heimelig

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»… Okay! Okay! Sie haben es geschafft. Ich habe keinen Platz mehr.«

Gut, ich hätte noch eine Weile weitermachen können, aber es reicht ja wohl.

»Dann kommen wir jetzt zur letzten Frage.«

Es scheint, als wäre Melanie genauso froh wie ich, dass das Verhör nun bald beendet ist.

»Wie waren Sie und wo, als Sie so alt waren wie ich? Ich bin achtzehn.«

Ach du meine Güte!

Das ist wirklich schon eine Weile her.

Ich habe ein einziges Foto von damals. Ich stehe auf, krame es umständlich aus einer Schublade und halte es Melanie hin. Ich war eine Schönheit. Eine Prinzessin. Wie Sissi, die Kaiserin. Nur habe ich das damals gar nicht realisiert.

Heute sehe ich eher aus wie die Schwester von Ruth Maria Kubitschek, der uns älteren Semestern aus vielen Fernsehfilmen bekannten Schauspielerin, die seit einigen Jahren einen Schweizer Pass hat und am Bodensee lebt. Ich mag sie – also gefalle auch ich mir? Meine Haare sind mal mehr blond, mal mehr grau – je nachdem, ob ich mehr oder weniger Lust auf einen Besuch beim Friseur habe –, immer sind sie nicht ganz kurz, aber auch nicht lang, mittellang also und unspektakulär. Mein Gesicht ist knitterig und zerfurcht, faltig halt, gezeichnet vom Leben, auch vom guten Leben, mit entsprechenden Lachfalten um meine grünen Augen. Immerhin habe ich noch meine gute Figur, und das, obwohl ich mich mein Leben lang nicht um Sport kümmerte und gegessen habe, was mir schmeckte. Dafür bin ich dankbar.

Aber ich soll ja an früher denken, Melanie wartet, ein bisschen ungeduldig, wie mir scheint, auf meine Antwort.

»Mit achtzehn war ich unerfahren, naiv, schüchtern, arm«, beginne ich also. »Meine Eltern hatten einen Bauernhof in Engelberg. Ich musste arbeiten und habe in Hotels Zimmer geputzt. Ich hatte wenig. Wir hatten wenig. War ich glücklich? Nicht besonders, aber ich habe mich das wohl auch nicht speziell gefragt. Gern hätte ich etwas mit Büchern gearbeitet, eventuell sogar studiert. Das stand aber nie zur Diskussion. Es war einfach, wie es war.«

Melanie klappt den Laptop zu.

»Danke!«, sagt sie und wirkt ein klein wenig erschöpft.

War ich anstrengend?

Meine Tochter Trudi behauptet oft, ich sei anstrengend.

Gerade als ich fragen will, wie denn diese Maturaarbeit eigentlich genau aussehen werde, klopft es wieder an meine Zimmertür, und Schwester Yvonne stürmt herein.

»Das war das falsche Zimmer! Sie waren mit Frau Marty von nebenan verabredet«, erklärt sie Melanie etwas atemlos. »Die arme Frau hat im ganzen Haus nach Ihnen gesucht.«

Dann schaut sie mich vorwurfsvoll an: »Warum haben Sie denn nichts gesagt, Frau Niederberger? Sie mussten doch wissen, dass Sie gar nicht verabredet waren, oder?«

Verständnislos zucke ich mit den Schultern.

Ich bin platt.

Mein Kopf ist also noch klar.

Melanie wollte gar nicht zu mir.

Ha!

Ich freue mich, auf einer Skala von eins bis zehn etwa bei der Neun. Und dass mein Mittagsschlaf ausfallen musste, trage ich mit Fassung.

Man ist ja in meinem Alter so leicht zu verunsichern. Kein Wunder haben Enkeltrickbetrüger und andere Kriminelle so ein leichtes Spiel mit Senioren.

Aber das wird mir eine Lehre sein.

Mein Kopf ist klar. Glasklar. Ich werde nie mehr daran zweifeln.

