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Kapitel 8

Sobald Riley und Lucy aus dem FBI Flugzeug traten, kam ein junger, uniformierter Polizist über das Rollfeld auf sie zugelaufen.

“Bin ich froh Sie zu sehen”, sagte er. “Chief Alford steht kurz vor einem Herzinfarkt. Wenn nicht jemand schnell Rosemarys Leiche losschneidet, dann müssen wir ihn wahrscheinlich einliefern. Die Reporter sind auch schon überall. Ich bin Tim Boyden.”

Riley wurde es mulmig, während sie und Lucy sich vorstellten. Wenn die Medien so schnell bei einem Tatort auftauchten, dann war das kein gutes Zeichen. Der Fall fing nicht gut an.

“Kann ich helfen etwas zu tragen?” fragte Boyden.

“Nein, danke”, sagte Riley. Sie und Lucy hatten nur ein paar kleine Taschen.

Boyden zeigte über das Rollfeld.

“Das Auto steht dort drüben”, sagte er.

Sie gingen eilig zum Wagen. Riley setzte sich auf den Beifahrersitz, während Lucy sich auf den Rücksitz setzte.

“Wir sind nur ein paar Minuten von der Stadt weg”, sagte Boyden, als er losfuhr. “Mann, ich kann nicht glauben was passiert ist. Arme Rosemary. Alle haben sie so sehr gemocht. Sie hat immer Leuten geholfen. Als sie vor ein paar Wochen verschwunden ist, haben wir das Schlimmste befürchtet. Aber wir hätten uns nie vorstellen können …”

Seine Stimme verlor sich und er schüttelte erschüttert den Kopf.

Lucy lehnte sich zu ihnen nach vorne.

“Soweit ich verstanden habe, ist das nicht der erste Mord dieser Art”, sagte sie.

“Ja, als ich noch in der Highschool war, hatten wir einen anderen”, sagte Boyden. “Allerdings nicht hier in Reedsport. Es war in der Nähe von Eubanks, weiter südlich den Fluss runter. Eine Leiche in Ketten, genau wie Rosemary. Auch mit einer Zwangsjacke. Hat der Chief Recht? Haben wir hier einen Serienmörder?”

“Das können wir noch nicht sagen”, sagte Riley.

Auch wenn sie dachte, dass der Polizeichef Recht hatte. Aber der junge Polizist schien so schon außer Fassung zu sein. Es schien ihr unnötig ihn weiter zu beunruhigen.

“Ich kann es nicht glauben”, sagte Boyden und schüttelte wieder den Kopf. “In so einer schönen Stadt wie unserer. Eine so nette Lady wie Rosemary. Ich kann es nicht glauben.”

Während sie in die Stadt fuhren, sah Riley einige Fernsehwagen mit ihren Crews auf der kleinen Hauptstraße. Ein Helikopter mit dem Logo einer Fernsehstation zirkelte über der Stadt.

Boyden fuhr zu einer Barrikade, vor der sich eine kleine Gruppe Reporter versammelt hatte. Ein Polizist winkte sie durch. Einige Sekunden später hielt Boyden neben einer Bahnstrecke. Dort hing die Leiche von einem Strommast. Einige Polizisten standen in weitem Abstand um sie herum.

Riley stieg aus dem Wagen und erkannte Polizeichef Raymond Alford, als er auf sie zukam. Er sah nicht sehr glücklich aus.

“Ich will hoffen, dass sie einen verdammt guten Grund haben, die Leiche so hier hängen zu lassen”, sagte er. “Das ganze ist ein Albtraum. Der Bürgermeister hat gedroht mir meine Marke wegzunehmen.”

Riley und Lucy folgten ihm zu der Leiche. Im Licht des späten Nachmittags sah sie seltsamer aus, als auf den Fotos, die Riley gesehen hatte. Die Stahlketten glitzerten im Licht.

“Ich nehme an, Sie haben den Tatort weiträumig abgeriegelt”, sagte Riley zu Alford.

