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Kapitel fünf

Als Riley von Lori Tovars Wohnhaus davonfuhr, stellte sie fest, dass ihre junge Partnerin immer noch aufgeregt war. Jenn war bereits den ganzen Tag ziemlich aufbrausend gewesen und Riley hatte zunehmend weniger Geduld mit ihrer Einstellung.

„Wozu die Eile?“, grummelte Jenn. „Wieso hast du uns so hastig dort rausbefördert?“

Als Riley nicht sofort antwortete, fragte Jenn: „Und wo fahren wir überhaupt hin?“

„Etwas essen“, sagte Riley schulterzuckend. „Ich habe seit dem Frühstück nichts gegessen, ich hab Hunger. Du nicht?“

„Ich finde wir sollten zurückfahren“, sagte Jenn. „Lori Tovar hat uns nicht alles gesagt, was sie weiß.“

Riley lächelte düster.

„Was meinst du, was sie uns nicht gesagt hat?“, fragte sie.

„Ich weiß es nicht“, sagte Jenn. „Das ist was ich herausfinden möchte. Du etwa nicht? Manchmal können Zeugen wichtige Details verschweigen. Vielleicht weiß sie etwas von einer Verbindung zwischen ihrer Mutter und einem möglichen Verdächtigen – etwas, was sie uns aus irgendeinem Grund nicht sagen wollte.“

Riley entgegnete: „Oh, es gab da ganz gewiss etwas, was sie uns nicht sagen wollte. Aber es war nichts, was wir wissen müssten. Es hatte nichts mit dem Fall zu tun.“

„Woher weißt du das?“, fragte Jenn.

Riley unterdrückte einen Seufzer. Sie sagte sich, dass sie nicht genervt darüber sein sollte, dass Jenn nicht dieselben Signale bemerkt hatte, wie sie. Riley selbst hätte sie in Jenns Alter wahrscheinlich ebenfalls übersehen. Trotzdem musste Jenn lernen, die Leute besser zu einzuschätzen. Oft war sie überstürzt im Beschuldigen.

Sie sagte: „Sag mal, Jenn – wie war dein Eindruck von Lori Tovars Wohnung?“

Jenn zuckte mit den Schultern. „Sie sah ziemlich teuer aus. Die Art Wohnung, in der ein erfolgreicher Wirtschaftsprüfer und seine Frau leben würden. Aber sehr schlicht. Kontemporär, so würde man es wohl nennen können.“

„Würdest du sagen, dass Lori und ihr Mann dort besonders niedergelassen zu sein schienen?“

Jenn überlegte einen Moment und sagte dann: „Jetzt wo du es sagst, wahrscheinlich nicht. Es schien fast so, als ob – ich weiß nicht, als hätten sie vielleicht nicht besonders viel außer der Grundausstattung gekauft. Ich meine, ich glaube, dass sie die Wohnung nicht wirklich individuell gestaltet haben. So, als hätten sie erwartet, dass sie nicht besonders lange dort wohnen würden.“

Riley sagte: „Und was meinst du, wieso könnte das so sein?“

Als Jenn nicht antwortete, bohrte Riley nach: „Welche Pläne könnte ein solches Paar für die nahe Zukunft denn haben, deiner Meinung nach?“

„Kinder kriegen“, sagte Jenn.

Es folgte eine Pause, dann fügte Jenn hinzu: „Oh, ich glaube ich verstehe. Sie hatten nicht vor, Kinder zu bekommen, solange sie noch in dieser Wohnung lebten. Sie wollten irgendwo anders hinziehen, was besser für eine Familie passt. Lori hatte gehofft, dass sie das Haus ihrer Mutter bekommen würde. Und jetzt…“

Riley nickte und sagte: „Und jetzt bekommt sie genau das, was sie sich gewünscht hatte.“

Jenn japste entsetzt.

„Mein Gott! Ich kann mir nicht vorstellen, wie schuldig sie sich fühlen muss!“

„Zu schuldig, um jemals in dem Haus leben zu können, denke ich“, sagte Riley. „Sie und ihre Geschwister werden das Haus wahrscheinlich verkaufen müssen, zusammen mit all den wundervollen Kindheitserinnerungen. Und Lori und ihr Ehemann werden noch länger mit dem Kinderkriegen warten müssen, bis sie ein anderes Traumhaus gefunden haben. Das wird sehr schwer für sie sein.“

„Kein Wunder, dass sie nicht darüber reden wollte“, sagte Jenn.

