Tasuta

Eine Spur von Tod

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Märgi loetuks
Eine Spur von Tod
Eine Spur von Tod
Tasuta audioraamat
Loeb Birgit Arnold
Lisateave
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

KAPITEL NEUN

Montag

Nacht

Johnnie Cotton saß bereits im Vernehmungszimmer, als Keri auf dem Revier ankam. Ray war genau hinter ihr gefahren, er musste jeden Augenblick eintreffen. Hillman war nirgends zu sehen, aber Detective Cantwell hatte sie bereits erwartete, um ihr auszurichten, dass sie wieder an dem Fall arbeitete, und dass sie autorisiert war, Cotton zu befragen. Er sagte es ganz beiläufig, aber sie konnte spüren, dass es ihm gegen den Strich ging. Sie beschloss, nicht weiter darauf einzugehen.

Während sie auf Ray wartete, beobachtete sie Johnnie Cotton durch die verspiegelte Glasscheibe des Vernehmungszimmers. Da sie ihm in seinem Haus nicht begegnet war, sah sie ihn jetzt zum ersten Mal.

Er sah nicht aus, wie man sich einen Pädophilen vorstellte. Er hatte keine geschwollenen Tränensäcke, kein fliehendes Kinn, keine abfallenden Schultern. Er war weder dick noch blass. Er sah eigentlich ganz normal aus – dunkles Haar, mittelgroß, vielleicht ein bisschen verpickelt für einen Mann seines Alters. Alles in allem war er unscheinbar, was Keri besonders beunruhigte. Es wäre einfacher, wenn man solche Typen auf einen Blick erkennen könnte.

Er stand in einer Ecke des Raumes, die Hände vor dem Bauch gefesselt, den Rücken an die Wand gelehnt. Sie nahm an, dass ihm diese Position im Gefängnis das Leben gerettet hatte. Pädophile wurden im Gefängnis nicht gerade geschätzt.

Da fasste Keri einen Entschluss. Sie würde nicht auf Ray warten. Etwas an diesem Typen ließ sie vermuten, dass er sich vollkommen verschließen würde, wenn ihr furchteinflößender Partner im Raum war. Diesen Trumpf konnte sie später ausspielen, falls es nötig wäre.

Sie betrat das Vernehmungszimmer.

Cotton sah sie an und wandte sich ihr sofort zu.

„Kommen Sie her“, sagte Keri. Der Mann folgte ihrer Aufforderung. „Folgen Sie mir.“

Sie führte ihn aus dem Vernehmungszimmer heraus, den Gang entlang. Cantwell und Sterling, die sich dort unterhielten, sahen ihnen erstaunt hinterher.

„Locke, was tun Sie da?“, donnerte Sterling.

„Wir sind gleich zurück.“

Sie brachte ihn auf die Damentoilette am Ende des Ganges. Ihre Kollegen sahen verdutzt zu.

„Warten Sie hier“, sagte sie laut zu ihnen, schloss die Tür und konzentrierte sich auf Cotton.

„So. Hier gibt es keine Kameras und keine Mikrophone.“ Dann knöpfte sie ihre Bluse auf und zeigte ihm ihren BH und Bauch. „Verkabelt bin ich auch nicht. Alles, was Sie jetzt sagen, bleibt unter uns. Sagen Sie, dass Sie einen Anwalt möchten.“

Er sah sie verwirrt an.

„Sagen Sie es. Sagen Sie ‚Ich verlange einen Anwalt‘.“

Er gehorchte.

„Ich verlange einen Anwalt.“

„Sie bekommen keinen“, sagte Keri. „Verstehen Sie, was hier gerade passiert ist? Würden man uns abhören, könnten wir nichts von dem, was Sie jetzt sagen, gegen Sie benutzen, weil ich Ihnen Ihre Rechte verweigert habe. Ich will damit sagen, dass hier wortwörtlich alles unter uns bleibt. Ich will Ihnen nichts Böses tun. Ich werde Sie nicht hereinlegen. Glauben Sie mir?“

Der Mann nickte.

