heimelig

Текст
Автор:
0
Отзывы
Читать фрагмент
Отметить прочитанной
Как читать книгу после покупки
Шрифт:Меньше АаБольше Аа

5 Risotto-Schmaus

Das Risotto-Essen mit Matteo ist ein voller Erfolg. Wir unterhalten uns großartig und lachen viel, fragen einander aus. Das Essen schmeckt himmlisch – nach den vielen Wochen Verköstigung im Heim bin ich allerdings leicht zu begeistern. Dazu trinken wir auch beide ein Glas Rotwein. Matteo scheint den Wirt und das Personal zu kennen. Es fühlt sich alles sehr familiär an. Ich lehne mich zurück und genieße den Blick auf den See und die knorrigen Platanen mit ihrem üppigen Grün, die ich so sehr mag.

»Ende des neunzehnten Jahrhunderts brachten ehemalige Auswanderer siebenundvierzig Platanen aus Frankreich hierher und schenkten sie Ascona«, weiß Matteo. Und da stehen sie seither, wie Wahrzeichen, wunderschön.

Möwen kreisen kreischend über den bunten Booten. Pure Idylle. Einmal steht plötzlich eine Ente an unserem Tisch, und ich ziehe erschrocken meine Füße zurück. Alle amüsieren sich über meinen Schrecken.

Matteo erzählt von seinen Reisen. In Ascona ist er meist nur im Sommer. Ansonsten trampt er durch die Welt, wohnt bei irgendwelchen Bekannten und macht Musik.

»Jede Stadt – nicht etwa jedes Land – hat eigene Gesetze und Regeln für Straßenmusiker«, sagt er. »Das ist etwas anstrengend. Hier in Ascona kaufe ich jeweils eine Jahreslizenz für vierhundert Franken. Doch schon in Locarno gilt die nicht mehr, darf ich nicht auftreten. Und in München – man glaubt es kaum – musste ich sogar vorspielen, also beweisen, dass ich gut genug bin. Eine Schlafgelegenheit zu finden, ist hingegen nicht so schwer. Hier wohne ich bei meiner Freundin Lucia.«

»Und sie hält das aus, wenn Sie so oft unterwegs sind?«

»Na ja. Sie macht schon immer mehr Druck. Sie findet, ich sei langsam zu alt für dieses unstete Leben. Dabei haben wir uns in Barcelona kennen gelernt, als ich genau so lebte wie heute, und sie wusste immer, wer ich bin und was ich will … Im Moment einfach noch nicht sesshaft werden. Ich bin noch nicht so weit für Heirat, Kinder, Haus …«

Da kann ich nur hoffen, dass es gut geht mit den beiden, auf die Länge gesehen. Aber die jungen Leute heutzutage denken ja in Beziehungssachen ohnehin nicht mehr so langfristig, wie wir es damals taten.

Matteo scheint Mitte zwanzig zu sein, wie meine Enkelin Kim ungefähr. Nur wirkt sie im Gegensatz zu ihm sehr zielstrebig und ehrgeizig. Sie weiß genau, was sie will. Andererseits weiß Matteo das ja auch. Und ebenso genau.

Matteo lässt den Kellner ein paar Fotos von uns beiden machen. Wir prosten uns dafür mit dem letzten Schluck Rotwein zu und lassen die schönen Gläser klingen.

»Die sind für meinen Blog. Wissen Sie, was ein Blog ist?«, fragt Matteo.

»Ja, klar. Meine Enkelin wollte mir einen Blog für mein Leben im Altersheim einrichten. Ich habe mir das alles genau angeschaut. Aber es ist nichts für mich.«

Matteo erzählt von zwanzigtausend Followern. Er könne mit seinem Blog schon etwas Geld verdienen, bekomme auch mal eine Hotelübernachtung geschenkt, wurde schon zu Straßenmusikfestivals auf der ganzen Welt eingeladen.

»Meine Follower werden dich lieben. Sie. Scusa!«

Beim Tiramisu, das der Wirt großzügig spendiert, wechseln wir dann doch noch zum Du. Nach dem Espresso übernimmt Matteo wie vereinbart die Rechnung und will sich verabschieden. Er muss seinen Standplatz verteidigen, der unterdessen von einer lebenden Statue übernommen worden ist. Ich begleite ihn, höre ihm noch eine Weile zu. Er spielt wirklich gut. Und ich bin glücklich.

