Tasuta

Mary, Erzählung

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Märgi loetuks
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Der Hund merkte, daß sie nicht froh sei. Er leckte ihr die Hände und guckte ihr in die Augen. Er winselte, weil er hochwollte und sie trösten.

Da nahm sie ihn auf und beugte sich über ihn, was er als Spiel auffaßte. Er schnappte nach ihren Händen. Darauf ging sie ein. Die fröhlichste Kinderei begann zwischen den beiden und wollte gar kein Ende nehmen, weil er nicht genug bekommen konnte; immer wenn sie aufhörte, fing er wieder an.

Da begann sie mit ihm zu plaudern: "Kleiner, schwarzer John, Du kommst mir wie ein Neger vor. Du erinnerst mich daran, daß Dein Name die Neger befreit hat. Befreit von der Sklaverei. Du hast mich davor bewahrt, in die Sklaverei zu kommen.

"Aber es ist eine schlechte Befreiung, weißt Du, wenn ich nicht mit Dir weiter leben darf. Findest Du das nicht auch?" Und dann weinte sie wieder.–Mit dichtverschleiertem Gesicht fuhr sie durch die Stadt von einem Bahnhof zum andern, den Hund neben sich auf dem Sitz. Sie sah keinen Bekannten. Aber wenn die wüßten—?

Oh, diese gerichtete und getötete Krähe, die Jörgen aufheben wollte, und vor der sie weglief,—sie wußte gar nicht, daß sie die so genau gesehen hatte! Den zerfetzten Hals, den zerhackten Bauch, die leeren Augenhöhlen,—das rote Fleisch grinste sie an, sie kam während dieser ganzen schrecklichen Fahrt nicht davon los.

Hier draußen war's Winter. Sie hatte seit vielen Jahren keinen Winter mehr gesehen. Die absterbende, hinwelkende Natur hatte sie gesehen, aber nicht die Umwandlungskraft des Winters, die die Verödung mit dem allerweißesten Weiß zudeckt und in Wald und Feld willkürlich Veränderungen schafft. Der Fjord war noch nicht zugefroren; er rauschte schwarzgrau von allen Seiten heran, herausfordernd, hart, wie ein Ungeheuer, das nach Kampf dürstet.

Die Fahrt durch die Stadt hatte ihre Phantasie aufgerührt, die jetzt in die Gewalt der Naturkräfte geriet. Ihre Ohnmacht wurde ihr umso tiefer fühlbar. Konnte sie den Kampf aufnehmen? Konnte sie ans Ziel kommen, bis die Zeit der Umwandlung da war? Sie mußte sich vorher ins Wasser stürzen.

Wie sie mit diesen Gedanken spielte,—sah sie ihres Vaters Gesicht vor sich. Wie konnte sie leben, ohne ihm zu sagen, was bevorstand? Nie, nie konnte sie ihm das sagen. Sie konnte ihm nicht einmal sagen, daß es mit Jörgen aus sei. Er würde das nicht ertragen können.

Wenn sie statt zu reden—verschwände?! Du ewiger Himmel; das würde ihn auf der Stelle töten.

Auf der ganzen Fahrt keine Angst mehr vor den andern und nicht ein bißchen Angst vor sich selber, einzig und allein vor ihm.—

–So ermattet, so voller Seelenangst kam sie heim, daß sie zu weinen anfing, als sie das Haus erblickte. Einen so schweren Gang waren wohl nicht viele gegangen. Selbst die Freudensprünge des Hundes, als er festen Boden unter sich hatte, konnten sie nicht ablenken. Sie ging nach oben, um sich zu waschen und umzukleiden, und bat, man möge ihren Vater und Frau Dawes benachrichtigen, daß sie wieder da sei. Das kleine Mädchen war mit in ihrem Zimmer und half ihr; es war Mary nicht angenehm, daß Nanna in jedem freien Augenblick mit dem Hunde spielte; aber sie sagte nichts.

Sie sah sehr angegriffen aus. Daß sie geweint hatte, war deutlich zu sehen.

Aber das war vielleicht ganz gut. Dann merkte er doch gleich, daß es nicht gut stehe. Wenn er es nur überstände! Sie mußte ihm dann schnell auseinandersetzen, daß die Reise lang und beschwerlich gewesen sei, und daß Jörgen das Vermögen in ihrer Stellung nicht ausreichend finde, um sich daraufhin zu verheiraten. Sie müßten auf Onkel Klaus warten.

Wenn sie weinen mußte, und das mußte sie sicher, so müde und verzagt, wie sie jetzt war, so war das eine Vorbereitung für das nächste Mal. Wenn er es nur überstände.

