Dämmer und Aufruhr

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Und noch unter dem Eindruck dieser erteilten Lehre in der Blechnerei auf dem Hinweg zur Schule bin ich an dem Tag gar nicht in die Schule gegangen, sondern weiter auf der Straße, die Schulstraße hieß und am Ende in einen schmalen Weg zum Haus von Dr. Eckart führte. Ich floh zu meiner Hüterin, so zuverlässig in ihrem Zimmer, wie meine Eltern abwesend waren (beide ganztägig in dem gemieteten Firmengebäude unterhalb der stillgelegten Bergwerkshalde). Sie lag noch im Bett mit einem Kreuzworträtsel, als ich auftauchte, und ich erzählte ihr nichts von dem Vorfall, ich sagte nur, mir sei nicht gut, ich wollte nicht in die Schule, und sie setzte gleich Wasser auf für eine Wärmflasche. Und als wir dann beide im Bett lagen, sahen wir uns Fotos aus der letzten Sommerfrische an – in den großen Ferien war ich jetzt wieder Begleiter von Mutter und Großmutter in der Gegend von Kitzbühel, als hätte es meine Schwester noch nicht gegeben. Die kleinen Schwarzweißfotos zeigen immer nur den Jungen in Gesellschaft von einer, zwei oder drei Frauen, im Dirndl, im Kostüm, im Badeanzug, und über eins der Badebilder hielten wir ein Vergrößerungsglas, das Glas, das sonst dazu diente, Garn durch ein Nadelöhr zu fädeln, um mir etwa einen abgerissenen Knopf anzunähen, den außerhalb meines süßen Exils niemand angenäht hätte.

Der Junge und seine Hüterin stehen auf den Planken der Badeanstalt Seebichel am Schwarzsee. Sie – Jahrgang 1896, Anfang sechzig zu dem Zeitpunkt – in gewagtem Einteiler, die Schulterpartie frei, den Enkel halb vor sich; er, die Hände verschränkt wie zum Gebet, in schwarzer wollener Badehose, abstechend vom hellen Bauch. Und fast milchweiß ist auch die Haut der Frau, die ihn vergöttert, eine ihrer großen Brüste ist unter dem Badeanzug erkennbar, die andere bedeckt der kindliche Kopf, als wäre das runde Gesicht Teil ihres Fleisches. Ebenfalls gut erkennbar: das nasse, angeklatschte Pagenhaar des Jungen, während das Haar seiner Beschützerin wirr absteht – sie fand sich schirch auf dem Foto, nicht eben hübsch, einer ihrer wie aus einer reicheren Welt geretteten Ausdrücke, die in mir, noch vor dem Alemannischen, eine semantische Manifestation geschaffen haben, einen intimen Vokabelschatz (inzwischen nur noch mit der kleinen Schwester von damals geteilt – zwei, denen eins dieser Wörter schon reicht, damit sie mit ihrer unsterblichen Großmutter beim Abendbrot sitzen).