“Wir haben getan, was wir konnten”, sagte Alford. “Wir haben das Gebiet weit genug abgesperrt, sodass niemand die Leiche sehen kann, bis auf die Sicht vom Fluss. Wir haben die Züge umgeleitet, sodass sie die Stadt umfahren. Das hat die Zeitpläne ziemlich durcheinander gebracht. Ich nehme an, dadurch haben die Albany Nachrichten davon Wind bekommen haben. Von meinen Leuten haben sie es definitiv nicht gehört.”

Während Alford sprach, wurde seine Stimme durch den TV-Helikopter übertönt, der über ihnen schwebte. Er machte sich nicht die Mühe weiterzureden. Riley konnte die Schimpfwörter auf seinen Lippen lesen, als er auf den Helikopter starrte. Ohne aufzusteigen, flog der Helikopter im Kreis. Der Pilot hatte offensichtlich vor auf gleichem Weg zurückzufliegen.

Alford nahm sein Handy aus der Tasche. Als er jemanden an die Strippe bekam, rief er, “Ich habe euch gesagt, dass ihr den verdammten Helikopter vom Tatort fernhalten sollt. Jetzt sagt dem Piloten, dass er auf über 150 Meter aufsteigen soll. Das ist das Gesetz.”

Alfords Gesichtsausdruck entnahm Riley, dass die Person am anderen Ende sich widersetzte.

Schließlich sagte Alford, “Wenn ihr den Vogel nicht sofort hier rausbringt, dann werden eure Reporter von der Pressekonferenz am Nachmittag ausgeschlossen.”

Sein Gesicht entspannte sich ein wenig. Er sah nach oben und wartete. Nach ein paar Minuten stieg der Helikopter auf eine angemessenere Höhe. Das Geräusch der Rotoren erfüllte die Luft mit einem lauten, beständigen Dröhnen.

“Gott, ich hoffe, dass wir nicht noch mehr von denen bekommen”, knurrte Alford. “Vielleicht werden sie weniger angezogen, wenn die Leiche endlich runter ist.” Er seufzte. “Wahrscheinlich hat es auf kurze Sicht auch etwas Gutes. Die Hotels und B&Bs haben mehr Gäste. Auch die Restaurants – Reporter müssen schließlich auch essen. Aber auf lange Sicht? Es wäre schlecht, wenn Touristen aus Reedsport verjagt werden.”

“Sie haben eine guten Job dabei gemacht, sie vom Tatort fernzuhalten”, sagte Riley.

“Ich nehme an, das ist wenigstens etwas”, sagte Alford. “Kommen Sie, bringen wir es hinter uns.”

Alford führte Riley und Lucy zu der hängenden Leiche. Sie wurde durch ein selbstgemachtes Kettengeschirr gehalten, das sich um ihren Körper wand. Das Geschirr war an ein dickes Seil gebunden, das durch einen Flaschenzug an einem hohen Querbalken befestigt war. Der Rest des Seils fiel in einem steilen Winkel auf den Boden.

Riley konnte jetzt das Gesicht der Frau sehen. Wieder durchfuhr sie die Ähnlichkeit mit Marie wie ein elektrischer Schlag – der gleiche leise Schmerz und die Qualen, die sie auf dem Gesicht ihrer Freundin gesehen hatte. Die heraustretenden Augen und die Kette, die den Mund knebelten, machten die Ansicht noch verstörender.

Riley sah ihre neue Partnerin an, um ihre Reaktion zu beobachten. Zu ihrer Überraschung war Lucy bereits dabei sich Notizen zu machen.

“Ist das ihr erster Mord?” fragte Riley sie.

Lucy nickte, während sie weiter in ihr Notizbuch schrieb. Riley dachte, dass sie den Anblick der Leiche erstaunlich gut verkraftete. Viele Neulinge würden spätestens jetzt hinter einem Busch sitzen und sich übergeben.

Im Gegensatz zu ihr schien Alford sich sichtlich unwohl zu fühlen. Selbst nach all den Stunden hatte er sich noch nicht daran gewöhnt. Riley hoffte für ihn, dass er nie wieder etwas Ähnliches sehen musste.

“Riecht noch nicht besonders”, sagte Alford.

“Noch nicht”, sagte Riley. “Sie befindet sich noch in der Phase der Autolyse, hauptsächlich die Auflösung interner Zellen. Es ist nicht heiß genug um die Verwesung schneller voranzutreiben. Der Körper hat noch nicht angefangen von innen heraus zu schmelzen. Dann wird der Geruch wirklich schlimm.”

