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Kapitel zwei

Etwas stimmte nicht, das wusste Riley. Statt hereinzukommen und sich wie zuhause zu fühlen, wie er es normalerweise tat, stand Blaine bloß vor ihrer Eingangstür da. Sein angenehmes Gesicht hatte einen unbestimmten erwartungsvollen Ausdruck.

Riley wurde mutlos. Sie hatte eine ziemlich genaue Ahnung, was Blaine auf dem Herzen lag. Sie hatte es tatsächlich schon seit Tagen kommen sehen. Für einen kurzen Moment verspürte sie den Wunsch die Tür einfach zu schließen und so zu tun, als wäre er gar nicht vorbeigekommen.

„Komm rein“, sagte sie.

„Danke“, antwortete Blaine, als er ins Haus eintrat.

Als sie sich im Wohnzimmer hinsetzten, fragte Riley: „Möchtest du etwas trinken?“

„Äh, nein, ich glaube nicht. Danke.“

Er erwartet nicht, dass sein Besuch lange dauern wird, dachte Riley.

Dann schaute er sich um und bemerkte: „Es ist ja unglaublich still im Haus. Sind die Mädchen heute Nachmittag irgendwo anders?“

Es wäre Riley beinahe rausgeplatzt: „Nein, sie wollen einfach nur nichts mehr mit mir zu tun haben.“

Doch das schien unpassend unter den gegebenen Umständen. Wenn zwischen ihnen alles normal gewesen wäre, hätte Riley sich gerne über die Strapazen des Mutterseins ausgelassen und hätte von Blaine erwarten können, dass er freudig miteinstimmen würde und sogar ihre Laune mit ein paar ermunternden Worten heben könnte.

Dies war aber nicht einer dieser Momente.

„Wie fühlst du dich?“, fragte Blaine.

Einen Moment lang kam Riley die Frage ziemlich komisch vor und sie wollte beinahe sagen: „Ziemlich nervös. Und du?“

Doch dann begriff sie, dass er über ihre Wunde sprach. Während ihres Genesungsprozesses war er extrem aufmerksam und freundlich zu ihr gewesen. An vielen Abenden hatte er köstliches Essen aus dem feinen Restaurant, das er besaß und leitete, mitgebracht.

Doch genau diese Aufmerksamkeit war für sie ein Anhaltspunkt gewesen, dass etwas Unangenehmes folgen würde. Er war natürlich immer ein herzlicher und rücksichtsvoller Mann gewesen. Aber in den letzten Wochen hatte sich eine verräterische Traurigkeit über seine Freundlichkeit gelegt – ein Hauch einer unausgesprochenen und unerklärten Entschuldigung vielleicht.

Sie sagte: „Es geht mir sehr viel besser, danke.“

Blaine nickte und sagte dann langsam und überlegt: „Ich nehme an, du wirst also zur Arbeit zurückkehren.“

Da ist es, dachte Riley.

„Ich weiß nicht“, sagte sie. „Es liegt an meinem Boss. Er hat mir bisher keinen neuen Fall zugeteilt.“

Blaine schielte auf sie und sagte: „Aber fühlst du dich bereit, zur Arbeit zurückzukehren?“

Riley seufzte. Sie erinnerte sich an das Gespräch, dass sie geführt hatten, kurz nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Sie hatte ihm gesagt, dass sie erwartete innerhalb der nächsten Woche zurück bei der Arbeit zu sein und er hatte nicht versucht seine Besorgnis darüber zu verstecken. Sie hatten damals aber nicht versucht die Sache zu klären.

Stattdessen hatte Riley seine Hand gedrückt und gesagt: „Ich nehme an, wir sollten uns über einige Dinge unterhalten.“

Seitdem war mehr als eine Woche vergangen.

Dieses Gespräch ist überfällig, dachte sie.

Sie sagte: „Blaine, ich fühle mich jetzt schon seit Tagen bereit, wieder zu arbeiten. Ich bin mehr als bereit. Es tut mir leid. Ich weiß, dass es nicht das ist, was du hören möchtest.“

Blaine starrte einen Moment lang zu Boden.

„Riley, denkst du nie darüber nach…?“

Er verstummte.

„Worüber?“, fragte Riley und versuchte eine Note der Verbitterung aus ihrer Stimme rauszuhalten. „Einen anderen Beruf zu ergreifen?“

„Ich weiß nicht“, sagte Blaine mit einem Schulterzucken. „Du könntest sicher andere Dinge beim FBI machen, die nicht so… risikoreich sind. Du bist jetzt seit – was? – beinahe zwanzig Jahren eine Außendienstagentin? Ich weiß, dass du großartige Arbeit geleistet hast und ich bewundere deine Hingabe und deinen Mut. Aber warst du nicht lange genug in diesem Dienst? Denkst du nicht, dass du mehr verdienst?“

Er hörte wieder auf zu sprechen.