Wörter, keine Worte, die sich weitergeben ließen ohne eine Geschichte dazu, auch wenn ich sie bei Gelegenheit vor den eigenen Kindern gebraucht habe; die schüttelten dann nur etwas den Kopf, und der Erwachsene war versucht, ihnen ein Verzeichnis der Kleinode aus diesem Sprachschatz zu erstellen, nach dem Alphabet der Erinnerung, einer Reihenfolge, für die es keine Algorithmen gibt, um ihrer Logik beizukommen, höchstens den unterschiedlichen Herzschlag beim Schreiben des einen und anderen Worts. Ein Feudel, so hätte mein Verzeichnis anfangen können, ist ein Lappen, und Potschen sind Hausschuhe; der Römmel ist ein Popel, und Polken ist das Nasebohren. Zippi heißt das Geheimste beim Mädchen, Schwaffl das beim Buben und der Halbschlaf im Sessel heißt bei ihr Tunken, ferner ist Urschel eine blöde Kuh, Hermper die große Nase, dährisch ist schwerhörig, und Hatschen meint langsames Gehen. Lulatsch heißt jeder ab eins achtzig, Nachtkastel jedes kompakte Kind, und ein mageres ist und bleibt ein Krischpirdel, dagegen jedes dicke Mädchen eine Plunzen; wenig nett auch das Wort mirchdeln, gemeint ein Ausdünsten als gesamte Person, und ebenso unfreundlich der Ausdruck HabedieEhre, eine klare Abfuhr, während Abpfirten die Zeremonie der Verabschiedung meint, das Kreuzerlmachen, auf dass man sich wiedersehe. Und wenn meine Hüterin mit mir am Sonntagnachmittag ins Kirchzartener Kino ging, in die Dreisam-Lichtspiele, wir in der fußfreien Reihe saßen auf den teuersten Plätzen für zwei Mark, vor uns auf den billigen die Halbstarken aus der Blechnerei und anderen Betrieben im Dorf, darunter immer auch ein Lulatsch, der für freies Sehen den Platzwechsel erforderlich machte, und alle im Kino auf Peter Alexander und Gunther Philipp oder Sissi, die junge Kaiserin, warteten und endlich das Licht im Saal schwächer wurde, sagte sie, selbst schon etwas dährisch, mit unüberhörbarer Stimme: Also, wenn du noch einmal wiescherln musst, dann jetzt!

Frühes Beschütztsein durch eine intime Sprache heißt auch, von ihr umschlungen zu bleiben und sich in dieser Fessel zu zeigen: als einer von gestern – das Kopfschütteln der Kinder, wenn ihr Vater bei Gelegenheit auf diese Sprache, nach außen hin zum Spaß, im Grunde aber allen Ernstes zurückgegriffen hatte, war das Kopfschütteln über seine nur lose Verankerung in der Gegenwart; ja, eins dieser Wörter reicht wie ein Geruch von früher, um mit seinem Klang die Gegenwart aufzuheben: Ich sitze auf dem Balkon des einstigen Elternzimmers im Hotel Beau Sejour, weiterhin in milder Sonne, aber bin im Dorf der Kindheit, wo es über Nacht geschneit hat, alles in stillem Weiß liegt; meine Hüterin bindet mir einen Schal um, damit ich mich nicht verkühle, sondern pumperlgesund bleibe – auch zwei ihrer Ausdrücke, verkühlen statt erkälten und die Steigerung von gesund –, und ich eile vors Haus, um mit Doris, der Arzttochter, zu spielen. In der Schule reden wir kaum miteinander, hier aber sind wir ein Paar, seifen uns ein mit dem weißen Pulver, und nachts, im Bett meiner Hüterin, träume ich von Doris und erwache fast mit ihr, während das Frühstück schon am Bett steht, Kakao und eine Semmel mit Wurst.

Die Weihnachtsferien hatten begonnen, also durfte ich auch unter der Woche in dem Exil bleiben, konnte dort etwa Briefmarken sortieren, die mir mein Vater monatlich zusteckte, oft samt Kuvert, Marken selbst aus fernsten Ländern, Chile, Pakistan oder Indonesien, all den Weltecken, in die er seine medizinischen Apparate zu verkaufen versuchte und aus denen abschlägige oder hinhaltende Antworten gekommen waren. Ich löste die Marken im Wasserbad ab und setzte sie in ein dickes Album (das es noch gibt, oben auf den Seiten, in meiner Kinderschrift, jeweils die Ländernamen). Es war kein Einsortieren nach den Gesichtspunkten der Philatelie, es war eins nur nach Größe und Schönheit, darum finden sich vorn in dem Album Marken aus Formosa, dem heutigen Taiwan, mit bunten Paradiesvögeln, aber vor allem die aus Österreich, viele für ein Alpental werbend, immer mit einer Schönen des Tals als Motiv. Und auf der Zillertalbriefmarke war ein Mädchen, das aussah wie Doris mit seinen weichen Wangen und einem Blick für den, der die abgelöste Marke vorsichtig über der Heizung getrocknet hat, um sie dann unter Glas zu plätten und ihr später einen Platz in dem Album zu geben (den Platz, den sie heute noch innehat). Es war ein Tun im Zustand zwischen Wachen und Träumen, oft ganztägig im Schlafanzug; im Winter brannte auch den ganzen Tag eine Stehlampe im Zimmer, herübergerettet aus ihrem Vorkriegsleben, ebenso ein Porzellanpapagei auf einem Sekretär mit Geheimfächern (verloren gegangen wie alles aus jenem großmütterlichen Reich, bis auf wenige Fotos). Eine sich um den Enkel wölbende Welt war dieses Zimmer und seine Bewohnerin mit ihrem aus der Atmung kommenden Vor-sich-hin-Summen, während er Briefmarken aus ihrem geliebten Österreich in eine Hierarchie der Schönheit brachte; und oft wurde aus dem Summen auch ein Wiener Lied, das Überwechseln in ein paar gesungene Zeilen – mit Worten, die einen Jungen von sieben oder acht bereits ahnen ließen, dass alles Schöne einmal ein trauriges Ende hat.