„Eben“, sagte Riley. „Und es geht uns wirklich auch nichts an.“

„Es tut mir leid“, sagte Jenn. „Ich bin wirklich blöd gewesen.“

„Du musst einfach nur lernen, aufmerksamer zu Menschen zu sein“, sagte Riley. „Und das beinhaltet mehr als bloß Informationen aus ihnen herauszuquetschen. Es bedeutet, in der Lage zu sein, ihre Situation nachzufühlen. Es bedeutet, ihre Gefühle zu respektieren.“

„Ich werde versuchen, daran zu denken“, sagte Jenn leise.

Riley fühlte sich erbaut davon, dass Jenn nicht versuchte sich zu verteidigen. Es schien überhaupt so, als hätte ihre Partnerin ihre komische Laune von vorhin überwunden. Vielleicht, dachte Riley sich, würden sie doch ganz gut zusammenarbeiten.

Riley fuhr ins Downtown Springett hinein und parkte auf der Hauptstraße. Sie und Jenn stiegen aus und liefen, bis sie ein nettes kleines Restaurant gefunden hatten. Sie gingen hinein, setzten sich in eine ziemlich leere Ecke und bestellten Sandwiches.

Während sie auf ihr Essen warteten, fragte Jenn: „Wo stehen wir jetzt also?“

„Ich wünschte, ich wüsste es“, sagte Riley.

„Uns fehlen die Zeugen“, sagte Jenn. „Es wäre hilfreich, wenn jemand – ein neugieriger Nachbar, vielleicht – den Mörder gesehen hätte, als er zum Haus gekommen ist, oder zumindest sein Auto gesehen hätte. Wir brauchen irgendeine Beschreibung. Aber während du dich im Haus umgeschaut hast, habe ich die beiden Polizeichefs gefragt, ob sie die Nachbarn der Opfer vernommen hatten. Das haben sie, und niemand von denen hat irgendetwas gesehen. Es gab auch keine Sicherheitskameras an den passenden Stellen.“

Riley wusste das bereits aus den Polizeiberichten, die sie gelesen hatte.

Jenn fuhr fort: „Was wir wissen ist, dass in beiden Fällen nicht eingebrochen wurde. Was sagt uns das?“

„Ich bin mir nicht sicher“, sagte Riley. „Lori Tovar zufolge hatte ihre Mutter vielleicht auch nur vergessen, die Tür abzuschließen. Der Mörder könnte sie überraschend überfallen haben, sobald er drin war.“

Jenn sagte: „Am ersten Tatort war es anders. Justin Selves wurde direkt neben der Eingangstür überfallen und umgebracht. Vielleicht ist der Mörder zur Tür gekommen und hat geklingelt oder geklopft, Selves hat ihm die Tür aufgemacht und ihn direkt reingelassen.“

„Dasselbe konnte Joan Cornell passiert sein“, stimmte Riley zu.

Jenn sagte: „Ja, vielleicht hat sie sogar eine Weile mit dem Mörder geplaudert, bevor er sie umgebracht hat. Also hast du wohl Recht, dass die Opfer ihren Mörder bereits kannten und ihm vertraut haben.“

„Vielleicht“, sagte Riley. „Aber es ist trotzdem möglich, dass es ein komplett Fremder war, wahrscheinlich bloß kein zufälliger Einbrecher. Vergiss nicht, viele Psychopathen sind überaus charmante Personen. Vielleicht haben die zwei Opfer ihm vertraut, sobald sie ihn zum ersten Mal an der Tür gesehen haben. Vielleicht erschien er ihnen wie ein ganz liebenswerter Mann, der vorgab eine Umfrage zu machen oder so. Also haben sie ihn einfach reingelassen.“

Jenn sagte: „Naja, dieser Mörder geht sehr gewagt vor, soviel ist sicher. Einfach so am helllichten Tage in diese Häuser rein zu spazieren ist ziemlich dreist. Meinst du wir sollten uns den ersten Tatort auch mal ansehen?“