Ich verabschiede mich von Melanie, und als ich höre, wie sie im Zimmer nebenan auf Frau Marty einschreit und diese in derselben Lautstärke antwortet, lächle ich in mich hinein. Die ist nämlich wirklich schwerhörig, was unsere Nachbarschaft manchmal etwas belastet.

Ich schalte den Fernseher ein und falle bei einer Kochsendung schnell in einen leichten Schlummer. Kochsendungen wirken auf mich immer einschläfernd. Schade, dass sie meist nur tagsüber gezeigt werden.

3 Neu erwachte Lebensgeister

Und dann schreit Frau Marty nicht mehr.

Sie wird nie mehr schreien.

Frau Marty ist in der Nacht verstorben. Sie hat sich ganz leise davongemacht, ist diesen friedlichen Tod gestorben, den wir uns alle wünschen. Beim Abendessen brüllte sie noch munter am Nebentisch herum und berichtete stolz vom unglaublich wichtigen Interview mit Melanie Zurkirchen. Wohl oder übel mussten wir alle mithören.

Am Morgen brannte nur noch eine Kerze an Frau Martys Platz.

Nein, sie war nicht meine Freundin. Ich habe mich zu oft über sie geärgert. Ihr Radio lief so laut, dass ich meines gar nicht einschalten musste. Und sogar wenn sie ihr Zimmer verließ, um mit dem Rollator ihren täglichen Spaziergang zu machen, hielt sie es nicht für nötig, ihr Radio auszuschalten oder wenigstens leiser zu drehen. Nur wenn sie schlief, war es still. Und sie schlief viel und oft. Immerhin.

Gestern lief das Radio nach Mitternacht immer noch, und ich rief die Nachtschwester. Diese fand Frau Marty-Müller tot in ihrem Bett.

Inzwischen sollten mich Todesfälle nicht mehr so erschüttern. Sie gehören hier zum Alltag. Viele Bewohner warten sogar auf den Tod, auf die Erlösung von ihren Leiden oder ihrer Einsamkeit. Viele beten täglich darum. Und trotzdem habe ich immer eine Krise, wenn wieder eine Kerze an einem Platz brennt. Damit wird mir jedes Mal neu vor Augen geführt, dass ich eigentlich noch leben sollte. Ich meine: richtig leben. Es gehe nicht darum, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben, las ich neulich irgendwo. Stimmt. Was bringt es mir, wenn ich hier bei bester Pflege und im Schongang hundert Jahre alt werde? Der Möbelriese Ikea fragt in der Werbung: »Wohnst du noch, oder lebst du schon?« Das frage ich mich auch immer öfter, wenn auch nicht im Zusammenhang mit meiner Inneneinrichtung. Und jeder Todesfall bringt diese Frage wieder in Großbuchstaben vor mein inneres Auge. Es kann ja nicht unser Ziel sein, irgendeinen Altersrekord zu brechen, sondern es geht darum, ein lebenswertes Leben zu führen. Und hier im heimelig wird mir täglich ins Bewusstsein gebracht, wie schnell dieses Leben zu Ende sein oder die Lebensqualität verloren gehen kann.

Worauf warte ich also? Liegt es am Heimleben, dass man hier so apathisch und lethargisch wird, eine abwartende Haltung einnimmt?

»Was ist los mit dir, Grosi? Ein kleines Altersdepressiönchen oder nur eine momentane Verstimmung?«

Meine Enkelin Kim merkt bei ihrem Besuch sofort, dass es mir nicht so gut geht. Sie mustert mich kritisch und fährt sich mit den Händen durch ihre schwarz gefärbte Stachelhaarfrisur. Letzte Woche waren ihre Haare noch blond. Ich erzähle ihr, was mich bedrückt, und sie hört zu. Kim ist der Lichtblick meiner alten Tage. Wahrscheinlich habe ich bei der Erziehung meiner Tochter Trudi einiges falsch gemacht und bin somit mitverantwortlich für ihr heutiges Wesen. Aber Kim, die ist total gelungen. Wenn ich mit vielem im Leben ihrer Eltern nicht einverstanden bin – bei Kim haben sie wohl alles richtig gemacht. Ich liebe sie von ganzem Herzen.