Keine meiner Fantasien in diesen Jahren war schlimmer als die vom Tod der so leise Singenden mit einem schwachen Herzen, über das sie gern klagte, auch wenn es sie gar nicht im Stich ließ, ihr eher als Druckmittel zur Seite stand. Mein Vater dagegen klagte kaum über sein fehlendes Bein, und wenn ihn Schmerzen im Stumpf befielen, er bei Tisch Hüpfer auf dem Stuhl machte, die mir Rätsel aufgaben, sagte er dazu kein Wort, während meine Mutter fast täglich von ihrem Ischiasnerv sprach, so überzeugend wie von einem zusätzlichen Körperteil, das aber außer ihr niemand sah. Dieser Nerv war ihr Besitz und war ihr Widersacher, den der kleine Sohn bekämpfen durfte, wenn keine Masseuse zur Verfügung stand; die Leidende lag dann schon im Elternschlafzimmer bereitwillig auf dem Bett, Pullover hochgestreift bis zu den Schulterblättern, Rock geöffnet und leicht nach unten gezogen, damit die noch kindlichen, noch unausgebildeten, aber schon nicht mehr unschuldigen Hände nach Belieben ans Werk gehen konnten.

Der Körper, in dem man steckt, der eigene, wie es gewöhnlich heißt, ist ein Körper der anderen – mein kindlicher Jungenkörper war besetzt vom Körper des Vaters, wenn wir bastelten oder im Heizkeller Feuer anfachten oder er Auto fuhr und den Motor erklärte, aber auch, wenn er ein Wort zu seinem Holzbein verlor; der zweite Okkupantenkörper war der meiner Mutter, wenn sie mich wusch oder eincremte oder mir einen Schmerz wegstreichelte, aber auch am Badeabend mein verborgenstes Teil nach Lust und Laune benannte. Und der dritte Körper, der mit meinem verschmolz, war der großmütterliche, als hätten wir eine gemeinsame Haut, und ihr problematisches Herz wäre auch meins gewesen, das eines Neunjährigen – ich war in dem Alter, als mein Vater eines Tages mit blinder Wut auf den sogenannten eigenen Körper, den Sohneshintern, einschlug, nachdem mir, auf Verhängung eines Zimmerarrestes hin, etwas aus gewiss nicht heiterem Himmel herausgerutscht war: Die Omi habe ich viel lieber als euch! Der väterliche Ausbruch, einmalig in der Art, war die Wut auf ein Kind, das nicht die Liebe für einen empfand, die man verdient zu haben meinte, indem man eine Firma über Wasser hielt.