Auf dem Rückweg im Zug nicke ich ein wenig ein. Zum Glück verpasse ich aber nicht das Umsteigen und komme am frühen Abend ins heimelig zurück. Nein, ich melde mich nicht bei Frau Meier, sondern gehe einfach in mein Zimmer. Ausnahmsweise mal mit dem Lift. Sonst benütze ich immer die Treppe. Das fällt mir zwar manchmal schwer, aber ich lasse es mir nicht anmerken, da ich Neid und Bewunderung im Rücken spüre. Wenn ich jeweils nach dem Essen an der Warteschlange vor dem Lift vorbeigehe und die Tür zum Treppenhaus öffne, schiebt mich das richtiggehend an. Ich bin die einzige Bewohnerin des heimelig, die Treppen steigt – die Treppen steigen kann.

Das sind halt die kleinen Freuden, die ich noch habe.

Und ich weiß: Das tut mir gut. Sportlich und menschlich.

Im Zimmer hole ich sofort eine Hunderternote und einen Fünfziger aus meinem Geldbeutel in der blauen Tasche. Ich adressiere ein Couvert, stecke das Geld hinein und schreibe ein paar Zeilen auf eine Ansichtskarte vom heimelig. Den Umschlag will ich gleich anschließend in die Post-Box unten beim Empfang werfen. Nein, ich habe nicht gern Schulden. Und ich zahle Matteo gern großzügige Zinsen. Er hat schließlich meinen Tag gerettet.

Endlich im Bett, merke ich, dass ich ziemlich erschöpft bin. Das war doch ordentlich viel Aufregung für eine alte Frau. Ich lasse meinen Tag Revue passieren und finde, dass sich die Anstrengung gelohnt hat. Ich hatte zwar leichte Startschwierigkeiten, fand dann aber einen Schutzengel und habe ein paar richtig vergnügliche Stunden verbracht.

Ich glaube, ich mache weiter. Mit B.

Zum Einschlafen zähle ich nicht Schafe, sondern versuche, Orte mit B zu finden.

Beckenried, Beromünster, Bürchen, Bad Zurzach …

Baden, Buchs, Bauma, Benken, Birmensdorf …

Bünzen bei Boswil …

Burgdorf …

6 Reise-Wunschkonzert

Normalerweise sitze ich beim Frühstück um halb acht allein am Tisch. Die anderen schlafen länger. Verständlich. Für die meisten hier hat der Tag sowieso viel zu viele Stunden. Wieso sollten sie ihn also unnötig früh beginnen?

Ich kann nicht anders. Ich bin eine unverbesserliche Frühaufsteherin. Meine innere Uhr weckt mich kurz vor sieben. Außerdem sitze ich am Morgen ganz gern allein am Tisch, schweige vor mich hin und kaue gedankenverloren mein Brötchen. Manchmal lege ich mich dann nach dem Frühstück noch ein wenig aufs Sofa.

Doch heute bleibe ich nicht lange für mich. Alle trudeln früher ein: Tobias, Marlies und Paul. Ich lächle in mich hinein. Die Neugierde hat sie aus dem Bett getrieben.

»Wie wars?«

»Wie geht es dir?«

»Wann bist du heimgekommen?«

»Wirst du wieder verreisen?«

Sie löchern mich mit Fragen.

Und ich erzähle. Ausführlich.

Es tut mir gut, so viel Aufmerksamkeit zu bekommen. Meine Tischkameraden hängen an meinen Lippen, speziell an der Stelle der Geschichte, an der ich meinen unerwarteten »Bankrott« feststelle. Da mache ich gekonnt eine kleine Kunstpause und hole mir eine neue Tasse Kaffee, ganz ohne jede Eile. Das nennt man Dramaturgie. Cliffhanger. Spannungsaufbau. So etwas weiß ich.

»Und dann?«

»Machs nicht so spannend!«

»Erzähl weiter!«

»Hast du nichts gegessen?«

Die Fragen prasseln wieder auf mich ein. Und so berichte ich auch noch von Matteo, vom Risotto und dem ganzen schönen Mittag in Ascona. Auch die Ente lasse ich nicht aus.

»Schön«, kommentiert Tobias.

»Gut gemacht«, meint Paul wohlwollend.

»Na ja«, kommt jetzt natürlich Marlies daher. »Sich von einem fremden Mann einladen zu lassen … So etwas käme mir nie in den Sinn.«

Das glaube ich ihr.

»Bei uns gab es gestern Tomaten-Spaghetti«, lenkt Tobias ab.

»Ach ja. Stimmt«, bestätigt Paul und sieht dabei etwas verärgert aus. »Das ist einfach kein Essen für Senioren«, schimpft er.

Ich wüsste jetzt nicht, warum es Altersbeschränkungen für Spaghetti geben sollte.

