Herrschaftsbegriffes.16 Alltagssprachlich scheint es eine Tendenz zu geben, Gewalt weitgehend mit physisch verletzenden Wirkungen zu verbinden (körperliche Gewalt), in geringerem Maße mit seelischer Quälerei (psychische Gewalt). In der sozialen Arbeit hat dieser Alltagsbegriff vor allem im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe eine gewisse Akzeptanz und Verbreitung. Die Relationen zwischen den Begriffen Gewalt, Macht und Herrschaft im sozialwissenschaftlichen Diskurs varieren ausgehend vom unterschiedlichen Gebrauch des Gewaltbegriffes in solchem Maße, dass es schwerfällt, überhaupt einen gewissen gemeinsamen Bedeutungskern auszumachen. Teilweise wird der Begriff „Gewalt“ mit jenem der Macht gleichgestellt17, teilweise gilt Gewalt – so bei Popitz – als die performative Gestalt oder Konkretion der Macht, teilweise wird der Gewaltbegriff – wie etwa bei Hannah Arendt – in einen Gegensatz zum Machtbegriff gestellt.18 Vollends unklar wird der Gewaltbegriff in der Konstruktion der sogenannten „strukturellen Gewalt“ nach Galtung, da sie nicht notwendig die Anwendung von Zwangsmitteln impliziert und somit im Grunde „Gewalt“ in diesem Verständnis mit dem Machtbegriff zu identifizieren ist. Gewalt wird sowohl im Symbolischen vermutet (etwa bei Bourdieu und Girard19), auch in der Sprache selbst20, als auch in den materiellen Verhältnissen (etwa bei Kerner21) und im Wesen des Gesellschaftlichen überhaupt (wie etwa bei Simmel22 und Foucault). Sucht man nach einem Restbestand an Gemeinsamkeiten in der Bedeutung, so bleibt offenbar nur festzustellen, dass in nahezu allen begrifflichen Bestimmungen von „Gewalt“ das Unmittelbare und Unrechtmäßige als Differenzkriterium zum Machtbegriff beschworen wird. Verbreitet, aber nicht universell, ist auch das logisch grundsätzliche Postulat, dass „Gewalt“, wie bei Weber schon „Herrschaft“, als eine Form der Macht jener begrifflich unterzuordnen sei. Gewaltanwendung ist insofern eine Anwendung eines Machtpotentials, als der/die Gewalttätige durch seine/ihre Handlung zum Ausdruck bringt, dass er/sie eine gewisse Verfügungsmacht über sein/ihr Opfer besitzt.

Allerdings abstrahiert der Gewaltbegriff auch von der sozialen Dimension der Verfügungsmacht und kann sich auch darin genügen, eine Beziehung zum Gegenständlichen zu bezeichnen. Schwartländer erfasst den Gewaltbegriff zunächst als „Gewalt über etwas“, d. h. als eine Verfügungsmacht über ein Objekt. Gewalt haben wir demnach über alles, was wir ergreifen und verändern, herstellen und gebrauchen können. Von diesem Verständnis ausgehend erscheint Gewalt im Umgang mit Menschen insofern als unrechtmäßig und verwerflich, als sie den Menschen wie eine Sache behandelt, fremden Zwecken unterwirft, über ihn verfügt und ihn als eigenständig handelndes Wesen nicht zur Geltung kommen lässt. Was zwischenmenschliche Gewalt von Macht unterscheidet, ist nach Schwartländer daher das „instrumentale Verfügen“ über den Anderen.23

Während die Bregiffe „Macht“ und „Herrschaft“ häufig synonym verwandt werden, findet sich für den Begriff der „Gewalt“ doch in der Regel ein prägnantes Differenzkriterium in der Anwendung von Zwang. Der Tendenz nach kann nach Klenner festgestellt werden, „dass Macht mehr die Möglichkeit eines allgemeinen Einflusses von Menschen auf Menschen bedeutet, deren tatsächliche, dauerhafte Über- und Unterordnung mit Herrschaft bezeichnet wird, während Gewalt mehr auf das Zwangsinstrumentarium und dessen Anwendung zur Interessensdurchsetzung des einen zu Lasten des anderen verweist“24.

1.3 Systematisierung der Machtphänomomene: Formen der Macht

Dem Begriff der Macht eignet etwas Metaphorisches. Ähnlich wie der „Weltgeist“, der „Wille Gottes“ oder die „Schicksalsmacht“ (!) dient der Begriff der Macht einer Metapher für eine unsichtbare, aber allgemein obwaltende Instanz, die Personen und Ereignisse zu steuern vermag. Dieses Vermögen, das sich auch aus der etymologischen Herkunft des Wortes „Macht“ vom germanischen „mahti“ (Können, Vermögen) herleiten lässt, verweist auf die Befähigung einer Person oder Wesenheit, etwas erreichen zu können. Es ist eine persönliche Qualität, auch wenn man dahinter wahlweise gesellschaftliche Strukturen, Talente oder eine metaphysische Ontologie vermuten mag.

Wenn Macht „zum Ausdruck kommt“, wenn sie „in Erscheinung tritt“, dann schreiben wir offenbar diesen Phänomenen („Erscheinungsformen“) eine bestimmte Wirkursache zu, die wir mit der personalen Quelle dieses Vermögens identifizieren: Macht formt sich aus als der Wille dieser Person. „Formen der Macht“ sind also in dieser Sichtweise Phänomene eines intentionalen Strebens von Mächtigen, von „Vermögenden“.