Nicht lange nach dieser Züchtigung traten die Herrin meines sichtbaren Körpers und die Hüterin des verborgenen, meine Mutter und meine Großmutter, eine Zugfahrt nach Wien an, für beide die erste Reise an ihren Sehnsuchtsort nach dem Krieg. Mein Vater und ich brachten sie zum Freiburger Bahnhof, wir lösten Bahnsteigkarten für je zehn Pfennig und begleiteten sie durch die Sperre zum Zug, ich trug das Gepäck ins Abteil und konnte mich dort kaum trennen, drückte mich an die eine und an die andere, bis der Schaffnerpfiff ertönte, und beim Hinauseilen auf den Bahnsteig hob sich mein Magen. Beide standen jetzt an ihrem heruntergelassenen Fenster, und als der Zug anfuhr, begann ich, seitlich unter dem Fenster mitzulaufen, erst ganz langsam, dann immer schneller, und das nicht nur vor Abschiedsschmerz. Da lief einer neben dem Zug her, die zwei Frauen seines Lebens im Blick, der im Laufen kleine Schreie ausstieß, als etwas wie aus Bauch und Schenkeln kommend, in einer Körpermitte, die ihm entrissen zu sein schien, umso mehr zusammenströmte, je schneller er lief. Fast ist es ein Rennen auf dem langen Bahnsteig dicht neben dem fahrenden Zug, gefährlich anzusehen, aber der einbeinige Vater kann nichts tun, nur laute Warnungen hinterherrufen, während der Neunjährige jetzt gar versucht, die aus dem Fenster gestreckten vier Hände zu fassen, die Spitzen der Finger, und das Zusammenströmen in ihm wie ein Schwärmen kleinster Vögel zwischen den Beinen ist, so flatternd fremd, berauschend zugespitzt, dass er nur mit den Schreien dagegenhalten kann, nicht aber den irren Lauf stoppen: Er läuft auch noch außerhalb des überdachten Bahnsteigs neben dem Zug, dort, wo der Belag schon von Gräsern gesprengt wird, bis er hinter dem letzten Wagen mit einer Tür ins Leere und den Schlusslichtern herrennt und nur noch von weitem die winkenden Hände sieht und den Duft des warmen Gleisschotters atmet und etwas aus seinem Innersten wie durch ein Öhr in die Weltleere um ihn strömt, als glühendes Pissen, während er, nahezu blind, bis an das Ende des Bahnsteigs läuft, die Kante über dem Schotter.

 

Sicher ist, dass mir sekundenlang schwarz war vor Augen oder mir der davonfahrende Zug samt den Gleisen dahinter schwarz vor Sonne vorkam und dass ich plötzlich glaubte, ganz allein auf der Welt zu sein, nass zwischen den Beinen wie schon einmal, noch in Hamburg, als stiller Zeuge einer Bestrafung, nur jetzt von etwas nass, für das jedes Wort fehlte, jede Idee. Und als wäre damit eine von keinem bemerkte Verwandlung einhergegangen, von etwas in mir, das nie wieder würde wie vorher, ging ich in der Erwartung, verstoßen zu werden, zurück zu meinem Vater, der vor der Wartehalle auf einer Bank saß und rauchte.

7

Regen in Alassio, der erste verhangene Tag, aber nur ein Zwischentief, es soll morgen wieder schön sein, das Spätsommerhoch hält noch, und ein trüber Tag – eher leichter Regen, ein Gesprühe – eignet sich für Besorgungen, Wasser, Wein, Kekse, Papier. Ich war im Ort mit einer langen Hauptgasse parallel zum Strand, unterbrochen nur von einem hässlichen freien Platz am Meer, Parkdecks darunter und neuere Gebäude an seiner Rückseite, dem Platz für den Abendrummel im Hochsommer, überall noch die Köpfe, die Namen auf Schildern; Schlachtrösser des italienischen Schlagers waren hier wie Jimmy Fontana (Il Mondo), der Platz dann sicher übervoll, während er vorhin, am späten Nachmittag, leer war. Ich überquerte ihn zu einem der neuen Häuser, darin ein Geschäft mit fetter Schrift über den Fenstern, Galleria L’Image, ein Laden für alte Reiseplakate. Die Tür stand offen, ich trat ein und stieß, noch bevor ich mich umsehen konnte oder zurück in den Regen gehen, auf Mrs. Bennett vor einem gerahmten, traumhaft schönen Plakat von Portofino, seine kleine gewundene Bucht mit dem Hafenörtchen am Ende vom Berg aus gesehen, mit viel Farbgefühl gemalt. Nine thousand Euro, sagte die Amerikanerin; sie hatte den Bewohner ihres angestammten Zimmers von der Seite erfasst, sich sogar halb gedreht, nur waren die Augen dem Körper – in weißer Bluse und Jeans, dazu Laufschuhe – noch nicht gefolgt, sie sahen auf das große Plakat.