»Ach, Grosi. Du bist freiwillig in dieses Heim gezogen. Du bist keine Gefangene. Du könntest auch wieder ausziehen!« Sie schaut mich herausfordernd an.

Ich schüttle den Kopf. »Dazu fehlt mir die Kraft. In meinem Alter macht man nicht mehr viele Neuanfänge.«

»Aber du bist gesund. Du könntest reisen«, redet Kim auf mich ein.

»Reisen? Wohin?«

»Der Weg ist das Ziel. Einfach mal raus hier. Ich helfe dir beim Organisieren. Wieder in Bewegung kommen, mit Körper und Geist, das tut dir gut. Du wolltest doch immer mal nach Afrika!«

»Afrika?«

Ich muss ziemlich konsterniert aus der Wäsche geschaut haben, denn Kim lacht mich aus.

Stimmt, Afrika war früher, ganz früher mal als Reiseziel im Gespräch, weil Xaver und ich regelmäßig für einen Jungen Geld überwiesen haben. Ein Freund von Xaver, der in Kenia bei Ärzte ohne Grenzen im Einsatz war, hatte uns gebeten, den Kleinen zu unterstützen, weil er ihn für absolut großartig und vielversprechend hielt. Xaver tat das gern und wollte ihn irgendwann besuchen. Damals schon war ich dagegen, weil ich mich nicht als Wohltäterin feiern lassen wollte. Aber heute, da scheint Afrika weit weggerückt zu sein, auf einen anderen, unerreichbaren Planeten.

»In meinem Alter zieht man kleinere Kreise, Kim, besonders wenn man allein ist«, versuche ich meine Enkelin zu bremsen.

»Du müsstest ja nicht mit Afrika anfangen. Es gibt noch anderes, das mit A beginnt. Das neue Andermatt würde mich sogar selber interessieren. Ausserberg im Wallis ist auch sehr schön. Arbon, Adelboden, Ascona, Appenzell, Affoltern … Fang mit Tagesausflügen an und steigere dich langsam.«

Was, wenn Kim recht hat?

Sie schaut mich herausfordernd an, ich erwidere ihren Blick mit einem Lächeln. Gerade sind ein paar winzige, sehr winzige, Lebensgeister in mir erwacht. Bei Ascona klingelt es bei mir. Am Tag, als meine Freundin Lisa bei einem Fahrradunfall starb, hatten wir uns eigentlich zu einem Ausflug nach Ascona verabredet. Wir wollten dort auf der Piazza ein Risotto essen und Leute beobachten. Vielleicht sollte ich genau das tun? Und dabei an Lisa denken? Wir haben diesen Ausflug jeden Sommer gemacht und ihn jedes Mal genossen.

»Ja, mach das!«, unterstützt mich Kim. »Und dann suchst du dir einen Ort, dessen Name mit B beginnt: Bern oder Bellinzona. Du kannst auch nach Bali fliegen und Tante Yvonne besuchen.«

»Bali? Ach ja, sicher!«, sage ich voller Sarkasmus. Bali!?! Die Schwester von Xaver war schon immer ein verrücktes Huhn. Und irgendwann war sie dann nicht mehr hier, sondern eben dort. »Ich bin keine Geografie-Expertin, aber wie weit weg Bali ist, das weiß ich sehr wohl.«

 

Meine Enkelin hat mich angestachelt. Reisen. Warum nicht? Das wäre ganz genau das Gegenteil von dem, was ich hier sonst tue, vom Warten auf dem Abstellgleis. Kleine Fluchten aus dem Heim-Grau könnten mir helfen. Ich bin auf einer Skala von eins bis zehn inspiriert auf Stufe sieben.

Ganz ausführlich und geduldig erklärt Kim mir mehrmals die App der SBB. Fahrpläne anschauen. Tickets kaufen. Noch mal und noch mal üben wir zusammen. Sie richtet alles ein, hinterlegt meine Kreditkartendaten. Ich gelte in unserem Heim als Expertin für Computer, dabei habe ich bloß eine Enkelin, die sich Zeit für mich nimmt, die Geduld hat, die schlau ist und mir einfach alles erklären kann. Und ich habe immer noch Lust, Neues zu lernen, sofern ich einen Nutzen darin sehe.