„Alles, was ich will, ist Ashley Penn.“ Der Mann öffnete seinen Mund, um etwas zu entgegnen, doch sie schnitt ihm das Wort ab. „Nein, sagen Sie jetzt noch nichts. Lassen Sie mich erst alles erklären. Ich bin heute Abend in Ihr Haus eingebrochen, aber Sie waren nicht dort. Ich habe nach Ashley Penn gesucht und den Schuhkarton auf Ihrem Schrank gefunden. Ich habe die Fotos gesehen.“

Schweißtropfen sammelten sich auf seiner Stirn.

„Sie haben gemerkt, dass die Fotos durcheinander waren, richtig?“

Er nickte.

„Sie wissen, dass jemand sie gesehen hat. Sie haben sie mitgenommen und vernichtet, bevor man Sie festgenommen hat. Richtig?“

„Ja.“

„Unter uns gesagt: Das wird Ihnen nicht viel helfen. Ich habe die Bilder gesehen und kann das bezeugen. Meine Aussage wird reichen, um Ihre Bewährung zu gefährden. Ich muss nur den Mund aufmachen und Sie gehen auf direktem Weg zurück in den Knast. Hier ist der Deal: Ich bekomme Ashley Penn und Sie behalten Ihre Freiheit.“

Der Mann trat nervös von einem Fuß auf den anderen.

„Ich wollte die Bilder gar nicht. Die kommen per Post“, sagte er.

„Bullshit.“

„Nein, wirklich, es ist wahr. Ich habe sie im Briefkasten gefunden.“

„Wer schickt Ihnen die Bilder?“

„Ich weiß es nicht“, sagte er. „Es steht kein Absender drauf.“

„Warum haben Sie sie nicht verbrannt, wenn Sie sie gar nicht wollen?“

Er zog die Schultern hoch.

„Ich konnte es nicht.“

„Weil sie Ihnen zu gut gefallen?“

Er lachte unsicher.

„Ich weiß, dass Sie das nicht verstehen können“, begann er. „Ich glaube, dass jemand mich hereinlegen will. Wer immer es auch war, er will, dass diese Bilder in meinem Haus sind. Er weiß, dass ich sie nicht einfach vernichten kann. Er will, dass ich wieder ins Gefängnis gehe. Und jetzt geschieht es wirklich. Ich hätte sie von Anfang an verbrennen sollen.“

„Sie können noch aus der Sache rauskommen“, sagte Keri. „Wo ist Ashley Penn?“

„Ich weiß es nicht.“

Keri sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Sag‘ mir, was du mit ihr gemacht hast“, flüsterte sie.

„Nichts.“

„Das glaube ich dir nicht, Johnnie.“

„Ich sage die Wahrheit! Ich schwöre es. Laut Nachrichten hat man sie nach der Schule entführt, richtig? Mitten am Nachmittag?“

„Ja.“

„Da war ich auf der Arbeit“, sagt er. „Ich arbeite bei Rick’s Automobile in Cerritos. Dort bin ich den ganzen Tag gewesen. Ich bin erst nach fünf Uhr nach Hause gegangen. Fragen Sie Rick! Er hat mir gedroht, dass er mich rausschmeißt, wenn ich noch einmal blau mache.“

„Haben Sie in letzter Zeit öfter blau gemacht?“

„Hin und wieder. Aber seit Rick mich gewarnt hat, War ich immer dort. Die Sicherheitskameras werden bestätigen, dass ich den ganzen Tag dort war. Ich war nicht einmal fünf Minuten zum Mittagessen weg, das können Sie überprüfen. Wirklich, fragen Sie ihn.“

Keri begann an ihrer Theorie zu zweifeln. Sein Alibi war so konkret, so leicht zu überprüfen, dass sie ihm glaubte.

„Den ganzen Tag?“, fragte sie.