Riley sagte: „Mehr – Sicherheit, meinst du? Etwas weniger Gefährliches?“

Blaine nickte.

Riley wusste nicht, was sie sagen sollte. Natürlich hatte sie eine gewisse Auswahl an Aufgabenbereichen, sogar innerhalb der Verhaltensanalyseeinheit. Doch das würde große Veränderungen mit sich bringen. Sie konnte sich nicht vorstellen im Büro zu arbeiten und bloß die Beweislage durchzugehen, für die andere Agenten ihr Leben riskiert hatten. Obwohl sie es genossen hatte ab und zu mal Vorlesungen an der Akademie zu halten, dachte sie, dass es schwer sein würde in Vollzeit zu lehren. Rekruten ihre Fälle zu erklären würde sie bloß daran erinnern, womit sie sich nicht länger beschäftigen konnte. Sie konnte sich kein Leben vorstellen, in dem sie dem Bösen nicht von Angesicht zu Angesicht begegnete, trotz aller Gefahren.

Es würde bedeuten all das aufzugeben, worin sie wirklich gut war.

Doch wie konnte sie Blaine das erklären?

Dann sagte Blaine: „Ich hoffe du verstehst – es bin nicht ich, um den ich mir Sorgen mache.“

Riley verspürte einen scharfen Stich, als sie begriff.

„Ich weiß“, sagte sie.

Sie wusste wirklich, dass er das absolut ehrlich meinte. Und das sagte viel über Blaine selbst aus. Rileys Arbeit hatte Gefahren in sein eigenes Leben gebracht und er war ihnen mutig begegnet. Letzten Dezember war ein Verbrecher, der sich unbedingt an Riley rächen wollte, in ihr Haus eingedrungen, als sie nicht da gewesen war, und hatte versucht April und Gabriela umzubringen. Blaine war zu ihrer Rettung gekommen und wurde selbst schwer verletzt. Riley schüttelte es immer noch vor Grauen, wann immer sie daran dachte.

Blaine fügte hinzu: „Ich mache mir nicht einmal um dich Sorgen, oder zumindest größtenteils nicht um dich.“

„Ich weiß“, sagte Riley erneut.

Er musste es nicht erklären. Sie wusste, dass er sich um ihre Kinder Sorgen machte – um Rileys zwei Töchter und seine eigene jugendliche Tochter, Crystal.

Und sie wusste, er hatte allen Grund dazu, besorgt zu sein.

Egal wie viel Mühe sie sich gab, sie konnte nicht für ihre Sicherheit garantieren solange sie dieses Leben führte. In Wirklichkeit war wegen der Kriminellen, denen sie begegnet war, selbst wenn sie diese besiegt hatte, die Sicherheit aller um sie herum bedroht. Mehr als einmal waren Figuren aus ihrer Vergangenheit wieder aufgetaucht mit dem Versuch sich an ihr zu rächen.

Blaine öffnete etwa den Mund, so als würde er nach den richtigen Worten suchen.

Stattdessen sprach Riley: „Blaine, ich verstehe es. Wir müssen dieses Gespräch nicht führen. Wir haben es jetzt schon eine ganze Weile geführt, wir haben bloß nicht immer alles laut ausgesprochen. Ich verstehe es. Das tue ich wirklich.“

Sie schluckte laut und fügte hinzu: „Es wird nicht klappen – zwischen dir und mir.“

Im selben Moment, da sie die Worte aussprach, wurde sie von dem Verlustgefühl fast überwältigt.

Blaine nickte.

„Es tut mir leid“, sagte Riley.

„Dir muss nichts leidtun“, sagte Blaine.

Riley musste sich zurückhalten, um nicht zu sagen: „Oh, das tut es. Das tut es wirklich.“

Schließlich war es wegen ihrer eigenen Lebensentscheidungen, das Blaine sich so fühlte. Blaine hatte sein Bestes gegeben, um ihre Entscheidungen zu akzeptieren. Doch am Schluss war er wirklich nicht in der Lage gewesen, es zu tun. Und Riley wusste, dass sie niemanden dafür verantwortlich machen konnte, außer sich selbst.

Sie und Blaine schwiegen beide eine Weile. Sie saß auf der Couch und er ihr gegenüber in einem Sessel. Sie erinnerte sich, wie sie zum ersten Mal Händchen gehalten hatte, als sie auf dieser Couch hier gesessen hatten. Es war ein magischer Moment gewesen, in dem sie gedacht hatte, dass ihr Leben sich plötzlich zum Besseren gewendet hatte.