Ascona steht.

Fahrplan, Ticket, alles klar.

Ich reise am Mittwoch, wenn das Wetter hier eher unfreundlich ist und ich die Sonne im Süden der Schweiz umso mehr feiern werde.

Ich genieße mein Reisefieber. Meine Tischnachbarn finden meine neu erwachte Reiselust beneidenswert und spannend, möchten mir gern dabei behilflich sein, zu jedem Buchstaben ein spannendes Reiseziel zu finden.

»Aber nur in der Schweiz«, grenze ich sofort ein. »Und zuerst fahre ich jetzt mal nach Ascona. Vielleicht ist das mein erstes und letztes Abenteuer.«

Die Einzige, die sich mit meiner Reiselust schwertut, ist Frau Rottenmeier, unsere Direktorin. Ich melde mich am Dienstagabend gut gelaunt für alle Mahlzeiten am Mittwoch bei ihr ab. Ich möchte schließlich nicht, dass man sich Sorgen um mich macht.

»Reisen Sie mit Ihrer Tochter?«, will Frau Meier wissen.

»Nein, allein.«

»Weiß Ihre Tochter von der Reise?«, fragt die Rottenmeier nach.

Hallo? Ich bin empört – auf Melanies Zehner-Skala etwa bei der Dreiunddreißig. Ich bin nur alt, nicht verblödet und entmündigt!

»Liebe Frau Meier, es wäre mir neu, dass ich eine kleine Reise ins Tessin irgendwo genehmigen lassen müsste«, erkläre ich streng, »ich mache ja keine Antarktisexpedition! Ich wollte mich einzig höflich abmelden, kann das in Zukunft aber auch lassen.«

Sie wolle nur keinen Ärger, betont die Direktorin.

»Das ist ja kein Gefängnis hier, sondern ein heimeliges Heim, oder?«, raunze ich sie an.

Der Ärger mit mir scheint sie weniger zu belasten als eine mögliche Auseinandersetzung mit meiner Tochter. Ja, Trudi kann schon sehr aufbrausend und herrisch sein. Ich lächle in mich hinein. Tatsächlich hat also sogar Frau Rottenmeier Respekt vor meiner Tochter. Das sagt ja alles.

Bevor ich ausfällig werde, lasse ich die Direktorin einfach stehen. Es ist eindeutig an der Zeit, ab und zu hier rauszukommen.

Beim Abendessen zeigt uns Tobias seine Brust und öffnet dafür ungehemmt sein kariertes Hemd. Er hat riesengroß mit einem dicken, wasserfesten Stift »STOPP« auf seine Brust geschrieben.

»Das war gar nicht so leicht. Ich musste es natürlich vor dem Spiegel machen. Da muss man ganz schön denken dabei. Ist gut geworden, nicht?«, verkündet er stolz.

»Was soll das? Hast du Angst, vergewaltigt zu werden?«, frage ich lachend. »Was, wenn der Vergewaltiger nicht lesen kann?«

»Aber, aber, Nelly!«, tadelt mich Marlies kopfschüttelnd.

Tobias bleibt ernst.

»Das ist für die Rettungssanitäter oder für jeden, der meint, mich nach einem Herzstillstand reanimieren zu müssen.«

Und dann hält er uns wieder einmal einen Vortrag. Er habe heute Morgen aus der Zeitung erfahren, dass die Gemeinde anscheinend plane, an zehn Stellen öffentlich zugängliche Defibrillatoren zu installieren. Dies sei der Grund, weshalb er seine Brust bemalt habe.

»Die Chance, nach einer Reanimation ohne Gehirnschaden oder andere Beeinträchtigungen davonzukommen, ist sehr klein. Viele Menschen werden wiederbelebt und sterben dann im Spital. Und das mag vielleicht sogar ein Glück sein. Besser jedenfalls, als für den Rest des Lebens nur noch wie ein Weißbrot dazuliegen. Darum: Stopp! Die Erfolgsquote bei einem Herz-Kreislauf-Stillstand liegt bei unter zehn Prozent. Für solche Experimente bin ich zu alt.«

Tobias erklärt uns immer gern die Welt, und meist erzählt er keinen Blödsinn. Er informiert sich jeweils gründlich.