Auf meinen fragenden Blick fährt Paul fort: »Ich habe mir eine kostbare Seidenkrawatte verdorben.«

»Oh!« Ich verkneife mir ein Lächeln.

»Spaghetti kann man einfach nicht ordentlich essen!«, betont Paul noch einmal. »Du hättest Esther sehen sollen« – Esther ist leicht dement und sitzt im Rollstuhl –, »als sie fertig gegessen hatte, war sie mit Spaghetti behängt wie ein italienischer Christbaum.«

Hängen an italienischen Christbäumen Spaghetti?

Eine lustige Vorstellung.

Wenn es nach Paul ginge, müsste man also auf die Spaghetti-Packungen einen Warnhinweis drucken: »Nicht für Kleinkinder und Senioren geeignet!« Oder: »Kleinkindern und Senioren nur püriert servieren!« Noch besser: »Nur ohne Krawatte einnehmen.«

Manchmal – ich gebs zu – amüsiere ich mich ganz gut mit meinen eigenen Gedankengängen. Ja, ich werde langsam komisch. Immer öfter ertappe ich mich bei Selbstgesprächen. Das mag ja gehen, solange ich allein bin. Aber ich habs nicht mehr wirklich unter Kontrolle und plappere an den unmöglichsten Orten vor mich hin, zum Beispiel im Wartezimmer beim Zahnarzt. Neulich las ich allerdings in irgendeiner Zeitschrift, die ich eben beim Warten irgendwo durchblätterte, einen Spruch, der mich wieder mit meiner neuen Eigenart versöhnte: »Kein Wunder, dass ich Selbstgespräche führe. Ab und zu brauche ich einfach einen intelligenten Gesprächspartner.«

Ha! So kann man es auch sehen.

»Was ist dein nächstes Ziel?«, will Tobias jetzt wissen. »Baden, oder gar Baden-Baden?«

»Bern würde mich reizen«, sage ich spontan. »Gut erreichbar, schöne Altstadt.«

Meine Tischkameraden sind nicht begeistert.

»Brissago, das wäre wunderschön. Es liegt auch im Tessin. Da gibt es eine herrliche kleine Insel«, schlägt Marlies vor.

»Dann könntest du mir einen Brissago-Stumpen mitbringen«, lacht Paul.

»Nein«, wehrt sich Marlies. »Dort fährt man hin, weil man die Insel besucht, den botanischen Garten des Kantons. Sehr sehenswert.«

 

»Brissago ist mit hundertsiebenundneunzig Metern über Meer der tiefste Punkt der Schweiz«, steuert jetzt auch Tobias sein Wissen bei.

Ich erkläre entschieden: »Nein danke, Tessin, das hatte ich doch gerade.«

Tobias bringt leise einen neuen Vorschlag: »Du könntest für mich nach Buochs fahren.«

Buochs?

Gar nicht so weit weg. Warum nicht?

Ich mustere Tobias, und mir fällt auf, dass er noch schlechter aussieht als sonst. Die Haut spannt über seinen Wangenknochen, die Augen wirken eingefallen.

»Buochs. Gut. Abgemacht!«, sage ich spontan.

Tobias lächelt mir zu, und ich weiß, es steckt bestimmt noch irgendeine Geschichte hinter seinem Vorschlag. Aber ich kann warten.

Nach dem Frühstück nimmt Paul seinen Stock und geht auf seinen täglichen Spaziergang. Marlies schleicht an ihrem Rollator zum Lift, weil sie sich irgendeine Serie im Fernsehen anschauen will.

»Warum soll ich also nach Buochs fahren?«, will ich jetzt, wo wir ganz unter uns sind, von Tobias wissen.

Er rückt seinen Stuhl näher zu mir ran und beginnt zu erzählen.

»Ich war ein schlechter Vater. Ein ganz schlechter.«

»Was? Bist du sicher? Wir haben doch alle Fehler gemacht mit unseren Kindern. Das ist normal. Eltern, die sich später keine Vorwürfe machen, gibt es wohl gar nicht. Und Kinder, die ihren Eltern keine Vorwürfe machen, leider genauso wenig.«

»Das stimmt. Aber ich war richtig schlimm.«

»Oh, aber du hast nicht …«

»… nein, keine Gewalt oder so. Ich bitte dich!«

Ich bin erleichtert.