Sie wünschte, dass sie jetzt auch seine Hand ergreifen könnte. Doch sie wusste, dass die Distanz zwischen ihnen viel größer war, als die paar Zentimeter zwischen den zwei Möbelstücken.

In jedem Fall schienen sie eine Entscheidung getroffen zu haben. Sie war sich nicht sicher, welche Entscheidung genau das war, und sie bezweifelte auch, dass Blaine das wusste. Doch irgendetwas zwischen ihnen war beendet. Und es war unmöglich es wieder zurückzuholen.

Sie begannen sich zu unterhalten, ungeschickt und zurückhaltend, über dies und das. Blaine versicherte Riley, dass ihre Familie in seinem Restaurant immer auf ein kostenloses Essen herzlich willkommen war und dass er sich freuen würde sie alle zu sehen.

Und natürlich würden sie in engem Kontakt wegen ihrer Töchter bleiben. April und Crystal waren schließlich beste Freundinnen und sie würden einander oft besuchen. Das hier war nicht wie eine Scheidung. Sie würden sich immer nahestehen.

Blaine lächelte schwach und fügte hinzu: „Vielleicht wird sich also gar nicht so viel verändern.“

Riley blinzelte sich eine Träne aus den Augen und sagte: „Vielleicht.“

Doch das stimme nicht, und das wusste sie.

Dann sagte Blaine, dass er wohl zurück an die Arbeit sollte, also erhoben sich beide und küssten einander verlegen auf die Wange, bevor Blaine das Haus verließ.

Riley murmelte: „Es ist Zeit für einen Drink.“

Sie ging in die Küche und schenkte sich ein Glas Bourbon ein, ging dann zurück ins Wohnzimmer und setzte sich hin. Das Haus war gespenstisch still und Riley fühlte sich zutiefst allein gelassen. Und natürlich war sie wirklich allein, auch mit drei anderen Menschen in der Nähe. Für eine kurze Weile weinte sie leise.

Nachdem sie sich ihre Tränen weggewischt hatte und begann an ihren Bourbon zu nippen, versuchte sie die Erinnerungen an fröhlichere Tage aus ihrem Kopf zu verbannen. Doch irgendwie schaffte sie es nicht. Sie dachte an den Abend, an dem sie und Blaine sich zum ersten Mal auf einer Tanzfläche geküsst hatten, während eine Band auf seine Bitte hin ihr Lieblingslied spielte. Sie erinnerte sich an die Nacht, in der sie zum ersten Mal miteinander geschlafen hatten.

 

Und sie dachte auch an die zwei Wochen, die sie, Blaine und ihre drei Mädchen zusammen in einem gemieteten Haus an der Küste von Sandbridge Beach verbracht hatten. Sie hatten sich damals wirklich wie eine Familie gefühlt. Insbesondere erinnerte sie sich an den beruhigenden, leisen Klang der Wellen an dem Abend, an dem Blaine ihr Architekturpläne gezeigt hatte, um sein eigenes Haus zu erweitern, sodass sie alle zusammen darin wohnen konnten.

Sie hatten wirklich aufrichtig darüber nachgedacht zu heiraten.

Das war erst vor etwa einem Monat.

Doch es kommt mir jetzt so weit weg vor.

Eine andere, unangenehmere Erinnerung, drängte sich nun in ihren Kopf. Es war als Blaine ihr an dem Morgen, nachdem sie zum ersten Mal miteinander geschlafen hatten, sagte: „Ich glaube, ich muss mir eine Waffe kaufen.“

Und natürlich hatte er dieses Bedürfnis wegen Riley verspürt und den Gefahren, die eine Beziehung mit ihr nach sich zog. Sie waren zum Waffenladen gegangen und hatten ihm eine Smith and Wesson 686 gekauft, und im Anschluss hatte Riley ihm seinen ersten Schießunterricht in der Schießhalle direkt vor Ort gegeben.

Riley lächelte ein bitteres Lächeln und dachte: Ich hoffe, er passt besser mit der Waffe auf, als April es mit ihrer getan hat.

Doch wozu brauchte er nun noch diese Waffe, jetzt, wo es vorbei war zwischen ihnen?

Was würde er damit machen?

Sie einfach irgendwo im Haus wegsperren und vergessen, dass er sie überhaupt besaß?

Oder würde er sie verkaufen?

Als sie über diese Fragen nachdachte, spürte sie, wie eine unerwartete Emotion in ihr hochkam. Ihr Atem und Puls wurden schneller und sie begriff überrascht: Ich bin wütend.