Stopp? Im Moment möchte ich mir lieber »GO« auf die Brust schreiben.

Raus ins Leben!

Go!

4 A wie Ascona

Reisen ist auch nicht mehr das, was es einmal war. Die Züge sind schneller und voller, das Umsteigen hektischer, das Ein- und Aussteigen beschwerlicher und umständlicher. Nun, wahrscheinlich bin ich einfach langsamer und etwas steif geworden. Trotzdem: Im Urnerland bekomme ich nicht ein einziges Mal mehr die Kirche von Wassen zu Gesicht. Früher, wenn wir ins Tessin fuhren, erklärte Xaver Trudi und mir jedes Mal ausführlich die Konstruktion des Kehrtunnels und somit den Grund, warum man dreimal an der kleinen Kirche vorbeifuhr. Und wir ließen ihm den Spaß, obwohl wir längst Bescheid wussten. Heute braust der Zug mit zweihundert Kilometern pro Stunde durch einen langen, dunklen Tunnel, von Erstfeld bis Bodio. Mein Xaver würde mir jetzt sicher erklären, dass der neue Gotthard-Basistunnel mit seinen siebenundfünfzig Kilometern der längste Eisenbahntunnel der Welt sei. Das hat mein Tischnachbar Tobias an seiner Stelle getan, schon gestern Abend, sozusagen als Einführung für meine Reise.

Ich sitze in der ersten Klasse. Man gönnt sich ja sonst nichts. Ich komme mir vor wie in einem rollenden Großraumbüro: Um mich herum tippen Männer in Anzügen auf ihren Laptops herum, verbissen und hektisch, als gäbs kein Morgen. Dafür gibt es keine Gespräche. Was ist bloß aus den Menschen geworden! »Je älter man wird, desto merkwürdiger werden die anderen«, las ich neulich. Vielleicht – möglicherweise sogar ziemlich sicher – bin tatsächlich ich es, die seltsam geworden ist. Und eigentlich, wenn ich es mir genau überlege, gab es schon früher kaum Gespräche im Zug. Man verschanzte sich hinter einer Zeitung oder strickte. Man traute sich nicht, das Gegenüber anzusprechen. Ein lockeres Gespräch war ein Glücksfall, etwas, woran man sich noch lange gern erinnerte, aber eben auch nicht alltäglich. Ich muss aufpassen, dass ich nicht in die Früher-war-alles-besser-Falle tappe.

Früher war alles anders. Das schon.

Ich schaue mich unauffällig um, werde aber ignoriert. Trotzdem möchte ich nicht die Einzige sein, die einfach so dasitzt, als hätte sie nichts zu tun. Obwohl mir gerade das beim Zugfahren jeweils immer gut gefallen hat: entspanntes Sitzen und Schauen. Kim würde das wohl chillen nennen.

Ich nehme also das kleine Büchlein, das ich mir als Lektüre mitgenommen habe, aus meiner Handtasche und beginne zu lesen. Immer wieder erkenne ich in der Geschichte von Harry und Lore, einem alten Ehepaar, Xaver und mich: viel Gezänke, viele Missverständnisse, viel Schweigen. Aber trotzdem halt Liebe. »Alte Liebe« heißt das kleine Buch von Elke Heidenreich und Bernd Schroeder, und ich mag es sehr. Manchmal ertappe ich mich dabei, wie ich laut auflache. Dann schaue ich mich erschrocken um und muss einige neugierige, irritierte Blicke aushalten. Ich lächle die Leute an, und sie lächeln zurück. Eine schrullige Alte, werden sie wohl denken. Hoffe ich jedenfalls. Aber gell, wenn da der Autor Philip Roth zitiert wird: »Das Alter ist kein Kampf; es ist ein Massaker«, dann ist das einfach erstaunlich treffend. Diese Aussage würden viele Heimbewohner sofort unterzeichnen. Oder wenn eine Figur sagt, sie habe das Gefühl, dass der Tod immer mit am Tisch sitze und abwarte, wer als Nächster dran sei, dann könnte das eine Szene aus unserem heimelig sein, direkt von unserem Tisch. Und ja, ich will darüber lachen. Denn sonst müsste ich darüber weinen.