»Meine Frau ist früh gestorben, und dann habe ich mich einfach von allen und allem abgekapselt und meine Trauer ausgelebt, mich am Ende nur noch selbst bemitleidet. Sogar gesoffen hab ich. Meine Tochter Käthi habe ich alleingelassen, in einer Zeit, in der sie mich dringend gebraucht hätte. Dabei war Käthi bezaubernd. Sie glich immer mehr ihrer Mutter, meiner geliebten Katharina. Ihre Gesten, ihr Lachen, ihre Bewegungen. Ich hielt es genau deshalb kaum mehr aus mit ihr. Und das habe ich sie spüren lassen. Ich war kalt und ungerecht.«

Tobias’ Stimme zittert, wie seine Hände es immer tun.

»Es geht mir schlechter. Ich machs wirklich nicht mehr lange. Das ist okay. Ich muss nicht ewig leben. Ich bin bereit. Ich würde nur gern noch einmal mit meiner Tochter sprechen. Aber sie kommt natürlich nicht. Ich weiß gar nicht, wann ich sie zum letzten Mal gesehen habe.«

»Warum schreibst du ihr nicht? Warum rufst du sie nicht an?«

»Ich kann nicht mehr schreiben, und ein Anruf nach all dieser Zeit scheint mir einfach unangemessen. Sie lebt in Buochs.«

Ach, jetzt verstehe ich langsam, in welche Richtung das hier läuft.

»Du willst, dass ich vermittle?«

»Ja! Du schaffst das. Ich kann das Haus nicht verlassen, weil ich viel zu schwach bin. Bitte Käthi um einen letzten Besuch bei mir. Ich möchte ihr sagen, dass ich heute alle meine Fehler klar erkenne und es mir leidtut.«

Ich nicke und nehme Tobias’ Hände in meine.

»Ich versuche es gern.«

Wir haben beide Tränen in den Augen.

»Der Arzt gibt mir nicht mehr lange«, flüstert er.

»Das hat er doch schon oft gesagt«, beruhige ich ihn.

»Ja, aber jetzt fühlt es sich an, als hätte er recht.«

Er gibt mir einige Informationen zu seiner Tochter. Sie habe das Hotel Schiff geführt, direkt beim Steg. Dort solle ich zuerst nach Käthi fragen. Aber ob sie noch dort arbeite? Sie sei inzwischen ja auch schon siebzig.

»Siebzig? Dann hast du vielleicht schon Enkel und Urenkel, die du noch nicht kennst?«

Er nickt. Tobias ist unser ältester Bewohner: Neunundneunzig Jahre hat er auf dem Buckel. Alle freuen sich schon auf die Party, wenn er hundert wird. »Ich steige dann aus dem Fenster und verschwinde«, droht er immer, wenn die Rede darauf kommt, in Anlehnung an den weltbekannten Roman von Jonas Jonasson, den wir beide gelesen haben.

Ich mag Tobias sehr. Er hat einen extrem wachen Geist, Witz und Gefühl. Mit viel Anstrengung und einer speziellen Lupe liest er jeden Tag die Zeitung und berichtet uns dann das Wesentliche, sodass ich keine eigene Zeitung mehr brauche. Mit ihm kann man diskutieren, er hinterfragt alles und anscheinend auch sich selber. Ich hoffe, er bleibt noch lange unter uns. Wer weiß … wenn Käthi wieder da wäre, hätte er vielleicht wieder mehr Lebensmut? Seinen Kampfgeist hat er ja längst bewiesen.

Die Reise nach Buochs wird ein Klacks: Mit dem Bus nach Gersau, mit dem Schiff über den Vierwaldstättersee nach Buochs. Da brauche ich nicht einmal die Hilfe von Kim. Vielleicht dann wieder beim Buchstaben C.

Aber zwei, drei Tage Ruhepause gönne ich mir trotzdem, bevor ich wieder losziehe. Ich muss ja nicht schon in zwei Monaten das ganze Abc durchhaben.

Auch Kim nimmt regen Anteil an meinen Reiseerlebnissen, als sie mich das nächste Mal besucht. Für Matteo, den jungen Musiker, interessiert sie sich natürlich besonders, und sie findet schnell seinen Blog, der MatteoMusicista heißt.

»Ein hübscher Kerl«, meint sie anerkennend. »Aber doch eher in meiner Liga als in deiner.«

Wir lachen.

Matteo hat unsere Begegnung – mit Foto – schon publiziert.

»Schau mal, wie viele Leute das schon kommentiert haben! Sie mögen dich! Ich habe immer gesagt, dass du einen Altersheim-Blog schreiben solltest. Stell dir vor, wie nett hier alle zu dir wären, wenn du die ersten tausend Follower hättest. Plötzlich hätte man Angst vor deinen Einträgen und würde sich um dich bemühen.«

Ich erzähle ihr, wie Frau Meier mir die Reise madigmachen wollte. »Sie meinte wirklich, ich bräuchte dazu von irgendjemandem eine Erlaubnis«, berichte ich empört.