Sie kämpfte mit Selbstvorwürfen und Selbstzweifeln, seitdem Blaine hier gewesen war – eigentlich sogar schon vor seinem Besuch, als sie sich zumindest teilweise schuldig für Aprils Unfall mit der Pistole fühlte.

Doch war alles, was in ihrem Leben schief lief, wirklich ihre Schuld?

Riley knurrte leise, während sie einen weiteren Schluck Bourbon nahm.

So viele Enttäuschungen, dachte sie.

Sie war es leid sich an all diesen Enttäuschungen selbst die Schuld zu geben – einschließlich an dem Scheitern ihrer Ehe mit Ryan. War es wirklich ihre Schuld gewesen, dass Ryan ein untreuer, selbstsüchtiger Arsch gewesen war, ebenso wie ein schlechter Ehemann und Vater? Und war es ihre Schuld, dass April der Verantwortung, die eine Waffe mit sich brachte, nicht gewachsen war, oder das Jilly auf sie wütend war, dass sie selbst keine Waffe bekommen hatte?

Und war es wirklich ihre Schuld, dass Blaine sie nicht als die akzeptieren konnte, die sie wirklich war, dass er ihre Beziehung nicht fortführen wollte, außer sie verwandelte sich in jemanden, die sie unmöglich sein konnte? Als sie diese Hoffnungen hatte ein neues Leben mit ihm und seiner Tochter zu beginnen, hatte sie wirklich zu viel von ihm erwartet? Bedeutete wahre Verbundenheit nicht immer das Gute gemeinsam mit dem Schlechten zu akzeptieren?

Was es möglich, dass Blaine sie verriet und nicht andersherum?

Jetzt, wo Riley darüber nachdachte, gab es da doch etwas, was sie sich vorzuwerfen hatte. Es war ein einziger Fehler, den sie ihr gesamtes eben immer und immer wieder machte.

Ich vertraue den Menschen.

Und früher oder später brachen alle Menschen dieses Vertrauen, egal wie sehr sie sich ihrerseits bemühte all ihre Forderungen und Erwartungen zu erfüllen.

Dann hörte Riley Geräusche aus der Küche kommen. Gabriela war hochgekommen und hatte begonnen, das Abendessen zuzubereiten. Riley musste sich eingestehen, dass Gabriela die eine Person war, die sie nie enttäuscht hatte und nie ihr Vertrauen missbraucht hatte.

Und doch gab es Grenzen in ihrer Beziehung mit Gabriela. Obwohl Gabriela wie ein weiteres Familienmitglied war, war Riley doch Gabrielas Arbeitgeberin. Und daher konnten sie sich auch nur durch diesen Umstand begrenzt nahekommen, selbst freundschaftlich.

Gabriela begann in der Küche eine guatemalische Melodie zu summen und Riley konnte fühlen, wie ihre Wut begann abzuebben. Sie dachte sich, dass bald sie, Gabriela und die Kinder sich gemeinsam zu einem wundervollen Abendessen einfinden würden.

Selbst wenn sie kaum ein Wort miteinander reden würden, war das etwas Schönes.

Sie nahm einen weiteren Schluck Bourbon und murmelte: „Das Leben geht weiter.“

* * *

Früh am nächsten Morgen wurde Riley vom Geräusch ihres vibrierenden Handys auf dem Nachttisch geweckt. Verschlafen griff sie nach dem Handy, wurde jedoch augenblicklich wach, als sie sah, dass der Anruf von ihrem Boss, Brent Meredith kam.

„Habe ich Sie geweckt, Agentin Paige?“, fragte Meredith in seiner tiefen, bebenden Stimme.

Riley wollte es beinahe verneinen, entschied sich jedoch schnell dagegen. Es war immer besser Meredith die Wahrheit zu sagen, selbst über so scheinbar bedeutungslose Kleinigkeiten. Es hatte das gruselige Vermögen selbst die kleinste Unaufrichtigkeit zu spüren. Und er mochte es wirklich nicht, belogen zu werden. Riley hatte das auf die harte Tour lernen müssen.

„Ja, aber das ist in Ordnung, Sir“, sagte Riley. „Was kann ich für Sie tun?“

„Ich habe mich gefragt, ob Sie vielleicht bereit sind, wieder in die Arbeit einzusteigen“, sagte Meredith.

Riley setzte sich im Bett auf, von Sekunde zu Sekunde immer wacher.

Was soll ich antworten? fragte sie sich.