Aber was sollte sie anders tun? Wenn sie nicht sofort kam, ahnte er Unheil und ängstigte sich, und das konnte er auch nicht vertragen.

Sie zitterte, als sie vor der Tür stand. Nicht bloß aus Angst vor ihm, nein, auch weil sie nicht vor ihm niedersinken und ihm alles sagen und sich bei ihm ausweinen durfte. Wie schrecklich das alles war.—

Aber das Leben ist manchmal barmherzig.

Er war nicht von ihrer Ankunft benachrichtigt worden, weil er schlief. Die Pflegerin stand draußen auf dem Flur, um Mary Bescheid zu sagen, wenn sie komme. Warum sie nicht anklopfte und es ihr durch die Tür zurief? Weil das nun einmal so ihre Art war. Als Mary jetzt herauskam, stand aber die Pflegerin nicht auf dem Flur, sondern auf der Treppe. Das Mädchen brachte nämlich das Mittagessen für den Kranken; das holte die Pflegerin sonst immer selbst, und geniert, daß sie es heute nicht hatte tun können, wollte sie ihr doch wenigstens entgegengehen und es ihr auf der Treppe abnehmen.

Gerade in diesem Augenblick öffnete Mary die Tür zu ihres Vaters Zimmer. Sie blieb auf der Schwelle stehen, weil die Pflegerin jetzt auf sie zukam und flüsterte: "Er schläft, gnädiges Fräulein!"

Der Hund aber kümmerte sich nicht darum. Der war schon drin, hatte die Pfoten auf den Bettrand gelegt und das Gesicht war dicht vor dem Antlitz des Kranken, der gerade aufwachte. Aufwachte, wo diese schwarze Fratze ihm in die Augen starrte. Sie öffneten sich weit und schweiften voll Entsetzen durch das Zimmer, wo sie Marys Blick begegneten. Sie stand bleich und wie gelähmt vor Schreck in der Tür. Er wandte den Kopf nach ihr hin, seine Augen blieben an ihr hängen, es kam ein Seherblick in sie. Dann sank der Kopf zurück.

"Er stirbt!" schrie die Pflegerin hinter ihr auf. Sie setzte das Tablett hin und eilte zu ihm.

Mary konnte es zuerst nicht glauben; aber als sie es begriff, warf sie sich mit einem herzzerreißenden Schrei über ihn. Der fand im Zimmer nebenan bei Frau Dawes einen Widerhall. Als sie dorthin eilten, lag sie ohne Bewußtsein. Sie kam nachher so weit zu sich, daß sie die Zunge bewegen konnte. Sie stammelte allerhand in einem krausen Englisch, das keiner verstand;—der Arzt aber sagte, es sei mit ihr gewiß auch bald aus. Der Vater war tot.

Mary klammerte sich an ihren Verstand, als halte sie ihn in ihren Händen. Jetzt galt es, jetzt galt es; nur nicht nachgeben. Nicht schreien, nicht denken. Denn sie hatte ihn ja nicht getötet! Es hieß: fassen und begreifen, was die andern sagten, und dem Vorschlag beistimmen, daß ihres Vaters Schwester geholt werden solle. Es galt, ihrem eigenen Jammer nicht freien Lauf zu lassen, als sie die Trauer der Tante sah. Es galt, es galt! "Hilf mir, hilf mir," schrie sie, "daß ich nicht wahnsinnig werde!" Und zum Doktor sagte sie: "Ich habe ihn nicht getötet,—oder doch?"

Er schickte sie zu Bett, machte ihr kalte Umschläge und verließ sie nicht. Auch er versicherte, es gelte!

Erst als die kleine Nanna am andern Morgen früh mit dem Hunde zu ihr kam und der bei ihr im Bett liegen wollte, konnte sie weinen.

Im Lauf des Tages wurde es besser; denn durch das Telephon strömte eine so gewaltige Menge von Telegrammen ins Haus, und es war eine so herzliche, oft tiefbewegte Teilnahme in ihnen ausgedrückt, daß ihre Trauer davor schmolz. Dieses Mitgefühl, diese Bewunderung für ihren Vater und der innige Wunsch, sie zu trösten und zu stärken, halfen ihr. Durch die unvorsichtige Abschrift einer dieser telephonischen Depeschen erfuhr sie, daß auch Frau Dawes tot war. Man hatte sich nicht getraut, es ihr zu sagen. Aber die große allgemeine Teilnahme half ihr auch darüber hinweg. Jetzt erst verstand sie die Teilnahme ganz. Alle außer ihr hatten gewußt, daß sie die beiden verloren hatte, und daß sie nun ganz allein stand.