Neuntausend, das erschien mir recht teuer, auch wenn es, angeblich, ein Original war, auf Leinwand, frühe dreißiger Jahre. Thirtysomething, sagte Mrs. Bennett, um daraus gleich etwas Persönliches zu machen, wie es nur Amerikanerinnen so schnell fertigbringen – das ideale Alter, erklärte sie, und wir beide seien ordentlich darüber hinaus! Sie lachte, und erst jetzt sah sie mich richtig an, aus grauen bis blauen Augen unter fast geraden Lidern, und fraglich war, ob sie meinen Humor prüfen oder ein Kompliment hören wollte – dass sie nicht ordentlich über das Idealalter hinaus sei. Es war nur ein kurzer Blick auf mich, dann ging sie ein Stück weiter, zu einem ganzen Stapel bedruckter Leinwände, auch Originale, die man nicht anfassen durfte, wie es auf einer Tafel hieß, Non toccare, grazie! Ich schätzte sie auf mein Alter, vielleicht zwei, drei Jahre darunter, hatte aber das Gefühl, dass es ihr ebenso ging: Sie sich als die etwas Ältere sah. Mit einer Handbewegung wischte sie das ganze Thema allerdings weg, sie zeigte auf das teure Plakat: Portofino, da sei sie voriges Jahr gewesen um die Zeit, sonst hätte ich ihr Zimmer nicht bekommen – Why especially this room? Wie nebenbei fragte sie das, und ich erklärte, was es mit dem Zimmer und mir auf sich hatte, dass meine Eltern dort späte Glückstage hatten, das kam an; sie stellte keine weiteren Fragen, vor allem nicht die, was ich in dem Zimmer oder auf dem Balkon den ganzen Tag über machte, statt am Strand zu liegen. Sie wollte nur noch wissen, ob mir der Preis für das alte Plakat zu hoch erscheine, und ich sagte, schon im Gehen begriffen, das hänge davon ab, wie sehr man es haben möchte, um es bei sich an die Wand zu hängen. Mir wäre es zu teuer, auch wenn der ganze Zauber Italiens darin liege, die ganze Süße des Mediterranen – all our deep romantic ideas.

Der ganze Zauber meiner Kindheitssommerfrische, ihre Süße, ihre Wehmut, lag in einem Gasthof und seiner Umgebung unterhalb des Kitzbüheler Horns – zwei Monate nach dem Bahnsteigerlebnis von Freiburg reisen Großmutter und Enkel wie in den Jahren zuvor mit dem Zug über München in den Tiroler Juli, für ganze Wochen im Gasthof Vordergrub. Sie haben ihr übliches Zimmer mit Holzbalkon, ein Zimmer noch ohne fließendes Wasser, stattdessen Karaffe und Schüssel; die Großmutter spricht von Katzenwäsche und überhaupt dem Opfer der Reise hierher und einer so langen Anwesenheit in Vordergrub, nur um ihrer Schwester, die leider kaum Geld habe, nah zu sein. Die Tante Matzi, wie sie genannt wird, angereist aus Wien, wohnt auf einem Hof in der Nähe, dem Hof Oberstegen, bei ihr die Scotchterrier Flörri und Tschenti, die darf ich an der Leine führen. Ansonsten bin ich Kavalier meiner Hüterin, bei Tag und bei Nacht. Wir teilen das Doppelbett und vor dem Schlafen ein Bier, wir schlafen, bis uns die Sonne weckt. Tagsüber treffen wir dann Tante Matzi, kinderlos und beweglicher als ihre Schwester und früher, wie es allgemein heißt, eine Schönheit, umschwärmt von jungen Offizieren. Für das fesche Bubei, wie sie den zwischen beiden Frauen nahezu Eingeklemmten nennt, macht sie sich, zum Verdruss der Schwester, zurecht, mit blutroten Lippen im kleinen faltigen Gesicht, und sie besteht auf einem Mundkuss zur Begrüßung und zum Abschied. Die Schwestern sehen sich jeden Tag, obwohl sie sich alles andere als verstehen; sie hängen nur aneinander, und die Witwe des deutschen Wehrmachtsmajors unterstützt die andere durch Einladungen zu Schnitzel und Schwarzbier, obwohl die abverlangten, unter ihren Augen erfolgenden Küsse sie eifersüchtig machen. Dafür gehört ihr der Bubei-Galan mit Lippenstiftspuren – fast grob mit einem stets unter dem Ärmel verstauten Schnäuztücherl weggewischt – voll und ganz in den Mittagsstunden und wird dort wieder zum trägen Infanten.