„Ich glaube nicht, dass wir dort irgendetwas herausfinden werden“, sagte Riley. „Es ist ganze zwei Wochen her und zu der Zeit dachte die Polizei noch, dass es ein schief gelaufener Einbruch war. Dort wurde mittlerweile alles aufgeräumt.“

„Du hast recht, dort wird es nichts mehr zu sehen geben“, sagte Jenn. „Nichts, was die Fotos nicht bereits abbilden.“

Riley sagte: „Was wir aber wissen, ist das Selves‘ Sohn die Leiche entdeckte. Wir sollten auf jeden Fall mit ihm sprechen.“

Riley öffnete die Polizeiberichte auf ihrem Computer und fand die Telefonnummer des Sohns. Dann rief sie ihn von ihrem Handy aus an und stellte den Anruf auf laut, so dass Jenn auch mithören konnte.

Der junge Mann hieß Ian und schien überaus begierig danach, mit ein paar FBI Agentinnen zu sprechen.

„Was mit Dad passiert ist, hat mich in den letzten Wochen verrückt gemacht“, sagte er. „Besonders jetzt, wo die Polizei heute morgen anrief und mit mitteilte, dass dasselbe jemand anderem drüben in Springett widerfahren sei. Diesmal wurde eine Frau ermordet. Ich kann es nicht glauben. Was zur Hölle geht da vor sich?“

„Wir hoffen, dass Sie uns dabei helfen können, das herauszufinden“, sagte Riley. „Wir würden ihnen gerne ein paar Fragen stellen. Gibt es einen Ort, an dem wir uns treffen könnten? Wir befinden uns selbst gerade in Springett.“

„Naja, ich bin Student an der Temple University und habe gerade Vorlesungen auf dem Campus. Ich nehme nicht an, dass sie durch ganz Philly fahren wollen, nur um mit mir zu sprechen. Können wir einfach Skypen?“

Das klang Riley nach einer guten Idee. Ein paar Momente später saßen Riley und Jenn nebeneinander an ihrem Tisch und sprachen mit Ian Selves von Angesicht zu Angesicht. Die Bedienung brachte ihre Sandwiches, doch sie schoben sie erst einmal zur Seite.

Riley bemerkte sofort, dass Ian das angenehme Gesicht eines Bücherwurms hatte, welches sie an einige der Labortechniker erinnerte, mit denen sie in der Verhaltensanalyseeinheit oft zusammenarbeitete. Er sah um die Achtzehn oder Neunzehn aus und Riley schätzte, dass er wohl Physik oder Informatik im zweiten Jahr studierte.

Jenn stellte ihm dieselbe Frage, die Riley zu Beginn ihrer Befragung an Lori Tovar gerichtet hatte. „Wie haben Sie erfahren, was mit ihrem Vater passiert ist?“

Ian sagte: „Naja, Sie wissen wahrscheinlich, dass Dad ein Kundenberater in einer Bank in Petersboro war. Einmal die Woche haben wir uns während seiner Mittagspause zum Mittagessen getroffen. Er fuhr von der Arbeit nach Hause und ich kam vorbei und holte ihn ab und dann fuhren wir dort hin, wo wir essen wollten.“

Riley freute sich über Ians Klarheit. Im Gegensatz zu Lori Tovar hatte er zwei Wochen gehabt, um das, was passiert war, zu verarbeiten, und er konnte ruhig darüber sprechen.

Ein besserer Zeuge, dachte sie.

Ian fuhr fort: „Ich habe vor dem Haus gehalten und gehupt, aber Dad ist nicht rausgekommen. Das sah ihm überhaupt nicht ähnlich. Also bin ich ausgestiegen und rüber zur Haustür gelaufen und habe geklopft. Er hat nicht aufgemacht.“

 

Ian schüttelte den Kopf.

„Da fing ich wirklich an, mir Sorgen zu machen. Wenn Dad andere Pläne gemacht hätte, hätte er mir das ganz bestimmt gesagt. Ich begriff, dass irgendetwas wirklich passiert sein musste. Also öffnete ich die Tür und…“

Ian erschauderte sichtbar bei dem Gedanken.