Neuerdings muss man in Bellinzona umsteigen, aber immerhin keinen Treppen-Marathon bewältigen. Man kann einfach auf dem gleichen Perron stehen bleiben. Dafür haste ich dann in Locarno den Geleisen entlang durch den Bahnhof, überquere die Hauptstraße und bin völlig außer Atem, als ich an der Bushaltestelle ankomme. Mein Herz klopft wie verrückt. Und dann warte ich in der gleißenden Sonne auf den verspäteten Bus. Hier ist es wirklich heiß. Süden halt. Die Nylonstrümpfe hätte ich mir schenken können. Es ist, als wäre man in Italien. Ich atme tief durch, beruhige mich und spüre ein klein wenig Ferienstimmung aufkommen. Dieses Gefühl hatte ich lange nicht mehr.

Und dann erreiche ich Ascona, schlendere durch die Gassen zur Piazza und bin in Gedanken bei meiner Freundin Lisa. Dass sie kurz nach Xaver gestorben ist, gerade als ich sie am meisten gebraucht hätte, war ein schwerer Schlag. Ich nehme Lisa in meinem Herzen mit, höre im Geiste ihre Stöckelschuhe neben mir auf die Pflastersteine klopfen.

Das ist schwierig im Alter: Man muss viel zu oft Abschied nehmen. Von Freunden, Verwandten, Geliebten, Kollegen. Und wenn man seinen eigenen Abgang verpasst, zu spät stirbt, alle anderen vorher gehen, dann steht man plötzlich ganz allein da.

Hier in Ascona bin ich nicht allein. Ganz und gar nicht. Die Restaurants scheinen alle voll zu sein. Ich spaziere an einem Musiker vorbei, der Gitarre spielt und singt. Ein sympathischer junger Mann mit einer warmen, kräftigen Stimme. Er singt alte italienische Songs, die sogar ich kenne und die mich an gute Zeiten erinnern. Darum klaube ich großzügig einen Fünfliber aus dem Seitenfach meiner Tasche, wo immer ein paar Münzen drinstecken. Ich werfe das Geldstück in seinen Gitarrenkasten, er zwinkert mir zu. Ich zwinkere zurück.

Wir lachen uns an.

In einem Kiosk will ich mir eine Zeitschrift kaufen. Ich bin es nicht gewohnt, allein ein Restaurant zu betreten, und mit einer Zeitschrift könnte ich mich ein wenig beschäftigen und würde mir weniger verloren vorkommen. Aber als ich meine Geldbörse aus der Handtasche fischen will, ist keine da. Mir wird schwindlig. Meine Gedanken rasen wie Blitze durch meinen Kopf. Heute habe ich die schwarze, große Handtasche mitgenommen. Das letzte Mal war ich allerdings mit der kleinen, blauen unterwegs. Und genau: Ich habe das Portemonnaie nicht in die Tasche von heute umgepackt.

Zuerst einmal ist es mir einfach nur peinlich. Ich lege die Zeitschrift wieder zurück und verlasse fluchtartig den Kiosk.

Nein!

Ich bin zu alt zum Reisen. Zu blöde. Das Gehirn schon angegriffen vom Kalk oder ersten Anzeichen von Demenz.

Ich setze mich auf eine Bank und weine.

Ich bin so enttäuscht.

Von mir. Vom Leben. Von der Welt.

Und ich fühle mich uralt.

Ich schaffe es nicht einmal, einen Tag lang dem Heim zu entfliehen.

Das ist traurig.

Und jetzt sitze ich in Ascona am See und weine.

Genau hier, wo ich so oft glückliche Stunden verbracht habe.

»Santo cielo, che cosa è successo?«

Ich schaue erschrocken auf. Der Musiker von eben hat sich neben mich gesetzt und reicht mir ein Papiertaschentuch.