Träge das Spähen im gedämpften Licht, schläfrig und doch wach, mit einem Auge auf der, die in der Wäsche auf ihrer Bettseite liegt, das Mieder geöffnet – ich sollte einige der kleinen Haken lösen, damit sich ihr Leib entspannen konnte, und nun entspannte er sich also, wo er vorher zusammengedrängt war, während ich zu schlafen vorgab, aber alles im Blick behielt. Erschöpft und mächtig zugleich lag meine Hüterin neben mir, leise strömte der Atem aus ihrem Mund und der großen Nase, wie über unsichtbare Treppchen hopste die Luft, hinein in einen Summgesang, der langsam in Schlaf überging; und der vom Mittagsbier Benommene konnte nicht anders, als das ja ohnehin etwas offene Mieder in der Farbe einer blassen Aprikose noch weiter zu öffnen, bis er sah, was er nicht sehen sollte, ihr helles Fleisch. Mir blieb gut eine Stunde, bevor sie erwachte, bettwirr das Haar, und es hieß, dass ich die Ösen wieder schließen sollte, nur nicht die unterste, die über dem Po. Also begann ich mit dem Zuhaken, vorsichtig, und sie erinnerte noch einmal an die kleine Poregel – ein geringes In-die-Schranken-Weisen, oft verrät es auch ein Verlangen. Die unterste, die schließt mir der Herrgott, sagte sie, einer ihrer Rätselsätze, und im selben Atemzug bat sie darum, ihr den oberen Rücken zu kratzen, sie zu scheren, wie sie es nannte, und das geschah mit Ausflügen meiner Finger unter das Mieder, leise seufzend von ihr genossen. Wir waren jetzt eins, ein Wonneklumpen im Bett, und umso ungehaltener war sie, als auf einmal, verfrüht, ihre Schwester für den Nachmittagsspaziergang im Zimmer erschien und sich auch gleich den Mundkuss abholte. Sie fuhr sie mit nörgelnder Schärfe an, nannte sie rücksichtslos, die ewig Lästige – mir im Gedächtnis wie die Falten um den Tante-Matzi-Mund und ihr feiner Oberlippenbart.

Schließlich ging man aber doch spazieren, ich durfte wieder die Scotchterrier führen, während sich die Schwestern stritten, bald leiser, bald lauter; Ruhe war erst, als wir eine kleine Kapelle betraten, still ein Vaterunser beteten und Tante Matzi am Ende noch murmelte Gott, gib a’ Geld. Von der Kapelle ging es an einem Bach entlang, nunmehr schweigend, und der Begleiter der Damen fühlte sich mit den Hunden, die er hielt, als Tierbändiger. Es war der Weg zur Talstation der Horn-Bahn, mit der ich liebend gern gefahren wäre, aber weibliche Ängste vor dem Abgrund standen dagegen; mir blieb nur, dem Körberl, wie die Gondel bei den Schwestern hieß, hinterherzuschauen, seinem Aufstieg zum Gipfel hoch über den Tannen und später dem Fels, bevor wir denselben Weg zurückgingen, während es Abend wurde, Zeit für das gemeinsame Essen.