„Da lag er, direkt auf dem Boden.“

Jenn fragte: „Was haben Sie dann gemacht?“

„Naja, ich glaube ein paar Minuten lang war ich in Panik. Aber sobald ich mich zusammenreißen konnte, habe ich 9-1-1 angerufen. Dann habe ich meine Mom angerufen. Sie arbeitet in einem Damenmodegeschäft – Rochelle’s Boutique. Ich habe ihr gesagt, dass Dad etwas zugestoßen sei. Sie hat sofort begriffen, dass ich meinte, dass Dad tot war. Ich habe ihr nicht gesagt, wie und wieso. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich es ja auch selbst noch nicht wirklich begriffen.“

Ian seufzte und fuhr fort. „Sie hatte einen Nervenzusammenbruch am Telefon. Ich wusste, dass es wirklich schlimm wäre, wenn sie direkt nach Hause kommen würde. Ich habe ihr gesagt, dass sie nach der Arbeit zu ihrer Schwester fahren und dort auf mich warten solle, bis ich wirklich alles erklären könnte. Also war sie nicht zuhause, als die Polizei kam und alle möglichen Fragen stellte und als der Gerichtsmediziner den Leichnam wegbrachte. Ich glaube, das war wahrscheinlich auch besser so.“

Ja, ich bin mir sicher, das war es, dachte Riley sich.

Sie war beeindruckt von der Fähigkeit des jungen Mannes einen kühlen Kopf zu behalten inmitten solch eines traumatischen Geschehnisses.

Jenn fragte ihn: „Wann haben sie gemerkt, dass ein Esszimmerstuhl fehlte?“

Ian sagte: „Naja, wie sie wissen, haben die Cops gedacht, dass es sich um einen misslungenen Einbruch handelte. Dass der Typ vielleicht nicht erwartet hatte, dass jemand zuhause sei, und dann überrascht war, dass mein Dad doch da war.“

Er strich sich übers Kinn und fügte hinzu: „Also haben mich die Cops an Ort und Stelle gefragt, ob irgendwelche Wertgegenstände fehlten. Ich bin durchs ganze Haus gelaufen und habe alles überprüft, was mir in den Kopf kam – Computer, Fernseher, Moms Schmuck, das Silberbesteck und das Porzellan, all solche Sachen. Schließlich habe ich den fehlenden Stuhl bemerkt.“

Er schielte ungläubig.

“Die Cops haben mir diesen Morgen gesagt, dass dem anderen Opfer auch ein Stuhl geklaut wurde. Das macht keinen Sinn. Wieso würde jemand einen anderen Menschen wegen einem Stuhl umbringen?“

Riley dachte an Lori Tovar, die dieselbe Frage gestellt hatte. Sie hatte immer noch keine Ahnung, was die Antwort war.

Jenn fragte Ian: „Das andere Opfer hieß Joan Cornell. Hat Ihr Vater jemals diesen Namen erwähnt?“

Ian schüttelte den Kopf.

„Ich glaube nicht, aber ich bin mir nicht sicher. Er war ziemlich extrovertiert. Mom ist zurückhaltender, eine echte Stubenhockerin. Aber Dad ist oft ausgegangen und hat sich mit Freunden getroffen, hat Bridge und Softball gespielt, war in einem Bowlingverein und nahm an einem Aerobic Kurs teil. Er kannte also viele Leute. Er mag den Namen einmal erwähnt haben, und ich habe es vergessen.“

In Rileys Kopf begann sich eine Idee zu formen.

„Hat er jemals Bingo gespielt?“, fragte sie.

Ians Augen weiteten sich ein wenig.

„Jetzt wo Sie es erwähnen, ja“, sagte er. „Es war an irgendeiner Kirche. Er war eigentlich kein Kirchgänger, deshalb glaube ich, dass er einfach wegen der Spiele dort hinging.“

„Hatte er gesagt, um welche Kirche es sich handelte?“, fragte Jenn.

Er schwieg einen Moment lang und sagte dann: „Nein, ich kann mich nicht daran erinnern, dass er das jemals erwähnt hätte. Aber eines Tages hat er mir gesagt, dass er dort nicht mehr hingehen wollte.“

„Hat er gesagt, wieso?“, fragte Riley.

„Nein.“

Riley und Jenn tauschten einen flüchtigen Blick.