Am meisten erschütterte sie ein Telegramm aus Paris, das folgenden Wortlaut hatte: "Meine geliebte Mary! Wenn Dich in Deinem großen Schmerz das Bewußtsein trösten kann, daß Du bei mir ausruhen kannst, so bestimme über mich; ich will mit Dir reisen, ich will zu Dir kommen, ganz wie Du wünschst! Treulich Deine Alice."

Sie ahnte, wer Alice benachrichtigt hatte.

Auch Jörgen telegraphierte: "Wenn ich Dir im geringsten nützlich sein oder Dich trösten kann, so komme ich sofort. Ich bin zerschmettert und verzweifelt."

Die gleiche rührende und ehrenvolle Teilnahme zeigte sich auch beim Begräbnis, das drei Tage später stattfand. Man hatte es um Marys willen möglichst früh angesetzt.

Es kamen Blumensendungen ohne Ende, vor allem aber ein Kranz von Alice.

Frische norwegische Blumen.

Er wurde zu Mary hinaufgebracht, sie wollte ihn sehen. Das ganze Haus war von Blumenduft erfüllt, mitten im Winter; der Hauch der Liebe breitete sich über die Schlummernden.

Sie war nicht unten; sie mochte die Särge und die Blumen und die Vorbereitungen nicht sehen. Unten in den Zimmern wurden denen, die weither kamen, Erfrischungen gereicht.

Aber es erschienen viel mehr Menschen, als das Haus fassen konnte, und unten an der Kapelle war ein noch größerer Andrang.

Der Pfarrer fragte, ob er zu dem gnädigen Fräulein hinaufkommen dürfe.

Sie ließ ihm danken, sagte aber nein.

Gleich darauf fragte die kleine Nanna, ob "Onkel Klaus" sie begrüßen dürfe. Er hatte ein rührendes Telegramm geschickt und angefragt, ob er ihr irgendwie behilflich sein könne. Außerdem war der Kranz von ihm so großartig,—wie die Dienstboten versicherten—daß man auch den nach oben gebracht hatte, damit sie sich ihn ansehen solle.

Sie sagte ja. Und herein kam der große Mann im schwarzen Anzug, schnaufend, als falle ihm das Atmen schwer. Kaum war er im Zimmer und sah Mary wie eine Elfenbeinstatue mit dem schwarzen Kleid neben ihrem Bett stehen, da setzte er sich auf den nächsten Stuhl und brach in Tränen aus. Es klang, als wenn in einer großen Uhr die Feder springt und das ganze losschnarrt. Es war das Weinen eines Mannes, der seit seiner Kindheit nicht mehr geweint hatte. Ein Weinen, das sich über sich selbst entsetzte. Er sah nicht auf.

Aber er hatte etwas auf dem Herzen, das merkte sie. Es war, als wolle er ein paarmal einen Anlauf nehmen, aber dann packte ihn das Weinen noch schlimmer. Da winkte er mit der Hand ab. Das galt nicht ihr, das galt ihm selbst; er konnte nicht. Er stand auf und ging. Die Tür machte er nicht hinter sich zu. Sie hörte ihn schluchzen den Flur entlang und die Treppe hinunter. Vermutlich brach er jetzt sofort auf.

 

Mary war ergriffen. Sie wußte, ihr Vater war sein bester, vielleicht sein einziger Freund gewesen. Aber sie ahnte, daß das Weinen nicht nur ihrem Vater galt; es lag auch unmittelbare Teilnahme darin und Reue. Sonst wäre er unten am Sarge geblieben.

Die schöne Glocke der Kapelle begann zu läuten. Der Hund, der den ganzen Tag bei ihr im Zimmer hatte bleiben müssen und sehr unruhig gewesen war, stürzte jetzt ans Fenster, das auf die See hinausging, und legte die Pfoten aufs Fensterbrett, um hinauszusehen. Mary trat zu ihm.

Im selben Augenblick fuhr Onkel Klaus fort. Unten in den Zimmern aber wurde ein Choral angestimmt, das Trauergefolge kam. Die beiden Särge wurden von Bauern der Umgegend getragen. Als der erste herauskam, sank Mary in die Knie und weinte, als solle das Herz ihr brechen. Weiter sah sie nichts.

Sie lag auf dem Bett, das Glockengeläute schnitt ihr ins Herz; sie hatte das Gefühl, es müsse Furchen durch die Seele ziehen. Ihre Sinne verwirrten sich immer mehr; sie war überzeugt, ihr Vater habe, als sie in der Tür stand, in sie hineingesehen, und daran sei er gestorben. Frau Dawes war ihm wie immer gefolgt. Er war die einzige, große Liebe ihres Lebens gewesen. Jetzt waren sie beide bei ihr. Auch ihre Mutter in einem weißen, schleppenden Kleide. "Du frierst, Kind!" Sie nahm sie in die Arme, denn Mary war wieder ein kleines Kind und ganz unschuldig. Darüber schlief sie ein.