Selbst nach dem gestrigen Abendessen war die Stimmung zwischen ihr und ihren beiden Töchtern immer noch angespannt. Die Mädchen waren immer noch beleidigt und distanziert. War es wirklich der passende Moment, um wieder an die Arbeit zu gehen? Sollte sie sich nicht etwas Zeit nehmen, um zu versuchen, die Dinge hier zuhause zu richten?

„Gibt es einen neuen Fall?“, fragte sie.

„Sieht ganz danach aus“, sagte Meredith. „Es hat in den vergangenen Wochen zwei Morde in der Vorstadt von Philadelphia gegeben. Wegen einiger Auffälligkeiten an beiden Tatorten, denkt die dortige Polizei, dass die Fälle etwas miteinander zu tun haben müssen und bittet uns um unsere Hilfe. Ich weiß, dass Sie sich von ihrer Verletzung erholten und ich will nicht – “

„Ich bin dabei“, unterbrach Riley ihn.

Die Worte waren draußen, bevor sie überhaupt wusste, dass sie sie ausgesprochen hatte.

„Es freut mich das zu hören“, sagte Meredith. Dann fügte er hinzu: „Agent Jeffreys ist immer noch beurlaubt. Ich werde Agentin Roston mit Ihnen zusammen auf den Fall ansetzen.“

Riley wollte beinahe wiedersprechen. Genau jetzt wollte sie wirklich ihren Langzeitpartner und besten Freund, Bill Jeffreys mit dabei haben, doch dann erinnerte sie sich an ihr letztes Telefonat. Er hatte ziemlich angespannt geklungen, und er hatte allen Grund dazu. Bill hatte auf den Mann geschossen, der Riley mit einem Eispickel angegriffen hatte – er hatte auf ihn geschossen und ihn getötet.

Es war nicht die erste Person, die Bill oder Riley über die Jahre bei der Ausübung ihrer Dienstpflichten getötet hatten, doch Bill nahm es dieses Mal mehr mit als sonst. Es war das erste Mal, das er Gewalt mit möglicher Todesfolge angewendet hatte, seitdem er letzten April versehentlich einen unschuldigen Mann angeschossen hatte. Der Mann hatte überlebt, aber Bill wurde immer noch von diesem Fehler verfolgt.

„Agentin Roston wird schon passen“, sagte Riley zu Meredith. Die junge Afro-Amerikanische Agentin war in den letzten Monaten zu Rileys Protegé geworden. Riley hatte eine hohe Meinung von ihr.

„Ich werde ein Flugzeug für Sie von Quantico nach Philly bereitstellen, sobald Sie beide hier sind“, sagte Meredith. „Wir treffen uns auf der Landebahn.“

Sie legten auf und Riley saß noch einige Momente auf dem Bett und starrte ihr Telefon an.

Habe ich die richtige Entscheidung getroffen? fragte sie sich.

Sollte sie wirklich einfach so davonfliegen, wenn hier Zuhause gerade alles so unsicher war?

Die Frage rief dieselbe Wut hervor, die sie schon gestern gespürt hatte.

Erneut ärgerte sie sich, so viel über die Wünsche und Bedürfnisse anderer nachdenken zu müssen – besonders da sie so oft vergaßen, an sie zu denken.

Sie könnte hier bleiben und ihr Bestes geben, um Jilly und April zu besänftigen, indem sie sich für Dinge entschuldigte, die eigentlich überhaupt nicht ihre Schuld waren, oder sie könnte da rausgehen und sich nützlich machen. Und in diesem Moment hatte sie einen Job zu tun – einen Job, den, wenn überhaupt, dann nur wenige so gut wie sie machen konnten.

Sie schaute auf die Uhr und sah, dass es immer noch sehr früh am Morgen war. Sie wusste, dass Gabriela bereits wach sein würde, um das Frühstück zuzubereiten, dass die Kinder aber immer noch schliefen. Riley war nicht danach, den Kindern ihre Entscheidung zu erklären, doch sie wusste, dass Gabriela es verstehen würde, wenn sie runtergehen und es ihr sagen würde. Riley konnte für den Weg etwas zu Essen mitnehmen und losfahren, und Gabriela würde es den Mädchen sagen, bevor sie sie zur Schule schickte.

Jetzt musste Riley sich erstmal anziehen und ihre Reisetasche packen. Als sie aus dem Bett steig und ins Bad ging, fühlte sie, dass sie sich seit Tagen nicht mehr so gut gefühlt hatte, wie jetzt.

Bald würde sie etwas tun, worin sie gut war – selbst, wenn es überaus gefährlich sein konnte.