„Ja. Irgendwann hat mich ein Typ angerufen, weil er… naja… was kaufen wollte…“

„Keine Sorge, Johnnie, ich habe nicht vor, Ihnen Schwierigkeiten wegen Drogenhandels zu machen. Erzählen Sie weiter.“

„Er wollte sich mit mir treffen, auf dem Parkplatz des Cerritos Shopping Center, aber ich kannte den Typen nicht und ich wollte keinen Ärger mit Rick.“

„Okay, aber wenn Sie den ganzen Tag auf der Arbeit waren, wer hat dann Ihren Van benutzt?“

„Niemand, der Van war bei mir.“

„Irgendjemand muss mit ihm unterwegs gewesen sein.“

„Nein, niemand. Er stand den ganzen Tag auf dem Parkplatz. Ich bin sozusagen hundertmal daran vorbei gelaufen. Er stand von morgens bis abends dort.“

„Wir haben ein Video, das zeigt, wie Ashley damit entführt wird.“

„Das kann nicht sein. Wirklich. Sehen Sie sich Ricks Kameras an.“

Kurz darauf brachte Keri ihn zurück in das Vernehmungszimmer. Als sie wieder auf den Gang kam, wartete Ray bereits auf sie.

„Ich kann dich wohl keine Minute alleine lassen, wie?“, sagte er.

„Komm mit“, erwiderte sie ernst.

Sie gingen zu der Garage, in der Cottons Van untersucht wurde. Keri gab das KFZ-Kennzeichen in den Computer ein. Erstaunt stellte sie fest, dass es nicht mit dem des Vans übereinstimmte. Das Kennzeichen von Johnnie Cottons Van war hingegen auf einen weißen Toyota Camry einer gewissen Barbara Green aus Silverlake zugelassen.

„Was hat das zu bedeuten?“, fragte Ray ebenso erstaunt.

„Willst du wissen, was ich glaube?“, sagte Keri.

„Bitte.“

„Wer auch immer Ashley Penn entführt hat, will es Cotton in die Schuhe schieben“, sagte sie. „Er hat das gleiche Modell von Van benutzt und Cottons Nummernschild dafür benutzt, damit wir ihn fälschlicherweise hochnehmen. Das vordere Kennzeichen hat er abgemacht, um Zeit zu gewinnen.“

Ray folgte ihrem Gedankengang. „Und er hat Barbara Greens Kennzeichen an Cottons Van befestigt, damit er es nicht bemerkt.“

„Genau“, bestätigte Keri. „Ich würde wetten, dass genau dieser jemand Cotton die Bilder von den kleinen Mädchen zugeschickt hat. Cotton schwört, dass sie immer wieder ohne Absender im Briefkasten lagen. Er wusste, dass Cotton sie nicht einfach entsorgen würde und dass wir sie bei ihm finden würden, wenn wir sein Haus durchsuchen. Schließlich belasten ihn die Fotos zusätzlich.“

„Also ist Cotton nicht unser Mann?“, fragte Ray.

„Nein. Aber es kommt noch dicker. Unser Unbekannter hat das alles von langer Hand geplant. Er weiß, dass Cotton Denton Rivers Dealer ist und dass er wegen Pädophilie verurteilt wurde. Und er wollte Cotton zum Einkaufszentrum locken, um sein Alibi zu gefährden.“

„Dann stehen wir also wieder am Anfang“, sagte Ray.

 

Keri schüttelte jedoch den Kopf. „Noch schlimmer: Wir haben wertvolle Zeit verschwendet. Zeit, die Ashley Penn das Leben kosten könnte.“

KAPITEL ZEHN

Montag

Nacht

Ashley öffnete langsam die Augen. Alles drehte sich, aber sie war bei Bewusstsein. Sie fühlte sich wie damals, als sie sich beim Surfen ein Band im Fuß gerissen hatte und operiert werden musste. Man hatte sie unter Drogen gesetzt und als sie wieder aufgewacht war, hatte sie sich genauso gefühlt, wie jetzt: als hätte man sie nicht nur aus einem tiefen Schlaf aufgeweckt, sondern von den Toten.

Wie lange lag sie schon hier?

Ihr Kopf schmerzte. Abgesehen davon spürte sie keinen bestimmten Schmerz, sondern ihr ganzer Körper pochte. Sie fürchtete, dass jede noch so kleine Bewegung es schlimmer machen würde. Trotzdem öffnete sie jetzt die Augen.