Jenn fragte: „Wie lange ist das her, das er ihnen das sagte?“

Ian zuckte mit den Schultern und sagte: „Ich glaube, es war ein paar Tage bevor er ermordet wurde.“

„Danke für Ihre Zeit“, sagte Riley. „Sie haben uns sehr geholfen.“

„Und unsere aufrichtige Anteilnahme für Ihren Verlust“, fügte Jenn hinzu.

„Danke“, sagte Ian. „Ich verarbeite es ganz ok, glaube ich, aber für Mom ist es wirklich schwer. Ich bin ihr einziges Kind und es ist richtig schwierig für sie jetzt alleine in diesem Haus zu leben. Ich habe ihr angeboten ein Urlaubssemester einzulegen und bei ihr zu sein, aber sie will nichts davon hören. Ich mache mir viele Sorgen um sie.“

Riley wünschte ihm alles Gute und dankte ihm noch einmal, bevor sie ihren Chat Anruf beendeten.

„Also haben beide Opfer womöglich zusammen Bingo an einer Kirche gespielt“, sagte Jenn. „Das ist unsere nächste Anlaufstelle.“

Riley stimmte zu. Sie suchte die Telefonnummer der Westminster Presbyterian Kirche heraus und rief dort an. Sie fragte die Empfangsangestellte, die den Hörer abnahm, wer für die Bingospiele an der Kirche zuständig war. Die Empfangsdame stellte Riley sofort zum Freizeitdirektor der Kirche, Buddy Sears, durch. Als Riley und Jenn sich als FBI Agentinnen vorstellten, sagte Sears: „Das klingt sehr ernst. Darf ich fragen, worum es geht?“

Riley fragte ihn, ob er Joan Cornell gekannt hatte.

„Aber ja. Eine liebenswürdige Frau. Eine unserer regelmäßigen Besucherinnen. Wieso fragen Sie?“

Riley und Jenn tauschten erneut Blicke. Riley wusste, dass sie und ihre Partnerin beide dasselbe dachten: Er weiß nicht, dass sie ermordet wurde.

Dieses Telefonat wäre keine gute Art und Weise ihm das beizubringen. Sie entschloss sich, Selves Namen vorerst nicht zu erwähnen.

Riley sagte zu Sears: „Wir würden gerne persönlich mit Ihnen sprechen, wenn Sie nichts dagegen haben. Sind Sie diesen Nachmittag frei?“

„Aber natürlich“, sagte der Mann und klang nun besorgt. „Ich werde hier sein und auf Sie warten.“

Riley bedankte sich bei ihm und legte auf. Als Riley und Jenn hastig ihre Sandwiches aßen, sagte Jenn: „Das ist es Riley. Das ist die Verbindung, nach der wir gesucht haben. Wenn beide Opfer an dieser Kirche waren, dann muss der Mörder es auch gewesen sein.“

Ich hoffe es, dachte Riley.

Doch aus vielen Jahren Erfahrung wusste sie, dass es noch vieles über diesen Fall herauszufinden gab.

Kapitel sechs

Drew Cadigan wusste genau was sie gerade wollte. Sie öffnete das kleine Gefrierfach ihres Kühlschranks und fand die Leckerei, nach der sie gesucht hatte. Das Gefrierfach ließ sich ein wenig schwer wieder verschließen, denn der Kühlschrank musste enteist werden – und auch geputzt.

Aber es ist nicht so, als ob das bald passieren würde! dachte sie mit einem Grinsen.

Sie wusste, dass die meisten Wohnungen abseits des Campus, die ihre Kommilitonen mieteten, sich mit neueren Geräten schmückten, inklusive Kühlschränken, die eine No-Frost Funktion hatten. Doch sie und ihre Mitbewohnerin, Sylvia, waren beide froh gewesen diese kostengünstigere Wohnung in einem großen, älteren Haus, das zu Wohneinheiten umgewandelt worden war, gefunden zu haben.

Glücklicherweise waren Sylvia und sie sich in vielen Hinsichten einer Meinung. Keine von ihnen beiden hatte wirklich ein Bedürfnis die Dinge sauber, ordentlich und funktionstüchtig zu halten. Keine von ihnen hatte etwas dagegen, dass die Wohnung, die sie beide teilten, eigentlich eine ziemliche Bruchbude war.