Aber als sie aufwachte und draußen und drinnen keinen Laut hörte,—das Haus war leer … da faltete sie die Hände und sagte halblaut: "Es war das beste für uns drei. Das Schicksal war barmherzig mit uns."

Sie sah sich nach dem Hund um; sie brauchte Teilnahme. Aber irgendeiner mußte ihn hinausgelassen haben, während sie schlief.

Das genügte, um wieder in Tränen auszubrechen. Perle auf Perle aus der unerschöpflichen Schmerzensquelle rann ihr über Wangen und Hände, wie sie so dalag und den schweren Kopf stützte.

"Jetzt kann ich anfangen, wieder an mich selbst zu denken. Jetzt bin ich allein."

* * * * *

Entscheidung

Am nächsten Tage ging sie zu den Gräbern hinunter. Ihr Schmerz wurde durch einen kleinen Zwischenfall abgelenkt.

Es war Sonnabend und morgen war einer der wenigen Sonntage des Jahres, da in der Kapelle Gottesdienst stattfand. Zu solchen Tagen pflegten wohl die Gräber geschmückt zu werden. Da das rechte Nachbargehöft früher zu Krogskog gehört hatte, hatten die Leute hier ihren Begräbnisplatz. Die Frau war hingekommen, um ein frisches Grab zu schmücken, und der alte Wolfshund hatte sie begleitet. Natürlich flog Marys kleiner Pudel treuherzig auf ihn zu, und zu Marys und der Frau Erstaunen nahm der alte Hund nach einer umständlichen und vorsichtigen Beriechung den kleinen Narren in seine Freundschaft auf. Er, der sonst keine jungen Hunde leiden mochte, verliebte sich in ihn. Er litt, daß er ihn an den Ohren zerrte und ihn in die Beine biß, ja, er legte sich vor ihm nieder und spielte den Überwundenen. Mary machte das solche Freude, daß sie die Frau ein Stück begleitete, um dem Spiel zuzusehen. Und sie wurde dafür belohnt; denn sie hörte warme Lobesworte über ihren Vater und einen Widerhall all dessen, was in diesen Tagen in der Umgegend gesprochen worden war und den Grund zu seinem Nachruhm legte.

Als sie mit dem Hunde, der jetzt sehr aufgekratzt war, wieder nach Hause ging, dachte sie: werde ich wohl Mutter ähnlich? Ist irgend etwas in mir, das bisher keinen Platz gehabt hat? Etwas Idyllisches?

Es warteten ihrer an diesem Tage zwei Dinge.

Das eine war ein Brief von Onkel Klaus, er nannte sie "Hochverehrtes, liebes Patenkind, Fräulein Mary Krog."

Daß er ihr Pate war, hatte sie nicht geahnt. Das hatte ihr Vater ihr nie gesagt; wahrscheinlich wußte er es gar nicht.

Onkel Klaus schrieb:

"Es gibt Gefühle, die zu stark für Worte sind, zumal für geschriebene. Ich bin kein Held der Feder; ich nehme mir nur die Freiheit, Dir schriftlich mitzuteilen,—weil ich es mündlich nicht konnte,—daß ich an demselben Tage, da mein unvergeßlicher Freund, Dein Vater, starb, und Frau Dawes, Deine edle Pflegemutter, gleichfalls starb, und Du allein zurückbliebst, Dich, mein liebes Patenkind, zu meiner Erbin eingesetzt habe.

Mein Vermögen ist bei weitem nicht so groß, wie allgemein angenommen wird; ich habe auch in der letzten Zeit viel Pech gehabt. Aber es ist schließlich doch genug für uns beide, wenn Du Deinen Teil verwaltest und nicht Jörgen. Ich gehe nämlich davon aus, daß Ihr jetzt heiratet.

Seit vielen Jahren habe ich Frau Dawes' Testament bei mir liegen, wie ich auch ihr Geld in Verwaltung gehabt habe. Gestern habe ich das Testament geöffnet. Sie hat Dir alles vermacht, was sie besitzt. Es sind wohl an sechzigtausend Kronen. Aber es ist mit diesem Gelde ebenso bestellt wie mit dem Gelde Deines Vaters: es trägt zurzeit so gut wie keine Zinsen.

Dein Pate Klaus Krog."

Mary antwortete sofort:

"Mein lieber Pate!

Dein Brief hat mich tief gerührt. Ich danke Dir von ganzem Herzen.

Aber Dein großes Geschenk darf ich nicht annehmen.

Jörgen ist doch Dein Pflegesohn, und ich möchte ihm in keiner Weise im Wege stehen.