Sie konnte nichts sehen. Um sie herum war es pechschwarz.

Die Furcht schlug mit voller Wucht ein. Das hier war kein Krankenhaus.

Wo bin ich?

So musste man sich fühlen, wenn man unter Drogen gesetzt wurde. Ihr Körper schüttelte sich vor Angst.

Wie bin ich an diesen Ort gekommen? Warum kann ich mich an nichts erinnern?

Sie versuchte, sich nicht von der aufsteigenden Panik ergreifen zu lassen. Sie dachte daran, als sie von einer riesigen Welle auf den Meeresgrund gedrückt wurde. In Panik geraten war keine Lösung. Sie hatte keine Chance gegen solche Gewalten. Sie musste Ruhe bewahren, abwarten, bis die Angst verstrichen war und dann handeln.

Jetzt wollte sie es genauso machen. Sie konnte nichts sehen und sich an nichts erinnern, aber das bedeutete nicht, dass sie hilflos ausgeliefert war. Sie stemmte die Ellbogen in den Untergrund, ignorierte den Presslufthammer in ihrem Kopf und richtete sich auf. Dann tastete sie langsam ihren Körper ab. Sie trug noch immer ihren Rock und ihr Oberteil. Auch ihre Unterwäsche war noch da. Doch ihre Schuhe fehlten. Sie befand sich auf einer dünnen Matratze, darunter war ein kratziger Holzboden. Abgesehen von Kopfschmerzen und Benommenheit schien sie unverletzt.

Ihr rechtes Ohr fühlte sich seltsam an. Als sie es abtastete, merkte sie, dass der rechte Ohrring nicht mehr am Ohrläppchen war und es wehtat. Der linke Ohrring war noch da.

Dann versuchte sie, ihre Umgebung zu untersuchen. Der Boden war definitiv aus Holz, aber etwas war komisch. Am Kopfende der Matratze fühlte sie eine Wand. Erstaunt stellte sie fest, dass diese aus Metall war. Sie klopfte mit dem Fingerknöchel dagegen. Die Wand schien dick zu sein, ein Echo hallte dumpf. Langsam stand sie auf, dabei stützte sie sich an der Wand ab. Dann tastete sie sich Schritt für Schritt voran. Schnell stellte sie fest, dass die Wände gebogen waren. Sie folgte der Wand, bis ihre Füße wieder gegen die Matratze stießen. Sie war also in einem runden Raum eingesperrt. Die Größe schätzte sie etwa auf den Umfang einer Doppelgarage.

Sie setzte sich wieder auf die Matratze und bemerkte dabei ein seltsames Geräusch. Erstaunt stampfte sie mit den Füßen auf den Boden. Unter ihr schien es hohl zu sein, wie auf einer Veranda aus Holz.

Ashley saß einen Moment lang still da und versuchte, sich an irgendetwas zu erinnern. Dann machte sich die Furcht wieder breit.

Was ist dieser Ort? Wie bin ich hier her gekommen? Warum erinnere ich mich nicht?

„Hallo?“, rief sie.

Doch nur ihr eigenes Echo hallte zurück. Sie war also in einem abgeschlossenen Raum mit hoher Decke.

„Ist da jemand?“

Nichts.

Sie dachte an ihre Eltern. Ob sie bereits nach ihr suchten? War sie schon so lange weg, dass es ihnen aufgefallen war?

Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie wischte sie wütend mit dem Handrücken weg. Senator Stafford Penn konnte es nicht leiden, wenn sie heulte, wie ein kleines Baby.

„Mama?“, rief sie jetzt und hörte die Panik in ihrer eigenen Stimme. „Mama, hörst du mich?“

Ihr Hals fühlte sich rau und wund an. Wann hatte sie zuletzt etwas getrunken?

Sie kroch auf allen Vieren durch den Raum, um den Boden abzutasten. Sie erschrak, als ihre Hand gegen eine große Plastikkiste in der Mitte des Raumes stieß. Sie öffnete den Deckel und durchsuchte vorsichtig den Inhalt. Sie fand einige Plastikflaschen, Behälter und … eine Taschenlampe!

YES!