Alford wurde mit jedem Wort bleicher.

“Was ist mit der Totenstarre?” fragte Lucy.

“Ich bin sicher, dass sie in voller Totenstarre ist”, sagte Riley. “Das wird sie vermutlich auch noch für die nächsten zwölf Stunden bleiben.”

Lucy schien dadurch nicht weiter beeindruckt zu sein. Sie machte sich weiter Notizen.

“Haben Sie schon herausgefunden, wie der Mörder dort hochgekommen ist?” fragte Lucy Alford.

“Wir haben eine Vermutung”, sagte Alford. “Er ist hochgeklettert und hat den Flaschenzug festgebunden. Dann hat er die Leiche hochgezogen. Sie können sehen, wie sie festgebunden ist.”

Alford zeigte auf einen Haufen von Eisengewichten, die neben den Gleisen lagen. Das Seil war durch die Löcher der Gewichte geschlungen und sorgfältig festgebunden. Die Gewichte waren solche, die man in Trainingsmaschinen im Fitnessstudio finden würde.

Lucy beugte sich nach unten und betrachtete die Gewichte genauer.

“Hier sind fast genug Gewichte um die Leiche vollständig auszubalancieren”, sagte Lucy. “Seltsam, dass er diese schweren Gewichte mitgebracht hat. Man sollte meinen, dass er das Seil auch direkt an den Balken hätte binden können.”

“Was sagt Ihnen das?” fragte Riley.

Lucy dachte einen Moment nach.

“Er ist klein und nicht sehr stark”, sagte Lucy. “Der Flaschenzug hat ihm nicht genug Hebelkraft gegeben. Er brauchte die Gewichte, um ihm zu helfen.”

“Sehr gut”, sagte Riley. Dann zeigte sie auf die andere Seite der Bahngleise. Auf einem kurzen Stück war ein teilweiser Abdruck im Staub zu sehen. “Und Sie können sehen, dass er sein Fahrzeug sehr nahe herangefahren hat. Das musste er. Er konnte die Leiche nicht weit schleppen.”

Riley untersuchte den Boden in der Nähe des Strommastes und fand tiefe Eindrücke in der Erde.

“Sieht aus, als hätte er eine Leiter benutzt”, sagte sie.

“Ja, und wir haben die Leiter gefunden”, sagte Alford. “Kommen Sie mit, ich zeige sie Ihnen.”

Alford führte Riley und Lucy über die Gleise zu einem heruntergekommenen Lagerhaus aus Wellblech. Ein gebrochenes Schloss hing von der Tür.

“Wie Sie sehen, ist er hier eingebrochen”, sagte Alford. “Es war einfach genug. Ein Bolzenschneider hat ausgereicht. Das Lagerhaus wird nicht viel genutzt, nur für längere Lagerungen, also ist es nicht sehr sicher.”

Alford öffnete die Tür und schaltete das Licht ein. Der Raum war so gut wie leer, bis auf ein paar Transportcontainer bedeckt mit Spinnenweben. Alford zeigte auf eine hohe Leiter, die an der Wand neben der Tür lehnte.

“Da ist die Leiter”, sagte er. “Wir haben frische Erde an den Enden gefunden. Sie gehört wahrscheinlich hierher und der Mörder wusste es. Er ist eingebrochen, hat sie rausgetragen, und ist hochgeklettert, um den Flaschenzug festzubinden. Sobald er die Leiche hatte wo er sie wollte, hat er die Leiter zurückgebracht. Dann ist er weggefahren.”

 

“Vielleicht hatte er auch den Flaschenzug aus dem Lagerhaus”, schlug Lucy vor.

“Die Vorderseite des Lagerhauses ist Nachts beleuchtet”, sagte Alford. “Also ist er dreist, und ich wette er ist ziemlich schnell, auch wenn er nicht stark ist.”

In dem Moment kam ein scharfer, lauter Knall von außen.

“Was zum Teufel?” rief Alford.

Riley wusste sofort, dass es ein Schuss gewesen war.