»Eine unheimelige Person«, findet Kim.

»Unheimelig – komisches Wort. Denkst du, das gibt es wirklich?«

Über so eine Frage kann Kim nur lachen. »Die Sprache ist im Wandel. Lass uns einfach jeden Tag einmal das Wort in Umlauf bringen, und plötzlich steht es im Duden. In den letzten Jahren kamen so schon Wörter wie liken, googeln oder durchzappen dazu.«

Kim zückt ihr Handy und posaunt dann heraus: »Unheimelig steht längst im Duden! Wird mit unheimlich gleichgesetzt. Sei vor allem im achtzehnten/neunzehnten Jahrhundert verwendet worden und gilt wohl als besonders schweizerisch.«

»Ach was!?«, rufe ich erstaunt aus.

»Genau so könntest du deinen Blog nennen: Unheimelig«, spinnt Kim ihren Faden weiter.

Als ich versuche, mehr über das Wort heimelig im Computer zu finden, ärgere ich mich einmal mehr, dass das W-LAN tot ist. Toter als tot. Kein Netz. Gar keines. Das Schlimme dabei ist, wie ich es schon Melanie bei ihrer Befragung für die Maturaarbeit erzählt habe: Ich bin die Einzige in diesem Heim mit immerhin fast hundert Bewohnern, die sich darüber ärgert. Darum dauert es auch immer so lange, bis es wieder läuft, vor allem, wenn ich mich nicht höchstpersönlich bei der Rottenmeier darüber beschwere. Darum bin ich sicher nicht ihre Lieblingsbewohnerin. Zu oft stehe ich mit einer Beschwerde in ihrem Büro.

»Das ist eine Zumutung«, schimpft Kim. »Wenn dann mal unsere Generation hier wohnt, gibt es garantiert einen heftigen Aufstand, wenn wir kein schnelles, zuverlässiges Netz haben – und zwar rund um die Uhr!«

Das bezweifle ich keinen Moment. Und da Kim Informatikerin ist, würde sie notfalls auch selber Hand anlegen. Doch im heimelig will sie sich nicht wirklich einmischen. Das ist bestimmt besser so.

Als sie sich verabschiedet, verspricht sie mir aber, die Netzstörung ganz und gar höflich und anständig im Büro zu melden.

Kim im Altersheim? Das kann und will ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Und doch: Wir alle werden alt und älter – außer wir sterben vorher. Aber daran möchte ich auch nicht denken.

7 B wie Buochs

Drei Tage später bin ich bereit. Ich sage nichts zu Tobias. Und ja, ich melde mich auch nicht ab in unserem Heim. Ich lege bloß einen Zettel auf mein Bett: »Bin heute in Buochs.« Den werden sie schon finden, bevor sie die Polizei alarmieren.

Die Anreise macht mir Spaß.

Im Bus setzt sich ein sehr gesprächiger Mann zu mir. Wie ein Wasserfall erzählt er von seinen Reisen kreuz und quer durch die Schweiz. Er habe ein Generalabonnement und fahre jeden Tag durch die Gegend. Stundenlang. Mit Bus, Bahn, Postauto, Seilbahn. Alles, was möglich sei, benütze er regelmäßig. So habe er sein teures Ticket jeweils schon nach drei Monaten amortisiert und fahre dann für den Rest des Jahres sozusagen gratis. Er führe genau Buch über das Geld, das er nicht ausgeben müsse, und könne die Rentabilität seines Ausweises ganz genau nachweisen. Mit seinem GA spare er jedes Jahr etwa zweitausend Franken.

Ich lächle und sage gar nichts, denke mir nur meinen Teil.

Der Wasserfall versiegt nicht.

Als ich erstaunt feststelle, dass der Mann karierte Filzpantoffeln trägt, frage ich mich, ob er vielleicht im öffentlichen Verkehr wohnt, sich nur da zu Hause fühlt? Wenn bei uns einer mit Finken das heimelige Heim verlässt, wird sofort an seinem Geisteszustand gezweifelt. Dieser Mann hier kann sich das offenbar leisten, und keiner sperrt ihn deswegen ein.

Schön für ihn.

In Gersau wechsle ich aufs Schiff, während der Gesprächige weiter nach Küssnacht fährt, wo er auf den Zug umsteigen will.