»Danke.« Ich schnäuze mich, wische meine Tränen weg und versuche mich zu fassen. Man weint nicht einfach so in der Öffentlichkeit. Wirklich nicht.

»Was ist passiert?«, fragt der Musiker nun auf Deutsch, und es scheint ihn tatsächlich zu kümmern.

»Ich habe mein Portemonnaie daheim vergessen. Dabei wollte ich nur einen kleinen Ausflug hierher machen, ein Risotto essen, ein Glas Wein trinken. Es ist nicht so schlimm. Dann fahre ich halt wieder heim.«

Er glaubt mir nicht.

»Warum weinen Sie dann, wenn es nicht so schlimm ist?«, will er wissen.

Ich erzähle ihm, dass das mein erster Versuch war, wieder Bewegung in mein Leben zu bringen. Mein erster Fluchtversuch. Meine erste Reise. Als Probe sozusagen. Und die ist eindeutig misslungen.

»Ich bin wohl zu alt, um noch in der Welt herumzureisen«, sage ich abschließend. Immerhin weine ich nicht mehr. Nur ab und zu meldet sich ein ungewollter Schluchzer aus meinem tiefsten Inneren.

»Contenance!«, hätte Frau Amstutz, die böseste Chefin, die ich je hatte, befohlen. Sie führte das Hotel Landhaus in Engelberg mit eiserner Hand. Eigentlich eher mit eisernem Herzen. Und an der Hand trug sie einen Brillantring, mit dem sie einem ganz schnell, fast beiläufig, sehr wehtun konnte, wenn eine Arbeit nicht in ihrem Sinne ausgeführt worden war.

Contenance.

Haltung.

Ich meine, ihre Stimme zu hören, und richte mich ein wenig auf.

»Ich heiße Matteo? Und du?«, ertönt es jetzt aber ganz real an meiner Seite.

 

Ich mag es gar nicht, ungefragt geduzt zu werden. Diese neumodische Art, sich mit jedem gleich zu verbrüdern, ist mir zuwider.

»Niederberger«, sage ich darum steif.

Matteo lächelt nachsichtig.

»Allora, Signora Niederberger, was machen wir jetzt?«

Er stolpert dermaßen über den für ihn wohl schwierigen Nachnamen, dass ich über meinen Schatten springe und ihm doch noch meinen Vornamen nenne.

»Allora, Signora Nelly: Ich lade Sie zum Essen ein, genau dort, wo Sie essen wollten!«

Matteo strahlt mich an.

Ich habe jedoch keine Ahnung, wie ich mit seiner Einladung umgehen soll. Der junge Mann macht mich sprachlos. Ich kenne ihn doch gar nicht. Ist das irgendeine Falle? Ein neuer Enkeltrick? Am Ende läuft er weg, und ich sitze da mit einer saftigen Rechnung und ganz ohne Geld? Matteo spürt wohl meine Bedenken und zeigt mir seine Geldbörse, die reichlich gefüllt zu sein scheint.

»Ich habe gut gearbeitet. So viele schöne Tage! Wir können ja auch einen Deal machen, wenn Ihnen das lieber ist?«

Ich bin auf der Hut und warte auf seinen Vorschlag.

»Ich bezahle, Sie schicken mir das Geld später wieder. Und ich darf über Sie in meinem Blog schreiben.«

Ich schaue ihm in die Augen und denke, dass ich doch eigentlich genug Lebenserfahrung haben sollte, um diesen Menschen richtig einschätzen zu können. Er gibt mir seine Visitenkarte, die allerdings irgendwie selbst gebastelt wirkt.

Mein Xaver würde sich die Haare raufen.

Meine Freundin Lisa würde den Kopf schütteln.

Genau das sind wohl die ausschlaggebenden Gedanken. Ich sage zu. Gerade habe ich Lust auf ein wenig Abenteuer, spüre einen Anflug von Aufmüpfigkeit in mir. Wenn alles schiefgeht, lande ich als Zechprellerin bei der Polizei. Was solls? Ich habe schon Schlimmeres überlebt.

Xaver ist gestorben.

Lisa ist gestorben.

Das Leben kann mir doch gar nichts mehr anhaben.