Du darfst mir das nicht übelnehmen. Ich kann unmöglich anders handeln.

Über Frau Dawes' Testament werde ich später meine Bestimmungen treffen und sie Dir dann mitteilen.

Deine dankbare Mary Krog."

Als sie den Brief fertig hatte, hörte sie einen Wagen vorfahren. Gleich darauf wurde ihr eine Visitenkarte überbracht; darauf stand: Margrete Röy, cand. med.

Es dauerte eine Weile, bis sie hereinkam; sie hatte ihren Reisemantel abgenommen; es war ein kalter Tag. Das erhöhte Marys Spannung beträchtlich, so daß sie, als die hohe, kräftige Frauengestalt mit den guten Augen in der Tür stand, blaß wurde und zitterte. Sie merkte, was das auf die guten Augen für einen Eindruck machte, die jetzt ihr ganzes Mitgefühl über sie hinströmten. Als kennten sie beide sich seit vielen Jahren, ging Mary ihr entgegen, legte den Kopf an ihre Schulter und weinte. Margrete Röy zog das unglückliche Mädchen warm an ihre Brust.

Sie setzten sich. Sie wollte sich erkundigen, wann Mary ins Ausland gehe. Mary war sehr erstaunt: "Habe ich darüber mit jemandem gesprochen?"—Margrete Röy erklärte ihr, sie habe es von der Pflegerin erfahren. "Ach," antwortete Mary, "was ich in dem Zustand gesagt habe, weiß ich nicht mehr. Ich habe jedenfalls nachher nicht wieder daran gedacht."

"Also Sie wollen nicht fort?" Mary bedachte sich eine Weile. "Ich kann es wirklich noch nicht sagen. Soweit bin ich noch nicht wieder zu mir selbst gekommen." Margrete Röy wurde verlegen. Das sah Mary, oder richtiger, sie fühlte es. "Wollen Sie etwa auch ins Ausland?" fragte sie. "Ja. Ich wollte hören, ob ich Ihnen irgendwie dienlich sein kann, dann wollte ich meine Reise nach Ihrer einrichten."—"Wohin reisen Sie denn?"—"Ich reise im Interesse meines Studiums und fange mit Paris an. Die Pflegerin sagte mir, dahin wollten Sie auch", fügte sie hinzu. Sie war ganz schüchtern geworden. Sie hatte Mary helfen wollen und kam sich nun aufdringlich vor. "Ich weiß, Sie meinen es gut", antwortete Mary. "Es kann ja sein, daß ich von Paris gesprochen habe. Ich erinnere mich nicht. In Wirklichkeit habe ich noch nichts beschlossen."—"Ja, dann müssen Sie schon verzeihen. Dann beruht alles auf einem Mißverständnis." Fräulein Röy stand auf.

Mary hatte das Gefühl, sie müsse sie zurückhalten; aber sie hatte nicht die Kraft. Erst an der Tür vertrat sie Fräulein Röy den Weg. "Ich möchte in den nächsten Tagen einmal mit Ihnen sprechen, Fräulein Röy." Sie sagte es sehr leise und blickte nicht auf. "Heute fühle ich mich nicht kräftig genug", fügte sie hinzu.—"Das sehe ich. Das habe ich auch angenommen. Deshalb habe ich Ihnen etwas mitgebracht, wovon Sie vielleicht Gebrauch machen können. Es ist das beste Kräftigungsmittel, das ich kenne."

Nein, wie sympathisch ihr ganzes Wesen Mary berührte. Sie dankte ihr herzlich.

"Wenn ich etwas gesunder bin, komme ich also."—"Sie sollen mir willkommen sein."—"Ja," sagte Mary errötend, "es ist Ihnen doch nicht unangenehm, zu mir zu kommen?"—"In Ihr Haus am Markt?" fragte Margrete Röy; sie wurde auch rot.—"In unser Haus am Markt, ja. Aber ich kann wohl gar nicht mehr 'unser' sagen?" Ihr kamen wieder die Tränen. "Wenn Sie mich nur verständigen, komme ich hin."

Acht Tage später kam sie.

In einem wütenden Novembersturm, wie man ihn schlimmer in jener Gegend nie erlebt hatte. Das Wasser war noch nicht zugefroren, so daß Dampfer verkehren konnten. Aber nur mit Not und Mühe. Und bei der Stadt mußten sie Halt machen.

Margrete Röy war höchlichst erstaunt, als sie an diesem Tage die Nachricht erhielt, sie möge in das Krogsche Haus am Markt kommen.

Sie kam in ein warmes behagliches Haus hinein und war doch gewohnt, es ausgestorben mit heruntergelassenen Vorhängen zu sehen. Sie wurde eine breite, altmodische Treppe hinaufgeführt; es war die ganze Stilart der alten Stadthäuser zu Beginn des vorigen Jahrhunderts.