Kapitel drei

Als das FBI Flugzeug in Quantico startete, begann Riley die Unterlagen zum Fall auf ihrem Tablet Computer durchzugehen. Sie wollte gerade einen bestimmten Punkt kommentieren, als sie bemerkte, dass Jenn Roston, die neben ihr saß, nicht aufpasste. Jenn starrte aus dem Fenster, offensichtlich verloren in ihren eigenen Gedanken.

„Ich denke, wir sollten beginnen“, sagte Riley.

Doch sie erhielt keine Antwort von ihrer jungen Partnerin.

Riley sagte: „Hast du mich gehört, Jenn?“

Erneut bekam sie keine Antwort.

Riley sagte nun lauter: „Jenn.“

Jenn schaute sie aufgeschreckt an.

„Was?“ sagte sie.

Es erschien Riley fast so, als hätte Jenn vergessen, wo sie sich befand.

Was ist los mit ihr? fragte Riley sich.

Sie hatten sich vorhin beeilen müssen, um zum Flugzeug zu kommen. Meredith hatte die beiden Agentinnen nicht einmal in sein Büro eingeladen, um sie in den Fall einzuführen. Stattdessen hatte er sie neben dem wartenden Flugzeug auf der Landebahn getroffen. Kurz bevor sie ins Flugzeug gestiegen waren, hatte Meredith Riley hastig erklärt, wie sie die relevanten Polizeiberichte runterladen konnte. Sie hatte grade noch geschafft das zu tun, bevor das Flugzeug abgehoben war.

Jetzt, wo das Flugzeug an Flughöhe gewann, hatte sie die Erwartung, den Fall mit ihrer Partnerin besprechen zu können. Doch Jenn schien gerade nicht sie selbst zu sein.

Mit ihrer dunklen Haut, ihren kurzen glatten Haaren und ihren großen, eindringlichen Augen, hinterließ Rileys Partnerin den Eindruck einer Frau, die wusste, was sie tat. Und normalerweise stimmte das auch, doch heute schien Jenn abgelenkt zu sein.

Riley deutete auf ihren Computer und sagte: „Wir haben einen Fall, an dem wir arbeiten sollten.“

Jenn nickte hastig und sagte: „Ich weiß. Was haben wir bereits?“

Während sie die Polizeiberichte überflog, sagte Riley: „Nicht viel, zumindest noch nicht. Vor einer Woche gab es einen Mord in Petersboro, einem Vorort von Philadelphia. Justin Selves, Ehemann und Vater, wurde in seinem Haus ermordet. Ihm wurde die Kehle aufgeschnitten.“

„Was war das Motiv?“, fragte Jenn.

Riley sagte: „Zuerst hatte die Polizei angenommen, dass es ein missglückter Einbruch sei. Doch erst gestern wurde eine Frau namens Joan Cornell tot in ihrem Haus in Springett, einem anderen Vorort direkt neben Petersboro, aufgefunden. Auch ihr wurde die Kehle durchgeschnitten.“

Jenn neigte den Kopf zur Seite und sagte: „Vielleicht war das auch nur ein vermasselter Einbruch. Die Todesursache könnte bloßer Zufall sein. Sollte für die dortige Polizei doch auch ohne unsere Hilfe einfach zu klären sein. Klingt nicht nach einer Serie.“

Riley schaute die Berichte weiter durch und sagte: „Vielleicht auch nicht, außer einem merkwürdigen Detail. Von jedem Tatort wurde ein Stuhl geklaut.“

„Ein Stuhl?“, fragte Jenn.

„Ja, ein Esszimmerstuhl.“

„Was macht das denn für einen Sinn?“, fragte Jenn.

Riley sagte: „Bisher keinen vielleicht. Es ist unsere Aufgabe, dahinter zu kommen.“

Jenn schüttelte den Kopf und murmelte: „Stühle. Wir ermitteln wegen geklauten Stühlen.“

 

Dann zuckte sie mit den Schultern und sagte: „Ich wette, es ist nichts. Jedenfalls nichts, womit sich die Verhaltensanalyseeinheit befassen müsste. Bloß ein paar dumme und scheußliche Morde. Ehe wir uns versehen, werden wir wahrscheinlich auf dem Weg zurück nach Quantico sein.“

Riley wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie hatte nicht die Gewohnheit sich eine Meinung zu bilden, bevor sie einen Fall überhaupt erst begonnen hatte. Und es sah auch Jenn nicht ähnlich, das zu tun, aber aus irgendeinem Grund schien Jenn gerade untypisch gleichgültig zu sein.

Riley fragte vorsichtig: „Jenn, stimmt irgendetwas nicht?“

„Nein“, sagte Jenn. „Wieso fragst du?“

Riley suchte nach den richtigen Worten.