Drew schnappte sich einen Esslöffel aus einer Küchenschublade und ging damit und dem Becher Chocolate Chip Cookie Dough Eiscreme rüber zu dem hübschen, kleinen Küchentisch, den sie und Sylvia gekauft hatten, als sie diesen Sommer hier eingezogen waren. Sie stellte den Eisbecher auf den Tisch und setzte sich auf einen der einfachen Stühle, die sie zum Tisch gekauft hatten.

Ein kluger Kauf, dachte sie.

Sie und Sylvia hatten die Stühle und den Tisch in dem Dies-und-Das Gebrauchtwarenladen geholt. Sie sahen wirklich genauso gut aus, wie die brandneuen und bedeutsam teureren Sets bei Wolfe’s Möbel, wo Drew über den Sommer als Verkäuferin gearbeitet hatte.

Sie dachte an die Kunden, die sie dort betreut hatte und murmelte laut: „Solche Loser.“

Natürlich waren diese Leute alle sehr viel besser situiert, als Drew oder ihre Familie es jemals gewesen waren, deshalb wussten sie es auch nicht besser. Seit Drew ein kleines Mädchen war, hatte ihre Mutter ihr immer gesagt, dass man ausgezeichnete Dinge in einem guten Gebrauchtwarenladen kaufen konnte. Der Tisch und die Stühle waren ein gutes Beispiel. Genauso wie die beinahe gesamte Kleidung, die Drew besaß.

Und Kleidung war wichtig hier am Springett College, wo so ziemlich jedermann sehr viel reicher war, als Drew. Sie musste wenigstens so tun, als wäre sie wohlhabend, auch wenn alle um sie herum wussten, dass sie kein Geld hatte.

Sie öffnete den Eiscremebecher und starrte einen Moment lang das Eis an, den Esslöffel in der Hand, bereit die unangetastete Oberfläche der cremigen Substanz zu attackieren.

Soll ich wirklich? fragte sie sich.

Nein, natürlich sollte sie es nicht tun. Sie und Sylvia hatten sich darauf geeinigt, das Eis für einen besonderen Anlass aufzuheben und es dann gemeinsam zu verspeisen.

Doch Drew hatte jetzt gerade einen besonderen Anlass und Sylvia war nicht da.

Nur ein Löffel, dachte sie.

Sie stieß den Löffel gegen die harte Oberfläche und schaufelte ein wenig von der kalten Masse heraus, die ein weiches Stückchen Kuchenteig beinhaltete. Sie schloss ihre Augen und genoss die himmlisch kalte Süße.

Das habe ich mir verdient, beschloss sie.

Drew war sich sicher, dass Sylvia ihr verzeihen würde, wenn sie ihr sagte, was sie feierte. Sie hatte gerade ihren ersten Test im Kurs „Einführung in die amerikanische Literatur“ überlebt. Eigentlich war sie sich sogar sicher, dass sie ihn ziemlich gut bestanden hatte.

Und das war wirklich ein Grund zum Feiern.

Zum Ende ihres ersten Jahres letzten Frühling, hatte sie begonnen daran zu zweifeln, ob sie hier in Springett überhaupt überleben könnte. Nicht, weil sie nicht intelligent genug war. Ihre ausgezeichneten Noten im standardisierten Test und ihre Leistungen im Abschlusszeugnis hatten ihr zu einem bemerkenswerten Stipendium verholfen, das es ihr ermöglicht hatte, hierher zu kommen.

Trotzdem hatte sie es schwer gefunden, während der ersten zwei Semester mitzuhalten und war kurz davor gewesen, das Stipendium zu verlieren. Sie war von reichen Leuten umgeben, die sich alle Art von Nachhilfe leisten konnten. Das hatte Drew in eine klar benachteiligte Lage gebracht – besonders in einem Pflichtmodul zum kritischen Denken im Sommersemester.

Sie hatte ein Seminar ausgesucht, das ironischerweise „Armut und Reichtum in der amerikanischen Kultur“ hieß. Alle am Seminartisch redeten sie schwindlig und benutzten manchmal akademische Fachausdrücke, die sie nie zuvor gehört hatte. Sie alle bekamen täglich Nachhilfe für dieses Seminar und sie konnte nicht mit ihnen mithalten. Und die Seminararbeiten ihrer Kommilitonen waren so geschliffen, dass sie daran zweifelte, ob sie diese selber verfasst hatten.