Mary saß in einem roten Boudoir, das seit den Lebzeiten ihrer Mutter unverändert geblieben war. Sie saß auf dem Sofa unter einem großen Porträt der Mutter. Als sie aufstand in ihrem schwarzen Kleide, bleich und mit müden Augen unter dem roten Haar, da erschien sie Margrete Röy wie die Verkörperung des Schmerzes, die schönste, die man sich vorstellen konnte. Es lag eine Feiertagsruhe auf ihrem Wesen. Sie sprach so leise, wie der Sturm draußen es irgend gestattete.

"Ich fühle, Sie ehren das Leid eines anderen Menschen. Ich bin auch überzeugt, daß Sie verschwiegen sind."—"Das bin ich."—Es dauerte eine Weile, bis Mary sagte: "Was für ein Mensch ist Jörgen Thiis?"—"Was für ein Mensch er ist?"

"Aus verschiedenen Gründen nehme ich an, daß Sie mir das sagen können."—"Da muß ich aber erst fragen: sind Sie nicht mit Jörgen Thiis verlobt?"—"Nein."—"Man hat es gesagt."—Mary schwieg.—"Ja, sind Sie denn auch nicht mit ihm verlobt gewesen?"—"Doch."—Da sagte Margrete rasch und freudig: "Aber Sie haben die Verlobung aufgehoben?"—Mary nickte.—"Das wird manchem eine Freude bereiten; Jörgen Thiis ist Ihrer nicht würdig." Das schien Mary nicht in Erstaunen zu setzen. "Sie wissen etwas?" fragte sie.—"Ein Frauenarzt, liebes Fräulein, weiß mehr, als er erzählen kann."—"Aber ich glaube doch, er hat mich geliebt", sagte Mary, um sich zu entschuldigen.—"Das haben wir alle gemerkt", antwortete Margrete. "Er liebte Sie sicher mehr als je eine zuvor." Und sie fügte hinzu: "Das war nicht zu verwundern … Aber in Kristiania habe ich ein junges, süßes Mädel gekannt, die damals seine Einzige war! Sie war ganz aus dem Häuschen, und da sie sich nicht heiraten konnten, gab sie sich ihm hin."—"Was tat sie?" Mary schrak auf; hatte sie recht gehört? Es stürmte draußen so sehr, daß man einander schwer verstehen konnte. Margrete wiederholte deutlich und mit Betonung: "Sie war ein warmherziges Ding und glaubte, sie sei wirklich seine Einzige."—"Sie konnten sich nicht heiraten?"—"Sie konnten sich nicht heiraten. Da gab sie sich ihm hin."

Mary fuhr in die Höhe, blieb aber stehen. Sie hatte etwas sagen wollen, hielt aber inne.

"Erschrecken Sie nicht so, Fräulein Krog, das ist nichts Seltenes." Bei dieser Auslegung war es Mary, als sinke sie in eine tiefere Klasse herab. Sie setzte sich langsam wieder hin. "Sie haben gewiß in solchen Dingen gar keine Lebenserfahrung, Fräulein Krog."—Mary schüttelte den Kopf.—"Dann wundert es mich, daß Sie beizeiten von Jörgen Thiis losgekommen sind; der hat Routine."—Mary antwortete nicht. "Wir nahmen an, Sie würden noch vor dem Herbst heiraten. Besonders als Ihr Vater und Frau Dawes krank wurden."—"Das wollten wir auch, aber es stellte sich als unmöglich heraus."

Margrete konnte nicht ergründen, was hinter dieser rätselhaften Antwort steckte. Aber sie sagte mit forschenden Augen: "Da wuchs wohl seine Begierde ganz bedeutend?"—Es bebte in Mary, aber sie zwang es nieder. "Sie scheinen ihn zu kennen?"—Margrete bedachte sich eine Weile: "Ja," sagte sie, "ich bin ja älter als Sie,—auch älter als er. Aber—zu meiner Schande sei's gesagt,—in Kristiania vergaffte ich mich auch in ihn. Das merkte er—und versuchte sein Heil." Sie lachte.

Mary wurde bleich, sie erhob sich und trat ans Fenster. Draußen peitschten Sturm und Regen mit wachsender Gewalt gegen die Scheiben; sie mußten jetzt ganz laut sprechen. Mary stand eine Weile und blickte in das Unwetter hinaus, kam dann zurück und stellte sich aufgeregt und unruhig vor Margrete hin.