Die Schwestern, beide im Dirndl, zwei in der Gaststube allseits beachtete, die um einen Jungen buhlen (ich fühlte mich wohl auch als Frauenbändiger), trinken ihr dunkles Bier und er ein kleines Helles. Schnitzel gibt es dazu und manchmal Backhendel und vorher eine Fredatten- oder Frittatensuppe mit frischem Schnittlauch – ihr Fettgeruch vermischt mit dem nach Wiese und Brotteig ruft mir diese Abende ins Gedächtnis, immer damit endend, dass wir Tante Matzi noch ein Stück auf ihrem Weg im schon Dunklen zum Hof Oberstegen begleiten. Ein langsamer Abschied ist das, bis man sich schließlich einen Ruck gibt und sich trennt, die eine Schwester weitergeht, begleitet von ihren Hunden, und die andere zurückgeht, begleitet vom Enkel; je mehr sich aber die Schwestern voneinander entfernen, sind sie wieder ein Herz und eine Seele und rufen sich die alten Kosenamen durch die Dunkelheit zu, um noch ein Stimmenband zu haben, immer leiser werdend ein helles Ifferl und Pfifferl, bis auch der letzte Ruf erstirbt, nichts mehr zu hören ist außer Grillengezirp und der Infant zum Hüter seiner Hüterin wird, in der Faust ein kleines Schwert aus Holz, um jeden Angreifer zu erschlagen – die Waffe, die mir das Gefühl gab, unbesiegbar zu sein, einer, der alles niedermachen könnte.

Erst mit dem Dazustoßen meiner Mutter – kaum mehr auf einer Bühne, aber noch mit der Aura zerstreuter Verruchtheit einer jungen Rampendame –, mit ihrem üblichen Aufenthalt in unserer Sommerfrische, endeten die Tage der Miederösen und eingeforderten Küsse, des Mittagsbiers und abendlichen kleinen Schwerts. Sie zieht ihren Kavalier buchstäblich aus dem liebeshysterischen Bett, das ihm die Schwestern bereitet haben, in das Theatralische der eigenen Rede; sie zieht ihn aber auch in ihr Zimmer im Gasthof Vordergrub und an den exklusiven Platz neben ihrem Liegestuhl im Garten, am Rande einer Wiese mit Bauersleuten, die ihre Sensen schwingen. Und so sind beide wieder einmal in der kitzbühelerischen Sommerfrischewelt, die auch eine Halbwelt ist, Mutter und Sohn als Pärchen, ohne den Vater, ohne die kleine Schwester – völlig unklar, wo und bei wem sie sich aufhielt. Während der Abendmahlzeiten ist der Neunjährige nun gleich von drei Frauen umgeben, seiner Hüterin und deren Schwester mit dem faltigen roten Mund sowie der schönen, in der Gaststube allseits bestaunten Mutter. Er unterhält die drei Frauen mit Parodien, macht die Buben des Hauses nach, ihre im Rachen gebildeten Wörter, wenn sie ihm Fragen stellen über die weite Welt; er wird beklatscht und geherzt, belohnt für sein drolliges Artigsein, sogar noch nachts im Mutterbett, neben ihrem warmen Leib, wenn er schläfrig daran spielt, so artig wie unartig. Und auch tagsüber ist er ganze Stunden allein mit ihr, sie in dem Liegestuhl, lesend, rauchend, dösend, er davor, mal im Gras sitzend, mal in der Hocke, immer ihren sonnenbeschienenen Beinen nah. Die Schenkel sind eine Ablage für seinen Zeichenblock; er bemüht sich, ihr Gesicht und auch den Rest zu zeichnen, das, was er ohnehin schon zu besitzen glaubt, nur schlagen alle Versuche fehl. So sehe ich doch nicht aus, ruft die Gezeichnete immer wieder, und er zerreißt das Blatt und versucht es noch einmal, bis der Block aufgebraucht ist.

 