Ashley knipste sie an und sofort erkannte sie es: Sie befand sich nicht in einem Raum – sondern in einem Silo. Über ihr lief es spitz zu und am Ende des Trichters befand sich nur eine kleine punktförmige Öffnung. In dem Plastikcontainer fand sie außerdem einige Wasserflaschen, Dosensuppe, Erdnussbutter, getrocknetes Fleisch und ein Laib Brot. Daneben stand ein leerer Eimer. Sie konnte sich denken, wofür der gedacht war.

Sie leuchtete die Wände ab, in der hoffnungslosen Hoffnung, einen Ausgang zu entdecken. Nichts. Doch etwas anderes fiel ihr auf: Die Wand war regelrecht vollgeschrieben mit einem schwarzen Stift. Ashley trat etwas näher heran.

Mein Name ist Brenda Walker, es ist 2016. Ich will nicht sterben. Sagt meiner Mutter, meinem Vater und meiner Schwester Hanna, dass ich sie liebe.

Darunter stand eine Telefonnummer mit der Vorwahl 818 – San Fernando Valley!

Grundgütiger!

Ashley fand auch andere Botschaften in verschiedenen Handschriften. Einige kurz und knapp wie die von Brenda, andere lang und ausführlich. Sie wurden offenbar über Tage hinweg verfasst. Ashley zählte mehr als ein Duzend unterschiedliche Namen und Nachrichten.

Ashleys Knie begannen zu zittern, sie fiel auf die Hände, hyperventilierte und hielt sich an der Kiste fest. Der Schein der Taschenlampe fiel auf das Brot. Sie kniff die Augen zu und konzentrierte sich darauf, wieder gleichmäßig zu atmen. Die Botschaften an der Wand hätte sie am liebsten wieder vergessen.

Nach einer Minute öffnete sie die Augen wieder und sah zur Taschenlampe. Jetzt war nicht mehr das Brot beleuchtet, sondern die Erdnussbutter.

Wunderbar. Ich bin allergisch auf das Zeug.

Sie hob die Taschenlampe auf und schoss die Erdnussbutter außer Sichtweite. Dann fand sie etwas in der Kiste, das ihr vorher nicht aufgefallen war. Sie lehnte sich nach vorne und holte einen schwarzen Edding heraus.

Da konnte sie sich nicht mehr zurückhalten und begann zu schreien.

KAPITEL ELF

Montag

Nacht

Keri wartete an der Haustür und bemühte sich, geduldig zu sein. Sie stand jetzt schon seit zwei Minuten hier.

Nachdem Johnnie Cotton sich als falsche Fährte erwiesen hatte, befahl Hillman ihnen, von vorne anzufangen. Cottons Aussagen mussten natürlich überprüft werden. Patterson beaufsichtigte die Spurensuche in Cottons Van, falls sich doch neue Hinweise ergaben. Sterling sollte Cottons Chef bei Ricks Automobile treffen, um sein Alibi zu überprüfen.

Edgerton, einer der Techniker, hatte Cottons Handy abgeholt, um den unbekannten Anrufer zurückzuverfolgen, der ihn am Nachmittag am Einkaufszentrum treffen wollte. Er sollte außerdem Ashleys Laptop genauer unter die Lupe nehmen.

Suarez tippte die Aussageprotokolle von Thelma Gray und Miranda Sanchez ab. Cantwell suchte nach Kaufabschlüssen von schwarzen Vans in LA in den letzten Monaten und überprüfte die Strafregister der Käufer.

Ray war zu Ashleys High School gegangen, um den Direktor zu treffen und sich die Überwachungsaufnahmen anzusehen. Er hoffte, dass der Entführer einen Fehler gemacht hatte und vielleicht auf einem der Bänder zu sehen war.

Brody war von dem Fall abgezogen worden, um eine Schießerei in Westchester zu untersuchen. Hillman selbst ging noch einmal die Entführungsfälle der letzten Jahre durch und hoffe, irgendwelche Parallelen zu finden.