Kapitel 9

Alford zog seine Waffe und stürmte aus dem Lagerhaus. Riley und Lucy folgten mit ihren Händen auf den eigenen Waffen. Draußen sauste etwas um den Strommast, an dem die Leiche hing. Es gab ein konstantes summendes Geräusch von sich.

Der junge Polizist Boyden hatte seine Pistole gezogen. Offensichtlich hatte er gerade auf die Drone geschossen, die um die Leiche flog, und machte sich bereit einen weiteren Schuss abzugeben.

“Boyden, runter mit der Waffe!” rief Alford. Er steckte seine eigene Pistole wieder weg.

Boyden sah Alford überrascht an. Als er seine Waffe einsteckte, stieg die Drone auf und flog davon.

Der Polizeichef kochte vor Wut.

“Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht deine Waffe zu feuern?” bellte er Boyden an.

“Den Tatort sichern”, sagte Boyden. “Das war wahrscheinlich ein Blogger, der Fotos macht.”

“Wahrscheinlich”, sagte Alford. “Und mir gefällt das nicht besser als dir. Aber es ist illegal die Dinger aus dem Himmel zu schießen. Außerdem befinden wir uns in einem Wohngebiet. Du solltest es besser wissen.”

Boyden ließ kleinlaut den Kopf hängen.

“Sorry, Sir”, sagte er.

Alford wandte sich an Riley.

“Dronen, was zum …!” sagte er. “Ich kann Ihnen sagen, ich hasse das einundzwanzigste Jahrhundert. Agentin Paige, bitte sagen Sie mir, dass wir die Leiche jetzt von dem Mast holen können.”

“Haben Sie noch mehr Fotos als die, die sie mir geschickt haben?” fragte Riley.

“Sehr viel mehr, von jedem kleinen Detail”, bestätigte Alford. “Sie können sie sich in meinem Büro ansehen.”

Riley nickte. “Ich habe alles gesehen, was ich sehen musste. Und sie haben wirklich gute Arbeit dabei geleistet den Tatort zu kontrollieren. Holen Sie sie runter.”

Alford sagte zu Boyden, “Ruf den Gerichtsmediziner. Sag ihm er kann aufhören Däumchen zu drehen.”

“Verstanden, Chief”, sagte Boyden und nahm sein Handy raus.

“Kommen Sie”, sagte Alford zu Riley und Lucy. Er führte sie zu seinem Streifenwagen. Sobald sie losgefahren waren, winkte ein Polizist sie durch die Barrikade auf die Hauptstraße.

Riley merkte sich die Strecke. Der Mörder musste die gleiche Strecke gefahren sein wie Boyden und Alford. Es gab keinen anderen Weg zu dem Bereich zwischen Lagerhaus und Bahngleisen. Es war gut möglich, dass jemand den Wagen des Mörders gesehen hatte, auch wenn ihnen vielleicht nichts Ungewöhnliches aufgefallen war.

Das Polizeirevier von Reedsport war nicht mehr als eine Ziegelsteinfassade an der Hauptstraße. Alford, Riley, und Lucy gingen hinein und setzten sich in das Büro des Polizeichefs.

Alford legte einen Stapel Akten auf seinen Schreibtisch.

“Hier ist alles, was wir haben”, sagte er. “Die komplette Akte von dem alten Fall von vor fünf Jahren und alles was wir bisher zu dem Mord von gestern haben.”

Riley und Lucy nahmen jeweils einen Ordner und fingen an sie durchzublättern. Rileys Aufmerksamkeit wurde auf die Fotos des ersten Falles gezogen.

Die beiden Frauen waren sich im Alter sehr ähnlich. Die Erste arbeitete im Gefängnis, was sie bis zu einem gewissen Grad dem Risiko eines Gewaltverbrechens aussetzte. Aber die Zweite würde als ein Opfer mit geringer Wahrscheinlichkeit eingestuft werden. Und es gab keine Anzeichen dafür, dass eine von ihnen Bars oder andere Orte aufgesucht hatten, die man als risikoreich bezeichnen würde. In beiden Fällen wurden die Frauen als freundlich, hilfsbereit und normal beschrieben. Und trotzdem gab es eine Gemeinsamkeit, die den Mörder zu genau diesen Frauen gezogen hatte.