„Naja, es ist nur so…dass du irgendwie…“

Riley hielt inne und sagte dann: „Du würdest es mir sagen, wenn irgendwas nicht stimmen würde, oder?“

Jenn lächelte schwach.

„Was soll schon nicht stimmen?“, fragte sie Riley. Dann drehte sie sich wieder weg und starrte erneut aus dem Fenster.

Riley bekam von Jenns ausweichender Antwort ein unruhiges Kribbeln. Sie fragte sich, ob sie auf der Sache beharren sollte. Jenn konnte sensibel reagieren, wenn Menschen zu viele bohrende Fragen stellten. Riley versuchte sich einzureden, dass alles in Ordnung war. Es war möglich, dass es nur eine vergängliche Laune von Jenns Seite aus war.

Und doch.

Riley wusste viel über Jenn – besonders über ihre Vergangenheit. Sie wusste, dass Jenn in einer sogenannten „Pflegefamilie“ aufgewachsen war, die von einer genialen und bösen Frau, die sich „Tante Cora“ nannte, geleitet worden war. Tante Cora hatte alle ihre Pflegekinder auf Rollen in ihrem eigenen kriminellen Netzwerk abgerichtet.

Soweit war Jenn das einzige Pflegekind gewesen, das Tante Coras Klauen entkommen konnte. Mit ihrem scharfen Verstand und ihrem entschlossenen Charakter hatte sie sich zuerst als Polizistin und dann als Verhaltensanalyseagentin Respekt verschaffen. Doch Riley wusste, dass Tante Cora in der Zeit, in der sie miteinander gearbeitet hatten, mit Jenn Kontakt gehabt hatte. Dieser Kontakt schien die junge Agentin immer zu verstören, doch er hatte sie nicht davon abgehalten ihre Arbeit zu tun.

Was war jetzt los? Versuchte Tante Cora Jenn zurück in ihre Einflusssphäre zu locken?

Sie würde mir das sicherlich erzählen, dachte Riley sich.

Die zwei hatten einander misstraut, als sie zum ersten Mal miteinander gearbeitet hatten, doch einige gefährliche Fälle hatten sie einander sehr viel nähergebracht. Sie hatten einander einige ziemlich dunkle Geheimnisse anvertraut. Jenn wusste sogar besser Bescheid als Bill, was Rileys frühere Verbindung mit einem kriminellen Genie namens Shane Hatcher anbelangte.

Riley und Jenn hatten sich darauf geeinigt, nichts Wichtiges voreinander zu verbergen. Daher war Riley nun zurückhaltend, wenn es darum ging, Erklärungen einzufordern.

Nein, beschloss sie. Ich muss ihr vertrauen.

Riley verzog bei ihrem eigenen Gedanken sie Miene.

Ihre Trennung von Blaine beschäftigte sie immer noch. Das tat auch Aprils unverantwortlicher Umgang mit der Pistole und Jillys Eingeschnapptheit darüber, dass sie keine eigene Pistole bekommen hatte.

Riley seufzte und dachte: Mit dem Vertrauen ist es bei mir gerade knapp.

* * *

Das Flugzeug war gerade mal eine Stunde in der Luft, als es auch schon im Philadelphia International Airport landete. Dort wurden die Agentinnen von einem Polizisten empfangen, der sie nördlich nach Springett brachte, einem wohlhabenden Philadelphia Vorort. Das Auto hielt vor einem hübschen dreistöckigen Haus, vor dem bereits ein paar Dienstfahrzeuge geparkt waren.

Riley und Jenn stiegen aus dem Auto und gingen zum Haus. Ihr Fahrer stieg ebenfalls aus und folgte ihnen.

Ein weißhaariger uniformierter Mann verließ das Haus und bahnte sich den Weg an der Polizeiabsperrung vorbei und über die Veranda. Er stellte sich selbst als Jeremy Kree vor, der Polizeichef des nahegelegenen Petersboro, wo der erste Mord stattgefunden hatte.

Als sie seine Hand schüttelte, sagte Riley: „Agentin Roston und ich werden ein Fahrzeug brauchen, um in der Gegend rumzukommen.“

Kree nickte und sagte: „Sie können den Wagen benutzen, in dem sie hierhergekommen sind.“

Er wies den Polizisten, der sie gefahren hatte an, ihnen die Schlüssel für das in Zivil getarnte Auto zu leihen. Dann führe er sie hinein ins Haus und stellte sie Burton Shore vor, einem jüngeren Mann, der der Polizeichef von Springett war. Burton führte sie an die Stelle, wo der Mord geschehen war.