Keri hatte Hillman überredet, Walker Lee überprüfen zu dürfen. So hieß der Typ, den Ashley in letzter Zeit regelmäßig getroffen hatte. Sie wusste, dass er es ihr erlauben würde. So war sie wenigstens außer Haus und konnte sich nicht in die Ermittlungen der anderen Beamten einmischen. Ihr war das recht. Sie hatte ohnehin wenig Hoffnung, den Fall vom Büro aus zu lösen.

Walker Lee wohnte in West-Venice, Nähe Rose Avenue. Dort gab es eine Menge Galerien, vegane Restaurants, Öko-Kosmetiksalons und Künstler-Lofts. So nannte man neuerdings unmöblierte, kahle Studios, denn dann konnte man 2500 Dollar für 500 Quadratmeter verlangen, die normalerweise nur 1000 Dollar wert waren.

Lees Wohnung schien unter diese Kategorie zu fallen. Sie sah aus, wie eine umfunktionierte Autowerkstatt.

Sie klopfte bereits zum wiederholten Mal an die Tür. Beim ersten Mal hatte Walker Lee gerufen, dass er gerade aus der Dusche kam und sich etwas anziehen musste.

„Das war lang genug, Mr. Lee. Öffnen Sie bitte die Tür, sonst werde ich sie für Sie öffnen!“

Sofort ging die Tür auf.

Walker Lee – Ashleys neuer Freund – stand vor ihr. Er war eindeutig der Typ, den sie auf den Fotos gesehen hatte, und wie auf den Fotos trug er kein Hemd und keine Schuhe, sondern nur ein Paar Jeans, das noch nicht ganz zugeknöpft war. Von seinen langen, blonden Haaren fielen ein paar Tropfen auf den Beton-Fußboden. Er sah beeindruckend gut aus, Keri musste sich bemühen, ihn nicht anzustarren.

„Kommen Sie herein. Sie sagten, Sie suchen nach Ashley?“, fragte er und rieb seine Haare mit einem Handtuch ab.

Keri nickte und folgte ihm in die Wohnung. Ihr Blick fiel auf sein Hinterteil. Sie unterdrückte ein Grinsen. Es war kein Wunder, dass Ashley sich in ihn verliebt hatte. Dieser Typ sah sogar nach Hollywood-Standard überwältigend aus. Er führte sie durch den großen Raum an seinem Bett vorbei, durch den Küchenbereich zu einem kleinen Raum. Keri fiel auf, dass die Tür und die Wände von innen gepolstert waren. Etwas in ihr schlug kurz Alarm. Warum brachte er sie in einen schalldichten Raum? Doch als sie sich umsah, wurde es schnell klar: Der Raum diente als Tonstudio. Er war ausgestattet mit Lautsprecherboxen, Schlagzeug, Mikrofonen, Verstärkern, Gitarren, Keyboard, mehreren Kisten und endlos vielen Kabeln. Sogar eine Couch stand an der Wand. Man hatte kaum Platz, sich zu bewegen. Walker ließ sich auf die Couch fallen und wartete, dass Keri zu sprechen begann. Keri setzte sich ihm gegenüber auf einen Klappstuhl aus Metall.

„Wie bereits erwähnt, komme ich wegen Ashley Penn. Wissen Sie, wo sie ist?“

Er fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und sah sie fragend an.

„Zu Hause?“

„Nein.“

„Sie ist nicht hier, falls Sie darauf hinaus wollen.“

„Fahren Sie einen schwarzen Van?“

„Nein.“

„Kennen Sie jemanden, der einen besitzt? Vielleicht jemand aus Ihrer Band?“

„Nein. Ich verstehe nicht. Können Sie mir bitte sagen, was hier vorgeht?“

„Sie haben die Nachrichten also noch nicht gesehen.“

„Ich habe keinen Fernseher, und da wir heute keinen Gig haben, war ich den ganzen Abend über hier und habe geübt.“

„Kann das vielleicht irgendjemand bezeugen?“

„Nein. Ich bin am liebsten alleine, wenn ich an neuen Stücken arbeite. Sie fragen nicht ernsthaft nach meinem Alibi, oder?“

Keri erzählte von Ashleys verschwinden, dabei beobachtete sie genau, ob es irgendwelche Anzeichen gab, dass er bereits davon wusste. Er wirkte schockiert, aber sie konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, ob es echt war, oder ob er nur ein guter Schauspieler war.