“Haben Sie ihm Fall von Marla Blaineys Mord Fortschritte gemacht?” fragte Riley Alford.

“Das war unter der Zuständigkeit der Eubanks Einheit. Captain Lawson. Aber ich habe mit ihm daran gearbeitet. Wir haben nichts Brauchbares gefunden. Die Ketten waren gewöhnlich. Der Mörder könnte sie in jedem Baumarkt gekauft haben.”

Lucy lehnte sich zu Riley und schaute sich die gleichen Fotos an.

“Aber er hat trotzdem eine Menge davon gekauft”, sagte Lucy. “Man sollte meinen, dass ein Mitarbeiter bemerken würde, wenn jemand so viele Ketten kauft.”

Alford nickte zustimmend.

“Ja, das haben wir uns damals auch gedacht. Aber wir haben jeden Baumarkt in der Gegend abgeklappert. Keiner der Mitarbeiter konnte sich an ungewöhnliche Verkäufe erinnern. Er muss sie nach und nach gekauft haben, ohne viel Aufmerksamkeit zu erregen. Als er den Mord verübt hat, muss er bereits genug von ihnen vorrätig gehabt haben. Vielleicht hat er das immer noch.”

Riley sah sich die Zwangsjacke genauer an, die die Frau trug. Sie schien mit der Zwangsjacke des neuesten Opfers identisch zu sein.

“Was ist mit den Zwangsjacken?” fragte Riley.

Alford zuckte mit den Achseln. “Man sollte meinen, dass die einfacher nachzuverfolgen sein sollten. Aber wir haben nichts gefunden. Das sind die Standardjacken, die in psychiatrischen Anstalten genutzt werden. Wir haben uns alle Anstalten im Staat angesehen, eine ganz in der Nähe eingeschlossen. Niemand hat Zwangsjacken als gestohlen gemeldet.”

Schweigen senkte sich über den Raum, während sie sich Berichte und Fotos ansahen. Die Leichen waren in einem Radius von sechzehn Kilometern gefunden worden. Das ließ vermuten, dass der Mörder in der Nähe lebte. Aber die Leiche der ersten Frau, war einfach am Flussufer abgeladen worden. In den fünf Jahren zwischen den Morden hatte sich etwas in der Einstellung des Mörders geändert.

“Also, was halten Sie von dem Typen?” fragte Alford. “Warum die Zwangsjacken und die Ketten? Erscheint Ihnen das nicht exzessiv?”

Riley dachte einen Moment nach.

“Er sieht das nicht so”, sagte sie. “Es geht um Macht. Er will die Opfer nicht nur physisch, sondern auch symbolisch einschließen. Es geht weit über ein praktisches Maß hinaus. Es geht darum den Opfern ihre Macht zu nehmen. Dem Mörder ist dieser Punkt besonders wichtig.”

“Aber warum Frauen?” fragte Lucy. “Wenn er seine Opfer entmachten will, wären Männer dann nicht dramatischer?”

“Das ist eine gute Frage”, erwiderte Riley. Sie dachte an den Tatort – wie sorgfältig die Leiche ausbalanciert gewesen war.

“Aber denken sie daran, dass er nicht sehr stark ist”, sagte Riley. “Es könnte auch einfach die Wahl eines einfachen Ziels gewesen sein. Frauen mittleren Alters wie diese Frauen würden sich weniger wehren. Aber in seinem Kopf standen sie vermutlich auch für etwas. Sie waren nicht als Individuen ausgesucht worden, sondern als Frauen – und für was auch immer diese Frauen für ihn bedeuteten.

Alford schnaubte abfällig.

“Sie wollen mir also sagen, dass es nichts Persönliches war”, sagte er. “Es ist nicht so, als hätten die Frauen etwas getan, um gefangen und getötet zu werden. Es ist nicht einmal so, als hätte der Mörder gedacht sie würden das verdienen.”

“Das ist häufig der Fall”, sagte Riley. “In meinem letzten Fall hat der Mörder Frauen getötet, die eine bestimmte Puppe gekauft haben. Ihm war egal, wer sie waren. Nur zu sehen wie sie die Puppe kaufen, war ihm wichtig.”