Endlich mal wieder aufs Schiff und über den Vierwaldstättersee tuckern! Ich merke, wie ich mich entspanne. Das ist ein Reisetempo, das mir entspricht.

Kein Stress, keine Hetze.

Wasser, Wellen, Wind, Wonne.

Das Schiff ist gut besetzt. Vor allem in der zweiten Klasse. Dort versuchen verschiedene Schulklassen und ausländische Reisegruppen, aneinander vorbeizukommen. Ich habe mir aber wieder ein Ticket für die erste Klasse gegönnt. Und dort ist es praktisch leer, weshalb ich einen Moment lang ein schlechtes Gewissen habe. Aber wirklich nur einen ganz kleinen Moment lang.

Ich finde einen herrlichen Sitzplatz, halbschattig, direkt an der Reling, und genieße die Fahrt. Ich bewundere einmal mehr unsere bezaubernde Gegend und die beeindruckenden Berge.

Fast ein wenig widerwillig verlasse ich in Buochs als Einzige das Schiff. Immerhin brauche ich nicht zu suchen: Das beschriebene Hotel steht direkt bei der Station. Ein schönes, stolzes Haus, das aussieht, als stehe es schon seit hundert Jahren hier, und von dem man annehmen könnte, dass es auch noch weitere hundert Jahre da stehen wird.

Es heißt aber nicht mehr Hotel Schiff, sondern ist italienisch geworden und nennt sich jetzt »Lago«.

Das ist der Zahn der Zeit. Auf jeden Fall sieht es nach Pächter- oder Besitzerwechsel aus. Käthi wird ja wohl kaum plötzlich eine Pizzeria führen wollen.

Ich stehe eine Weile unschlüssig vor dem großen Kasten herum. Jetzt habe ich doch ein wenig Herzklopfen. Ich mische mich da in Privatangelegenheiten ein. Das ist sonst nicht meine Art. Wenn Tobias’ Tochter mich zum Teufel jagt, kann ich es ihr wirklich nicht verübeln.

Aber ich habe ja eine Mission.

Es geht hier nicht um mich.

Ich recke also die Schultern und trete ein.

Ein junger Mann tritt mir entgegen und ruft überschwänglich: »Buongiorno, signora! Benvenuta, willkommen!« Ich habe gar keine Gelegenheit, herumzustottern oder nach Käthi zu fragen, weil er mich derart charmant an einen Tisch mit Seeblick lotst. Aus Verlegenheit bestelle ich erst einmal einen Cappuccino. Er bringt ihn mir persönlich und fragt dann: »Kann ich sonst noch etwas für Sie tun, Signora?«

Ich nicke heftig und frage nach Käthi, die ja früher hier das Haus geführt habe. Ob sie noch da sei, und ob er sie überhaupt kenne.

»Käthi. Oh. Sì, sì! Certo!«

Er will zuerst wissen, was ich von ihr wolle. Ganz schön vorsichtig, der Kerl. Als ich ihm erkläre, dass ich Grüße und eine Nachricht von ihrem Vater hätte, der im gleichen Altersheim wohne wie ich, ist er total gerührt.

»Familie ist wichtig. Familie ist alles!«, sagt er euphorisch. »Sie haben Glück. Sehr viel Glück. Sie wohnt nämlich nicht mehr hier und hat das Hotel längst verkauft. An meinen Onkel Sergio, für den ich das Haus führen darf. Käthi ist wie eine Mutter für uns. La mamma. Mamma, die zweite.«

 

Er nimmt mich an der Hand und führt mich zu einem Saal. Er lässt mich kurz durch die offene Tür schauen.

»Käthi feiert heute Geburtstag. Sie ist hier. Mit all ihren Kindern und Großkindern. Dort hinten die Frau mit dem blauen Kostüm, das ist Käthi.« Er deutet auf eine Frau mit hochgesteckten, schwarz gefärbten Haaren und einer Perlenkette um den Hals. Meine mag ich nicht mehr tragen, seit der TV-Hellseher Mike Shiva sie jahrelang als Markenzeichen benützt hat.

So wie ich das aus der Entfernung sehen kann, scheint Käthi ein wenig missmutig in ihre Suppe zu schauen. Aber schon bittet mich der Wirt, wieder mitzukommen.

»Wir haben gerade die Suppe serviert. Minestra di pomodori. Wenn der Gang durch ist, bringe ich Käthi zu Ihnen. Ist das okay?«

Ich nicke.

Da habe ich aber wirklich sehr viel Glück gehabt.

Obwohl Tobias’ Tochter eigentlich weg ist, ist sie hier.