Während sie redete, griff er nach zwei kleinen Gläsern, goss ein wenig Whiskey hinein und reichte eines davon Keri.

Als sie den Kopf schüttelte, stellte er es auf einer Lautsprecherbox ab.

„Danke, nein.“

„Sie trinken nicht?“

„Nicht, wenn ich im Dienst bin. Wer könnte Ashley etwas antun wollen?“

Walker trank sein Glas auf einen Zug leer.

„Da ist einiges los, aber ich kann nicht mit der Polizei darüber sprechen.“

„Warum nicht?“

„Weil es auf mich zurückfallen und mir in den Arsch beißen könnte.“

„Ich meine das nicht persönlich, aber Ihr Arsch ist mir derzeit scheißegal“, sagte Keri. „Ich interessiere mich nicht für Sie, solange Sie nichts mit Ashleys Verschwinden zu tun haben. Also Schluss mit dem Drama und raus mit der Sprache.“

 

„Oh Mann.“

„Sie wollen ihr doch helfen, oder?“

„Natürlich.“

„Dann sagen Sie mir, was Sie wissen.“

Er schien seine Möglichkeiten abzuwägen, dann sah er Keri in die Augen und sagte: „Trinken Sie zuerst Ihr Glas aus.“

„Ich habe Ihnen doch gesagt, …“

„Ich weiß, Sie sind im Dienst“, sagte er, „aber Sie wollen Dinge von mir hören, die mir schaden könnten, also gönnen Sie mir den Joker. Dann habe ich etwas in der Hand, das Ihnen schaden könnte. Sie trinken, ich rede. Deal?“

Keri sah ihn von oben bis unten an. Dann nahm sie das Glas, lehnte sich zu ihm und machte einen Augenaufschlag, den sie in einem anderen Leben zuletzt gemacht hatte.

„Zuerst müssen Sie mir eine Frage beantworten“, sagte sie. „Wie alt sind Sie?“

„Dreiundzwanzig. Ist Ihnen das zu jung, Detective?“

„Sie wären überrascht“, entgegnete sie und lehnte sich wieder zurück. „Ashley ist fünfzehn, wenn ich mich richtig erinnere. Sie hatten Sex mit einer Minderjährigen. Das ist eine Straftat. Ich nehme an, das ist eines der Dinge, über die Sie sich jetzt Sorgen machen.“

Er nickte. Keri stellte das Glas wieder ab und sah ihn eindringlich an.

„Ich will ganz ehrlich sein, Walker. Ich darf Sie doch Walker nennen?“

Wieder nickte er, unsicher, ob sie immer noch mit ihm flirtete.

„Ich weiß, dass Sie auf Ihrem Handy Nacktfotos von Ashley haben. Das wird als Kinderpornographie gewertet und ist ein schweres Verbrechen. Jedes einzelne Foto fällt ins Gewicht. Normalerweise würde ich jetzt meinen Partner hinzuziehen. Er war früher Profi-Boxer und würde Sie bearbeiten, bis sie Ihre Organe einzeln auskotzen, aber dafür haben wir keine Zeit. Wir haben keine Zeit, weil wir Ashley finden müssen. Also kommen Sie endlich zur Sache und vergessen Sie endlich Ihr eigenes Wohlergehen. Wenn Sie ehrlich sind, haben Sie nichts zu befürchten, aber wenn Sie das nicht sind, wird das hier Ihr größter Albtraum, das verspreche ich Ihnen.“

Walker schluckte laut. Zufrieden stellte Keri fest, dass das Grinsen jetzt aus seinem Gesicht verschwunden war. Langsam begann er zu sprechen.