Alford schien einen Moment darüber nachzudenken. Dann sah er auf seine Uhr.

“Ich habe eine Pressekonferenz in einer halben Stunde”, sagte er “Gibt es etwas, das wir davor besprechen sollten?”

Riley sagte, “Nun, je schneller Agentin Vargas und ich die Familie der Opfer befragen können, desto besser. Noch heute Abend, wenn möglich.”

Alford zog besorgt die Augenbrauen zusammen.

“Ich denke nicht”, sagte er. “Ihr Mann ist jung gestorben, vor etwa fünfzehn Jahren. Sie hat nur ein paar erwachsene Kinder, einen Sohn und eine Tochter, beide mit eigenen Familien. Sie leben hier in der Stadt. Meine Leute haben sie den ganzen Tag befragt. Sie sind recht mitgenommen und durcheinander. Ich würde ihnen gerne zumindest bis Morgen Zeit geben, bevor sie das noch einmal durchmachen.”

Riley sah, dass Lucy kurz davor war zu widersprechen, aber stoppte sie mit einer stillen Geste. Es war gut, dass Lucy die Familie sofort befragen wollte. Aber Riley wusste auch, dass es besser war sich nicht mit der örtlichen Polizei anzulegen, vor allem, wenn sie einen so guten Job machten, wie Alford und sein Team.

“Ich verstehe”, sagte Riley. “Wir verlegen es auf Morgen früh. Was ist mit der Familie des ersten Opfers?”

“Ich denke, dass noch Verwandte von ihr in Eubanks sind”, sagte Alford. “Ich werde das gleich mal überprüfen. Lassen Sie uns nur nichts überstürzen. Schließlich hat der Mörder es auch nicht eilig. Sein letzter Mord war vor fünf Jahren, also gehe ich nicht davon aus, dass er es so schnell noch einmal plant. Wir sollten uns Zeit nehmen, um es richtig zu machen.”

Alford stand auf.

“Ich sollte mich wohl besser für die Pressekonferenz vorbereiten”, sagte er. “Wollen Sie daran teilnehmen? Haben Sie eine Erklärung abzugeben?”

Riley dachte darüber nach.

“Nein, ich denke nicht”, sagte sie. “Es ist besser, wenn das FBI vorerst nicht auffällt. Wir wollen nicht, dass der Mörder denkt er würde zu viel Aufmerksamkeit bekommen. Es ist wahrscheinlicher, dass er sich zeigt, wenn er glaubt, dass er nicht die Aufmerksamkeit bekommt, die er verdient. Es ist besser, wenn Sie fürs Erste das Gesicht sind, das die Leute sehen.”

“Okay, dann wollen Sie sich vielleicht erst einmal einrichten”, sagte Alford. “Ich habe Räume für Sie in einem örtlichen B&B reserviert. Vorne steht auch ein Wagen, den Sie nutzen können.”

Er schob ihnen die Reservierungsbestätigung und einen Autoschlüssel über den Schreibtisch zu. Riley und Lucy verließen das Revier.

*

Später am Abend saß Riley in einem Erkerfenster, das die Hauptstraße von Reedsport überblickte. Es dämmerte und die Straßenlaternen gingen an. Die Nachtluft war angenehm warm und alles war ruhig, da kein Reporter zu sehen war.

Alford hatte zwei hübsche Zimmer in dem B&B für Riley und Lucy reserviert. Die Frau, der das B&B gehörte, hatte ein fantastisches Abendessen serviert. Dann hatten Riley und Lucy etwa eine Stunde im Aufenthaltsraum verbracht, um den nächsten Tag zu planen.

Reedsport war eine malerische kleine Stadt. Unter anderen Umständen wäre es ein schöner Urlaubsort gewesen. Aber nachdem die Gespräche über den aktuellen Mord für den Tag hinter ihr lagen, wanderten ihre Gedanken zu persönlicheren Problemen.

Sie hatte den ganzen Tag nicht an Peterson gedacht. Er war da draußen, und sie wusste es, aber niemand glaubte ihr. War es die richtige Entscheidung gewesen die Dinge so hinter sich zu lassen? Hätte sie härter versuchen sollen jemanden zu überzeugen?