Als sie sich an diese Qual zurückerinnerte, dachte sie: Ich habe viel über Armut und Reichtum gelernt, soviel ist sicher.

Drew hatte dieses erste Jahr gerade so eben überstanden, aber sie hatte einige wichtige Lehren daraus gezogen. Ebenso wie Sylvia, die auch nicht reich war, und die viele derselben Probleme gehabt hatte.

Sobald sie diese Wohnung im Juni gemietet hatten, hatten sie begonnen sich weit im Voraus auf alle ihre Seminare vorzubereiten, die im Herbst stattfinden würden. Drews Sommerjob im Möbelgeschäft erlaubte ihr viel freie Zeit zum Lesen. Sie hatte sich durch alle angegebenen Texte für ihr Seminar „Einführung in die amerikanische Literatur“ durchgeackert, inklusiver solcher Klassiker wie Der scharlachrote Buchstabe, Moby Dick und die Gesamtheit von Grasblätter.

Sylvia hatte dieselbe Herangehensweise in ihrem eigenen Studienfach, Anthropologie, verfolgt, und hatte alle Lehrbücher gelesen, die sie in die Hände bekommen konnte. Darüber hinaus hatten Drew und Sylvia einander abgefragt und waren bis spät in die Nacht aufgeblieben, um einander erbarmungslos den ganzen Sommer über zu drillen. Als das Semester begonnen hatte, scherzten sie untereinander, dass sie problemlos die Seminare der jeweils anderen hätten besuchen oder sogar hätten Fächer tauschen können, wenn ihnen danach wäre.

Und nun, nach dem Test, den sie gerade eben geschrieben hatte, war Drew sich sicher, dass all die Arbeit sich gelohnt hatte. Ihre reichen, mit Nachhilfe verwöhnten Rivalen würden zur Abwechslung mal Probleme haben, mit ihr mitzuhalten.

Ja, sie hatte jedes Recht zu feiern.

 

Als sie dasaß und auf den Eisbecher starrte, während sie sich überlegte, ob sie noch einen Bissen Eiscreme essen sollte, schreckte sie eine Stimme auf.

„Entschuldigung.“

Sie blickte auf und sah einen unbekannten Mann in ihrer Wohnungstür stehen.

Ich hätte die Tür nicht aufgesperrt lassen sollen, dachte sie.

Doch alle im Wohnhaus ließen ihre Türen eigentlich immer offen. Postboten und Fremde blieben an der Eingangstür zum Wohnhaus stehen und klingelten bei den Bewohnern, die sie suchten.

Mit entschuldigendem Ton sagte der Mann: „Ich wollte dich nicht erschrecken. Ich nehme an, die Eingangstür zum Haus soll geschlossen bleiben. Aber irgendjemand hat Klebeband über das Schnappschloss geklebt und jeder kann einfach reinkommen. Das ist vielleicht keine so gute Idee.“

Nein, das ist keine gute Idee, dachte Drew.

Einige ihrer Nachbarn klebten die Tür immer wieder so ab, entweder weil sie keine Lust hatten ihren Hausschlüssel zu benutzen oder um ihren Freunden das Kommen und Gehen zu jeder Tages- und Nachtzeit zu ermöglichen. Drew und Sylvia hatten sich bereits bei den Nachbarn darüber beschwert, doch nichts hatte sich geändert.

Der Mann sagte: „Ich suche nach Maureen. Wohnt sie nicht hier?“

Drew schüttelte schweigend den Kopf.

Der Mann sagte: „Oh, tut mir leid. Mein Fehler.“

Er spähte aus der Tür in den Flur und fügte hinzu: „Ich nehme an, dann muss sie in einer der Nachbarwohnungen wohnen.“

Drew entspannte sich ein wenig. Der Mann schien harmlos und sogar ganz freundlich zu sein, nur ein bisschen verwirrt.