Seine Band Rave brachte hier in LA prinzipiell genügend Geld ein – sie hatten sogar eine Single auf den Markt gebracht. Aber er hatte das Gefühl, dass sie sich nicht gegen die Konkurrenz durchsetzen konnten. Daher überlegte er, die Band zu verlassen und es als Solo-Künstler in Vegas zu versuchen. Er war das Gesicht der Band, Sänger, Songwriter und Gitarrist. Er hoffte, in einem kleineren Teich mitten in der Wüste ein größerer Fisch werden zu können. Und wenn er sich einen Namen gemacht hat, könnte er immer noch zurückkommen und die Konzertsäle füllen. Ashley wollte mit ihm gehen.

„Sie wollten also zusammen durchbrennen?“

Walker zuckte mit den Schultern. „Eher zusammen neu anfangen. Ich werde es nach ganz oben schaffen, und Ashley auch. Sie haben sie gesehen, Ashley ist wunderschön. Sie hat ein paar Model-Agenturen angeschrieben und alle waren an ihr interessiert.“

Diese Information passte zu den Webseiten, die Keri auf Ashleys Computer gefunden hatte.

„Es gab nur ein Problem“, fuhr er fort, „sie ist es gewöhnt, Geld zu haben – musste nie darum bitten. Aber ihr war klar, dass ihre Eltern ihr nichts mehr geben würden, wenn sie fortging. Sie hat einmal aus Spaß gesagt, dass sie ihre eigene Entführung inszenieren und Lösegeld fordern könnte.“

Keri war schockiert, doch sie versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. Könnte Ashley das wirklich getan haben? Das passte überhaupt nicht zu den bisherigen Ermittlungen.

„Denkst du, dass sie es getan hat?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, das war nur ein schlechter Scherz. Wenn ich einen Tipp abgeben müsste, würde ich wetten, dass Artie North seine Finger im Spiel hat.“

Diesen Namen hatte Keri noch nie gehört.

„Wer ist Artie North?“

„Er ist ein extrem unheimlicher Security an Ashleys Schule. Er hat Ashley und mich hinter der Tribüne erwischt, wie wir… sie wissen schon… uns näher gekommen sind. Er hat uns mit seinem Handy gefilmt und Ashley damit erpresst. Er wollte es auf eine Porno-Website hochladen, wenn sie nicht mit ihm schläft.“

„Hat sie es getan? Hat sie mit ihm geschlafen?“

„Nein. Irgendjemand hat ihn grün und blau geschlagen.“

„Sie?“

Er machte ein komisches Gesicht. „Weiß nicht. Jedenfalls hat er ihr seitdem immer hinterher spioniert.“

Keri versuchte, diese neuen Informationen ins Bild zu fügen. Ein Rock Star als Liebhaber, ein unheimlicher Wachmann, die Möglichkeit, dass ihr Verschwinden nur gestellt war – von keine Spur war sie jetzt bei zu viele Spuren angekommen. Sie stand auf.

„Verlassen Sie vorerst nicht die Stadt, Walker. Ich werde Ihren Hinweisen nachgehen und wenn sich herausstellt, dass Sie mich angelogen haben, dann werde ich Ihnen meinen Partner vorstellen. Verstanden?“

Er nickte.

Keri nahm das Glas vom Lautsprecher und leerte es in einem Zug. Als sie den Raum verließ, warf sie es hinter sich.

„Und ziehen Sie sich ein verdammtes T-Shirt an.“

Draußen rief sie zuerst Suarez an. Er sollte so viel wie möglich über Artie North herausfinden und sie möglichst schnell zurückrufen. Dann wählte sie Rays Nummer.

„Wo bist du?“, fragte sie.

„Ich komme gerade aus der Schule und fahre zurück zum Revier.“

„Ich treffe dich in zehn Minuten auf dem Parkplatz.“

„Warum nicht im Büro?“

„Wir haben einen neuen Verdächtigen. Ich will ihm einen Besuch abstatten und hätte dich gerne dabei.“

„Du klingst aufgeregt.“

„Ich habe neue Hinweise von unserem Traum-Boy. Ich glaube, er mag mich.“

„Das freut mich aber für dich“, sagte Ray sarkastisch.

„Dachte ich mir. Bis gleich.“

Keri stieg in ihren Wagen, stellte die Sirene aufs Dach und fuhr los. Sie liebte es mit Sirene durch die Nacht zu düsen.