Es jagte ihr einen Schauer über den Rücken an die beiden Mörder zu denken – Peterson und wer auch immer diese beiden Frauen getötet hatte – und wie sie gerade unbeeinflusst ihr Leben lebten. Wie viele waren noch da draußen? Warum wurde unsere Kultur von diesen verdrehten Menschen geplagt?

Was machten sie gerade? Waren sie gerade dabei etwas zu planen oder verbrachten sogar gemütlich ihre Zeit mit Freunden und Familie – unschuldigen Menschen, die keine Ahnung von ihren bösen Gedanken hatten?

Riley hatte keine Ahnung. Aber es war ihr Job es herauszufinden.

Sie dachte außerdem beunruhigt an April. Es fühlte sich nicht richtig an, sie bei ihrem Vater zu lassen. Aber was hätte sie sonst tun sollen? Auch wenn sie diesen Fall nicht angenommen hätte, wäre bald ein anderer auf ihrem Schreibtisch gelandet. Sie hatte einfach zu viel zu tun, um sich mit einem rebellierenden Teenager auseinander zu setzen. Sie war nicht genug zu Hause.

Aus einem Impuls heraus, nahm Riley ihr Handy und schickte ihr eine Nachricht.

Hey April. Wie geht's dir?

Nach ein paar Sekunden kam die Antwort.

Mir geht's gut Mom. Wie geht's dir? Hast du es schon gelöst?

Es dauerte einen Moment, bis Riley verstand, dass April den neuen Fall meinte.

Noch nicht, tippte sie.

April antwortete, Das schaffst du bestimmt bald.

Riley lächelte bei dieser Vertrauensbeurkundung.

Sie tippte, Willst du reden? Ich könnte dich anrufen.

Sie wartete einige Minuten auf Aprils Antwort.

Nicht jetzt. Mir geht's gut.

Riley wusste nicht, was das genau bedeutete. Ihr wurde das Herz schwer.

 

OK, tippte sie. Gute Nacht. Hab dich lieb.

Sie beendete die Unterhaltung und starrte in die Nacht. Sie lächelte wehmütig, als sie über Aprils Frage nachdachte.

“Hast du es schon gelöst?”

“Es” konnte in Rileys Leben alles Mögliche bedeuten. Und sie hatte das Gefühl, dass sie weit, weit davon entfernt war etwas davon zu lösen.

Riley starrte weiter in die Nacht. Sie stellte sich vor, wie der Mörder über die Hauptstraße direkt zu den Bahngleisen fuhr. Das war eine dreiste Entscheidung gewesen. Aber nicht annähernd so dreist wie sich die Zeit zu nehmen die Leiche von einem Strommast zu hängen, wo sie im Licht des Lagerhauses sichtbar war.

Dieser Teil seiner MO hatte sich in den letzten fünf Jahren drastisch geändert, von einem nachlässigen Abladen der Leiche neben einem Fluss, zu einer Ausstellung, die jeder sehen konnte. Er kam Riley nicht sonderlich organisiert vor, aber er schien deutlich besessener zu werden. Etwas musste sich in seinem Leben geändert haben. Aber was?

Riley wusste, dass diese Art von Kühnheit oft ein größer werdendes Verlangen nach Bekanntheit und Ruhm repräsentierte. Das war auch bei dem letzten Mörder so gewesen, den sie gejagt hatte. Aber für diesen Fall schien es nicht zu stimmen. Etwas sagte Riley, dass der Mörder nicht nur klein und eher schwach war, sondern dass er auch zurückhaltend, fast bescheiden war.

Er mochte es nicht zu töten, dessen war Riley sich sicher. Und es war auch nicht Bekanntheit, die ihn zu dieser Kühnheit antrieb. Es war pure Verzweiflung. Vielleicht sogar Reue, ein halb-unterbewusstes Verlangen geschnappt zu werden.

Riley wusste aus persönlicher Erfahrung, dass Mörder nie gefährlicher waren, als wenn sie anfingen sich gegen sich selbst zu richten.

Riley dachte an etwas, das Alford gesagt hatte.

“Der Mörder hat es schließlich auch nicht eilig.”

Riley war sich sicher, dass der Polizeichef damit falsch lag.

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