Wieder an meinem Platz, werde ich von Sekunde zu Sekunde nervöser. Da platze ich einfach so in ein Fest hinein mit meinem Anliegen. Ob das ein guter Zeitpunkt ist?

Egal. Zu spät. Denn schon steht Käthi vor mir.

»Guten Tag. Was wollen Sie?«, begrüßt sie mich unfreundlich.

Ich stelle mich vor, bitte sie, sich ganz kurz zu mir zu setzen.

»Sie stören bei einem Familienfest«, erklärt sie.

Lieber würde sie mich wohl wegschicken, aber sie ist halt auch neugierig. Gut für mich.

»Ich habe nur drei Minuten Zeit«, unterbricht sie ungnädig meine Gedanken.

»Ihr Vater schickt mich. Tobias«, beginne ich zögernd und erzähle dann mit stockendem Atem, weshalb ich hier bin: »Ihr Vater und ich leben im gleichen Altersheim. Er hat mir aufgetragen, Ihnen zu sagen, wie leid es ihm tut, dass er ein so schlechter Vater war. Er sieht heute ein, dass er alles falsch gemacht hat. Tobias hat nicht mehr lange zu leben und kann das Heim nicht mehr verlassen. Er würde sich wahnsinnig gern noch mit Ihnen aussprechen und Sie um Verzeihung bitten. Darum hat er mich vorbeigeschickt.«

Sie schweigt mich an.

Ich schweige jetzt auch.

Und ich atme wieder etwas ruhiger. Ich habe meinen Auftrag erfüllt. Alles andere liegt nicht mehr in meiner Hand.

»Ah, jetzt stirbt er also, und damit er sein Gewissen vorher noch schnell erleichtern kann, soll ich ihm verzeihen? Plötzlich spürt er Familienbande, die er so lange einfach vergessen hat.«

Wie Giftpfeile schießen mir nun Käthis Worte entgegen.

»Wie kommen Sie dazu, hier aufzutauchen und sich in unsere Familienangelegenheiten einzumischen? Sie haben keine Ahnung. Von gar nichts.«

Jetzt wehre ich mich doch: »Ein bisschen weiß ich schon. Und ich kenne Tobias, so wie er jetzt ist, ein herzensguter Mensch.«

Seine Tochter erdolcht mich beinahe mit ihrem Blick. Mir wird in meinem Innersten für einen Moment eiskalt. Dann steht Käthi auf und erklärt: »Die drei Minuten sind um.« Zum Wirt ruft sie hinüber: »Osvaldo, du kannst den Cappuccino auf meine Rechnung schreiben. Aber bitte schau, dass Frau Niederberger uns nicht mehr stört.«

Und dann rauscht sie davon. Nur eine Duftwolke ihres widerlich süßen Parfüms bleibt zurück.

Ich bin traurig, ja fast ein wenig erschüttert über so viel Groll, der mir da entgegenkam. Tobias muss es wirklich gründlich mit ihr verdorben haben. Ob man da nach so langer Zeit noch etwas kitten kann?

Hier und jetzt nehme ich mir vor, mein Verhältnis zu meiner Tochter nie so ausarten zu lassen.

Niemalsnie.

Ich nehme meine Handtasche und verlasse das Haus. Der Wirt ruft mir noch irgendetwas hinterher, aber ich höre nicht mehr zu. Ich will jetzt in mein heimeliges Heim zurück. Das hat doch einiges an Kraft gekostet. Ich bin nicht so gut darin, solche schlimmen Stimmungen auszuhalten. Darum hat ja auch die Ehe mit Xaver so lange funktioniert: Ich bin harmoniebedürftig. Ich vermittle und schlichte gern, habe früher auch immer Kompromisse gemacht und dem Frieden zuliebe geschwiegen oder nachgegeben, selbst wenn mir dabei fast der Kragen platzte.

Jetzt wurde ich mit reichlich Hass und Groll eingedeckt und muss später Tobias davon erzählen. Das ist keine schöne Aufgabe.

Das Reiseerlebnis B ist ein Flop.

Ich stehe einen Moment lang niedergeschlagen vor dem Hotel, muss mich zuerst einmal sammeln, bevor ich die Bushaltestelle suche. Ja, es halten kaum mehr Schiffe hier in Buochs. Bei der Anreise hatte ich Glück. Jetzt aber muss ich zuerst mit dem Postauto nach Beckenried, von wo ich dann das Schiff nach Gersau nehmen kann.