Sie sagte: „Ich fürchte, hier wohnt niemand namens Maureen.“

„Bist du sicher?“, sagte der Mann. „Jeder nennt sie Mo.“

„Nein, auch niemand namens Mo. Tut mir leid.“

Er legte seinen Kopf schief und sagte: „Vielleicht kennst du sie bloß nicht. Vielleicht ist sie neulich erst eingezogen und ihr habt euch noch nicht kennengelernt.“

„Nein. Ich kenne alle im Haus.“

Der Mann schaute sie mit einem merkwürdigen, wissenden Blick an.

„Ich verstehe“, sagte er.

Drew wurde erneut mulmig zumute. Er klag so, als würde er ihr nicht glauben.

Wieso würde ich wegen so was lügen? fragte sie sich.

Und wieso ging er nicht einfach, jetzt wo er wusste, dass die Person, die er suchte, hier nicht wohnte?

Dann schaute er lächelnd auf ihren Becher Eis und sagte: „Ich sehe, dass du immer noch Eis magst.“

Drew war verwirrt.

Immer noch?

Was meinte er mit immer noch?

Dann schaute er sich in der Wohnung um.

„Aber, meine Güte! Du warst früher so sauber und ordentlich. Ich habe dich früher sogar deswegen geneckt. Und du hast mich geneckt, weil ich so schluderig war. Was ist passiert? Wieso hast du dich verändert?“

Drew war nun vollkommen desorientiert. Nichts von dem, was er sagte, machte irgendeinen Sinn.

Vielleicht träume ich, dachte sie.

Ja, das war wahrscheinlich genau das, was vor sich ging. Doch dieser Traum gefiel ihr nicht und sie war bereit aufzuwachen.

Er trat auf sie zu und berührte die Stuhllehne des Stuhls, der auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches vor ihr stand.

„Das sind hübsche Stühle“, sagte er. „Wo hast du die her?“

Drew plapperte beinahe los, dass sie die aus einem Gebrauchtwarenladen hatte. Doch was ging ihn das an? Und wenn es nur ein Traum war, wieso wachte sie nicht einfach auf?

Der Mann strich mit dem Finger über die Stuhllehne und sagte: „Vergiss es. Ich weiß, wo dieser herkommt. Ich habe ihn vermisst. Es ist gut, ihn wiederzusehen.“

Drew hatte das Gefühl, dass ihr der Kopf vor Verwirrung rund ging.

Sie sagte mit zitternder Stimme: „Ich glaube, Sie gehen jetzt besser.“

Der Mann schaute sie so an, als wäre er aufrichtig verletzt.

„Du freust dich nicht, mich zu sehen“, sagte er. „Du bist überrascht. Das verstehe ich. Es ist ein Schock. Es war alles so… falsch, als wir uns das letzte Mal gesehen haben. Aber das hier ist gut, wirklich. Ich bin mir sicher, dass du es genauso sehen wirst, wie ich, wenn du dich erstmal daran gewöhnt hast.“

Er machte einen weiteren Schritt auf sie zu.

Sie gestikulierte wild und sagte: „Sie machen einen Fehler. Ich bin nicht die, für die Sie mich halten.“

„Nicht Mo?“

„Nein, das bin ich nicht. Sie sollten gehen. Sonst schreie ich um Hilfe.“

Sie machte einen Schritt zurück, aber er war plötzlich ganz dicht bei ihr und griff sie an den Haaren. Ihr Kopf knallte gegen etwas hartes und ihre Knie wurden weich.

Sie öffnete den Mund, doch sie konnte kein Geräusch von sich geben.

Drew wurde vage bewusst, dass er die Wohnungstür zumachte, sich über sie beugte, ihren Kopf hochzog und ihr ins Gesicht starrte.

Sie hörte seine aufrichtig beruhigende Stimme: „Ich möchte dir nichts Böses. Ich verspreche es.“

Das erschreckendste an der gesamten Situation war, wie aufrichtig er sie ansah und wie ehrlich seine Stimme klang. So als ob er nichts Schlechtes tat, als würde er ihr nichts, außer Gutes wünschen.

Dann hielt er die scharfe Klinge eines Messers an ihren Hals.

„Ich würde dir nie weh tun“, sagte er. „Ich verspreche es.“

Das letzte, was Drew Cadigan spürte, war wie die Klinge ihre Luftröhre durchtrennte.

Olete lõpetanud tasuta lõigu lugemise. Kas soovite edasi lugeda?