Das erste, was Riley auffiel, war der Esszimmertisch, der ein modernes quadratisches Design hatte und von drei Stühlen an jeweils drei der Enden umgeben war. Dem Bericht den sie gelesen hatte zufolge, war ein vierter Stuhl ursprünglich Teil der Garnitur gewesen, bevor er gestohlen wurde. Der Tisch selbst kam ihr klein vor für so ein großes Familienhaus. In dem großen Esszimmerbereich wirkte er ziemlich merkwürdig.

Wahrscheinlich ein bedeutungsloses Detail, dachte Riley.

Trotzdem störte es sie, und sie war sich nicht sicher, wieso.

Shore führte sie um einen Marmortresen herum, der einen verräterischen Blutfleck an der Kante hatte. Dort auf dem Küchenzimmerboden war der Umriss der Leiche abgeklebt, der zeigte, wie das Opfer gefallen war. Eine große Lache bräunlichen Blutes auf dem Fliesenboden war beinahe vollständig geronnen, schien jedoch noch etwas feucht zu sein.

Riley fragte Chief Shore: „Wann wurde die Leiche abtransportiert?“

„Der Bezirksgerichtsmediziner hat gestern Abend befohlen, sie mitzunehmen. Er wollte so bald wie möglich die Autopsie beginnen. Ich nehme an, dass das ok ist.“

Riley nickte. Sie hätte es bevorzugt, dass der Tatort vor ihrer Ankunft so unangetastet wie möglich geblieben wäre. Doch die Entscheidung des Gerichtsmediziners war nicht unvernünftig gewesen, insbesondere weil die Verbindung mit dem ersten Mord nicht sofort klar gewesen war.

Sie fragte beide Chiefs: „Was haben Sie an Fotos?“

Chief Shore öffnete eine Mappe, um die Fotos vom hiesigen Tatort zu zeigen, an dem Joan Cornells Leiche gefunden worden war und Chief Kree holte Fotos des anderen ermordeten Opfers hervor. Riley und Jenn schauten sich die Fotos einige Momente schweigend an.

Beide Opfer hatten Stirnwunden, was darauf hindeutete, dass sie beide geschlagen oder zumindest betäubt worden waren, bevor ihnen die tödlichen Wunden an ihrem Hals zugefügt wurden. Dem Fleck auf dem Tresen nach zu urteilen, vermutete Riley, dass der Mörder die Frau mit dem Kopf gegen die Kante gestoßen haben musste und ihr die Kehle durchschnitt, als sie bereits am Boden lag.

Riley verspürte ein gruseliges Gefühl des déjà vu beim Anblick der klaffenden Halswunden und der enormen Menge Blut. Sie erinnerten sie an den ersten Fall, an dem sie jemals gearbeitet hatte, noch bevor sie sich überhaupt überlegt hatte, FBI Agentin zu werden. Das war vor Jahren, damals war sie eine Studentin an der Lanton University gewesen. Ein Mörder hatte zwei ihrer Freundinnen umgebracht, indem er ihre Kehlen in ihren Studentenheimzimmern aufgeschlitzt hatte. Riley war wiederwillig in den Sog der Ermittlungen geraten und ihr Leben war danach nie wieder dasselbe gewesen.

Schnell schüttelte Riley das Gefühl ab.

Neuer Mörder, andere Zeit, sagte sie sich.

Sie fragte Chief Shore: „Was wissen wir über den Mord, der an dieser Stelle passiert ist?“

Der junge Chief sagte: „Der Name des Opfers war Joan Cornell, sie war eine geschiedene Mutter von vier Kindern. Drei ihrer Kinder leben weiter weg, aber ihr ältestes Kind, eine Tochter, lebt immer noch hier in Springett. Die Tochter ist immer regelmäßig vorbeigekommen, um nach ihrer Mutter zu schauen. Gestern Nachmittag hat sie sie genau hier tot aufgefunden.“

Jenn fragte: „Lebt der Ex-Mann des Opfers in der Nähe?“

Chief Shore schüttelte den Kopf und sagte: „Nein, er hat erneut geheiratet und lebt in Maine. Wir haben uns mit ihm in Verbindung gesetzt und uns von ihm Angaben über seinen Aufenthaltsort zur Tatzeit geben lassen. Wir werden sein Alibi überprüfen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es niet- und nagelfest ist.“

Riley stimmte stillschweigend zu. Irgendwie sah dieser Mord nicht nach einer Tat eines zornigen Ex-Mannes aus, besonders eines, der so weit weg lebte. Und insbesondere dann nicht, wenn diese zwei Tode, die in zwei unterschiedlichen Familien passiert waren, so eng miteinander verbunden waren, wie es aussah.