 

"Wollen Sie mir versprechen: niemals einem Menschen zu sagen, worüber wir heute geredet haben?—Unter keinen Umständen?"—Margrete sah sie verwundert an: "Ich soll niemandem erzählen, daß Sie mich nach Jörgen Thiis gefragt haben?"—"Ich wünsche absolut, daß keiner es erfährt."—"Auf wen geht das?"—Mary sah sie an: "Auf wen das geht?" Sie verstand die Frage nicht. Margrete aber stand auf: "Ein Mensch kam eigens in diese Stadt, um Ihnen zu sagen, daß Jörgen Thiis Ihrer nicht würdig sei. Er kam zu spät. Aber mir scheint, er verdient zu erfahren, daß Sie jetzt selbst dahintergekommen sind, was für ein Mensch Jörgen Thiis ist."—Mary antwortete eifrig: "Dem sagen Sie's! Dem können Sie es sagen.—So ist er deshalb gekommen?" fügte sie langsam hinzu. "Es ist mir lieb, daß Sie mir das gesagt haben! Mein zweites Anliegen war nämlich … (sie hielt einen Augenblick inne); das zweite, was ich Ihnen zu sagen hatte, war … Sie sollen Ihren Bruder grüßen. Von mir."—"Das will ich tun. Und ich danke Ihnen dafür! Sie wissen, was Sie meinem Bruder sind." Marys Augen wichen ihr aus. Sie kämpfte eine Weile mit sich. "Ich bin eine von den Unglücklichen," sagte sie, "die ihr eigenes Leben nicht ins Lot bringen können,—nicht das, was geschehen ist. Ich kann den Faden nicht finden. Aber mir ist, als wenn Ihr Bruder Anteil daran habe."—Sie wollte wohl noch mehr sagen, vermochte es aber nicht. Sie trat statt dessen wieder ans Fenster und blieb da stehen. Das Unwetter draußen drang mit tausendstimmiger Wut ins Zimmer. Es schrie förmlich nach ihr. "Herrgott, was für ein Wetter", sagte Margrete mit lauter Stimme. "Ich freue mich, in das Wetter hinauszukommen", sagte Mary, indem sie sich mit leuchtenden Augen umwandte. "Sie wollen in diesem Wetter hinaus?" rief Margrete. "Ich will nach Hause gehen!" antwortete Mary. "Noch obendrein gehen?!" Mary kam heran und stellte sich vor sie hin, als wolle sie etwas Gewaltiges, Ungestümes sagen. Sie hielt freilich inne; aber das Unausgesprochene stürmte empor in ihre Augen, in ihr Gesicht, in ihre Brust, daß sie die Arme in die Luft reckte und mit einem lauten Aufstöhnen auf das Sofa ihrer Mutter niedersank. Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.

Da kniete Margrete vor ihr hin. Mary ließ sich umarmen und wie ein müdes krankes Kind an ihre Brust ziehen. Auch das Weinen brach rührend und hilflos wie das Weinen eines Kindes aus ihr hervor; ihr Kopf sank auf die Schulter der Freundin.

Nur einen Augenblick. Dann richtete sie sich mit einem Ruck empor. Denn Margrete hatte ihr zugeflüstert: "Ihnen fehlt etwas. Sagen Sie es mir!"

Kein Wort als Antwort. Da wagte Margrete nichts mehr zu sagen. Sie stand auf; sie fühlte, hier war nichts mehr für sie zu tun.

Mary tat auch nichts, um sie zurückzuhalten. Sie war auch aufgestanden, und so sagten die beiden sich Lebewohl.

Aber als Margrete an der Tür stand, konnte sie doch nicht umhin, noch einmal zu fragen: "Wollen Sie wirklich hinaus—?" Mary nickte, als wolle sie sagen: "Genug davon! Das ist meine Sache."

Da ging Margrete.

* * * * *

Die Laternen brannten schon, als Mary vor ihrem Hause stand. Sie konnte sich bei den Windstößen nur mühsam aufrechthalten, die sich von Südwesten her zwischen den Häusern durchpreßten. Sie hatte einen wetterfesten Mantel um mit einer Kapuze und hohe, gut schließende, wasserdichte Stiefel. Sie ging so rasch sie konnte. Eine einzige Vorstellung war von dem Gespräch mit Margrete Röy in ihr zurückgeblieben. Aber die jagte sie vorwärts, die peitschte ihr mit dem Regen zusammen in den Rücken:—Margretes entsetzte Augen und ihr bleiches Gesicht, als sie gesagt hatte: "Ihnen fehlt etwas? Sagen Sie's mir!" Himmlischer Vater, sie wußte es! So würden alle sie ansehen, wenn sie es erfuhren! So tief hatte sie die Leute enttäuscht und gekränkt in ihrem Glauben an sie. Ihr war's, als seien sie alle hinter ihr her, als fliehe sie vor ihnen. Vor dem Krähenschwarm! Sie stürmte dahin und war außerhalb der Stadt, ehe sie selbst es merkte. Hier draußen, wo keine Laternen mehr standen, war es stockfinster; sie mußte eine Weile stillstehen, bis sie den Weg sehen konnte. Aber dann ging's erst recht vorwärts! Sie hatte den Orkan halb von hinten, halb von der Seite.