Und während ich noch so vor mich hin grüble, ruft jemand: »He Sie, warten Sie einen Moment!«

Ich drehe mich um, und da stehen zwei junge Menschen, fast noch Kinder. Es fällt mir immer schwerer, das Alter von Leuten einzuschätzen. Für mich sind irgendwie alle, die jünger sind als ich, noch Kinder.

Die beiden kommen auf mich zu und begrüßen mich höflich.

»Wir sind Martha und Martin. Zwillinge. Wir sind die Urenkel von Käthi, also die Ururenkel von dem Mann, der Sie hergeschickt hat.«

Das ist aber herzig. Ich bin gerührt.

»Wollen wir ein paar Schritte gehen?«

Warum nicht? Sie wollen wohl etwas Distanz zu der Familie schaffen. Das ist mir auch recht.

»Wir haben gehört, dass es zu einer unschönen Begegnung mit unserer Uroma gekommen ist. Würden Sie uns noch einmal erzählen, was Sie genau zu ihr gesagt haben? Sie sind mit ihrem Vater, also unserem Ururgroßvater, befreundet?«

Ich erzähle es den beiden gern.

»Wissen Sie, unsere Uroma ist eine verbitterte, griesgrämige, alte Nörglerin«, sagt Martin dann geradeheraus. »Sie macht uns allen das Leben schwer.«

»Nun, so hätte ich es jetzt nicht gesagt, aber es stimmt«, bestätigt Martha. »Daran ist vielleicht auch dieser Tobias, ihr Vater, schuld. Wer weiß. Aber ich glaube nicht, dass man ein ganzes Leben lang einen schlimmen Vater als Entschuldigung für alles ins Feld führen kann. Irgendwann muss man für sich selber die Verantwortung übernehmen.«

»Also ich fände es cool, wenn die beiden sich versöhnen könnten«, fügt Martin an. »Vielleicht würde sie dann weniger auf uns allen herumhacken.«

Oh, die Dame scheint nicht gerade den Beliebtheitspreis der Familie gewonnen zu haben.

Aber ganz schön klug scheinen mir die beiden jungen Leute, wie sie das alles einordnen.

»Was machen Sie jetzt?«, wollen sie nun von mir wissen.

»Ich fahre mit Bus und Schiff und Bus wieder heim«, erkläre ich meine Pläne.

»Wissen Sie was, ich fahre Sie heim und besuche dabei meinen Ururopa«, erklärt Martin spontan, worauf Martha sofort sagt, sie wolle auch mitkommen.

Ui, ich glaube nicht, dass das hier in die richtige Richtung läuft.

»Eine schöne Idee, aber es ist dem Frieden ja nicht gedient, wenn ihr jetzt einfach das Geburtstagsfest schwänzt und schon nach der Suppe abhaut!«, wehre ich ab.

»Egal. Die merkt das doch gar nicht. Sie denkt sowieso, dass wir das Letzte sind, völlig schlecht erzogen und verwöhnt noch dazu.«

Nun, dieser Zwillingsbesuch würde Tobias bestimmt sehr glücklich machen. Aber klug ist das nicht. Ich will keinesfalls, dass sich die Fronten noch mehr verhärten.

»Nein, nein, ich glaube, es gibt eine bessere Lösung«, sage ich deshalb schnell. »Ich fahre mit dem Bus nach Beckenried. Dort setze ich mich ins Restaurant direkt an der Schiffstation und esse gemütlich zu Mittag. Ihr könnt mich dort abholen, sobald ihr fertig gegessen habt und euch eine gute Ausrede eingefallen ist.«

Die Zwillinge sind einverstanden.

»Und lasst euch Zeit. Ich kann warten. Ich sitze gern am See, und ich habe ein Buch dabei.«

Nun verlasse ich Buochs doch irgendwie beschwingter, aufgestellter. Die erboste Frau kann ich verdrängen und stattdessen an die herzlichen Zwillinge denken. Sie haben den Tag, die Reise, den Buchstaben B gerettet. Vielleicht kann man die Versöhnung von unten her aufrollen. Tobias wird sich freuen. Riesig. Das wird ihn über die Enttäuschung hinwegtrösten, dass seine Tochter nicht einlenken will. Und wie gesagt: Es ist ja noch nicht aller Tage Abend. Obwohl – das ist ein blöder Spruch. Man weiß nie, wann es wirklich Abend ist. Für alles zu spät. Ich nehme mir vor, in meinem persönlichen Umfeld etwas versöhnlicher zu sein. Gerade meiner Tochter Trudi gegenüber will ich in Zukunft mein Herz wieder mehr öffnen, auch wenn sie die Tür dazu selber zugeschlagen hat.

Бесплатный фрагмент закончился. Хотите читать дальше?