Das war der Richterspruch, der sie aus Land und Reich verjagte! Der sie noch weitertrieb! Ihr war's von der ersten Stunde an, da ihr Klarheit wurde über ihre Lage, gewesen, als habe sie ein Paket geschenkt bekommen, das sie bis jetzt nicht aufgemacht hatte. Sie hatte die ganze Zeit über geahnt, was darin war; aber eigentlich hatte sie es erst gestern aufgemacht. In dem Paket war ein großer schwarzer Schleier, in den sie sich und ihre Schande einhüllen konnte, der Schleier des Todes. Aber auch der Schleier wurde ihr nur bedingungsweise geschenkt. Unter einer Bedingung, die sie von Kind auf kannte. Damals war ihr die Geschichte einer Großtante erzählt worden, die es hatte verheimlichen wollen, daß sie während der Abwesenheit des Mannes schwanger geworden und deshalb heimlich Abend für Abend mit bloßen Füßen auf dem eiskalten Fußboden umhergelaufen war. Sie hatte den natürlichen Tod sterben wollen, der die Folge davon sein mußte. Dann wüßte keiner, daß sie sich das Leben genommen habe, und das Warum kam nicht heraus.

Aber irgendeiner hatte sie Nacht für Nacht so auf und ab gehen hören; daher kam es doch heraus.

Das wollte sie jetzt besser machen!

Die Schwäche, die vor Margrete so unerwartet über sie gekommen, war völlig geschwunden. Jetzt hatte sie Kraft zu ihrem Vorhaben.

Als solle ihr Mut sofort auf die Probe gestellt werden, tauchte neben ihr etwas Schattenhaftes auf. Es trat ungeahnt aus dem Dunkel hervor und so beängstigend nahe, daß sie zu laufen anfing. Das Entsetzen, als sie durch das Toben der Elemente zu hören meinte, es komme hinter ihr hergelaufen! Da fand sie ihre Fassung wieder und blieb stehen. Da blieb das hinter ihr auch stehen. Sie ging weiter; da ging das Schattenhafte auch weiter. Nein, dachte sie: wenn ich nicht den Mut habe, dieser Sache auf den Grund zu gehen, so habe ich auch den Mut nicht zu dem ändern. Damit drehte sie sich um und ging direkt auf das Ungeheuer zu, das sie verfolgte: es wieherte gutmütig,—es war ein junges Pferd. Es war gesattelt und suchte in seiner Verlassenheit den Menschen. Sie streichelte es und sprach mit ihm. Es war doch ein Gruß des Lebens, ein Verlassener, der eine Verzweifelte tröstete. Aber als es weiter mitging, lieferte sie es auf dem nächsten Bauernhof ab. Sie mußte allein sein. Die Leute waren höchlichst erstaunt. Daß jemand in dem Wetter draußen war, und noch dazu eine Frau! Sie floh hastig aus der Helle wieder ins Dunkel hinaus.

Das kleine Ereignis hatte sie gestärkt; sie wußte jetzt, daß sie Mut hatte. Und rasch schritt sie vorwärts.

Sie mußte jetzt über den ersten Hügel, den der Weg durchquerte. Ob es wirklich so war, oder ob es ihr nur so schien: der Sturm nahm beständig zu. Er mußte doch bald seinen Höhepunkt erreicht haben. Aber für sie lag all ihr eigener Jammer und ihre Schande darin. Gerade das gab ihr Kraft. Nicht vor dem Tode hatte sie Furcht,—nur vor dem Leben.

Im Weiterschreiten durchdachte sie alles noch einmal. Sie wollte ihr Kind nicht verraten, nicht sich selbst retten, indem sie das Kind töten ließ. Es nicht zu fremden Leuten geben und dann verleugnen. Nicht leben ohne Selbstachtung.

Wenn ein Bewerber käme—und sicher kämen jetzt genau so viele wie früher!—sollte sie es ihm dann gestehen? Oder schamlos verschweigen? Es gab nur eins, was sie mit Ehren tun konnte: mit ihrem Kinde zusammen untergehen. Zu nichts anderem fühlte sie sich fähig. Aber das mußte so geschehen, daß keiner etwas merke. Sie mußte an einer Krankheit sterben; also hieß es, sich diese Todeskrankheit zuzuziehen.