Erneut ist also keine Zeichnung, in dem Fall all der Versuche, etwas von der Mutter festzuhalten, übrig geblieben, wie Jahre zuvor in Hamburg die gezeichneten Querschnitte großer Schiffe, um so ihr Wesen zu erfassen; geblieben aus den Tagen des vergeblichen Zeichnens ist nur ein kleines Schwarzweißfoto mit welligem Rand. Meine Mutter – zur Zeit der Aufnahme Anfang dreißig – ist von vorn zu sehen in ihrem Liegestuhl, die Unterschenkel leuchten, die Füße in hellen offenen Schuhen stehen auseinander, die Knie berühren sich; sie trägt einen nach oben gerutschten, eher jedoch hochgezogenen Rock, damit die Beine freiliegen. Die Schatten auf dem Bild sind kurz, wohl ein Julimittag – im Hintergrund heuende Bauern –, die Frau im Liegestuhl nimmt ein Sonnenbad, seitlich neben dem Stuhl ihr Neunjähriger in der Hocke. Er trägt Sandalen, Badehose und ein kurzärmliges Hemd, sein linkes, der Kamera zugewandtes Bein ist ebenfalls deutlich im Bild; beide haben wohlgeformte Beine, die des Sohns wirken schon nicht mehr kindlich, wenn auch weniger gezirkelt als die zur Schau gestellten. Ja, er besteht überwiegend aus den Beinen in der Hockstellung, das Gesicht von der Kamera abgewandt, ist nur Körper auf dem Foto und doch Leib und Seele in der Haltung: die eines Sohns, der mit einer im Liegestuhl sitzenden Mutter auf Augenhöhe geht. Und offenbar schauen wir uns auch in die Augen, obschon nur ihre zu sehen sind, der Blick darin etwas zwielichtig, bühnenhaft, als gelte er einem Schauspielerkollegen in einem Salonstück, keinem Kind am Rande einer Sommerwiese. Der mütterliche Mund ist leicht geöffnet, sie sagt etwas oder will gerade etwas sagen, etwas wie: Wir zwei Hübschen, nicht wahr? Und vielleicht summt oder singt sie auch, was sie in solchen Augenblicken dann oft leise gesungen hat, Schau mich bitte nicht so an, ich weiß genau, ich kann – Pause, Pause – dir dann nicht widerstehen.

Es war und ist ein Lied wie eine zarte Umarmung von hinten, besonders wenn es, teils gesprochen, teils gesungen, zu einer Anrede wird, der man außer Schweigen nichts entgegenhalten kann; noch in ihrem letzten Appartement am Alpenrand hatte sie es bei einem meiner zu kurzen Besuche, als ich abends an ihrem Bett saß, gesummt, und später, in der Dusche des Gästezimmers (in der immer ein zurückgelassenes Shampoo meiner Schwester stand) kehrte die Melodie wieder und hielt sich bis in den Schlaf. Und dann gab und gibt es auch noch das andere Lied, das mich als Kind, wann immer mein Vater irgendwo war, nur nicht in unserer Nähe, mehr als erreicht hatte, das von der kleinen Konditorei – ja, da sitzen wir zwei bei Kuchen und Tee, meine Mutter und ich, und das elektrische Klavier, das klimpert leise eine Weise von Liebesleid und Weh.

Sie gingen mir im Bett des Gästezimmers kaum mehr aus dem Kopf, die beiden Lieder, ihre Melodien mischten sich, wie durch eine Verwandtschaft in der Tonlage – ich bin kein Kenner von Musik, nur ein Hörer, der auch die Musik in der Sprache hört. Gute Nacht, hatte meine Mutter mit einer gewissen Kühle am Ende des gemeinsamen Abends gesagt, und als ich am nächsten Tag, nach ihrem Frühstück und dem Zurechtmachen für mich und ihrer Erholungsphase, um genau halb zehn ihre Tür mit dem Besucherschlüssel öffnete, abzugeben am Schluss des Besuchs an der Rezeption im Foyer, und das Appartement betrat, an ihr Bett kam, erklärte sie mit der gleichen Kühle, ich sei nicht rasiert, und zeigte ein kleines fahriges Kopfschütteln, womit es alles andere war als eine Bagatelle, denn wer weiß, wem ich im Haus begegnet sein konnte, womöglich der Leiterin des Stifts. Weil ich aber meine Reisetasche dabeihatte, um gleich nach dem Abschied aufbrechen zu können, schlug sie eine Rasur in ihrem Bad vor – Schnell noch für deine Mutter, sagte sie, und der Sohn tat dort, was getan werden musste, damit der Abschied an dem Vormittag ein guter Abschied würde, schon allein dadurch, dass sie das Resultat prüfen durfte. Sie strich mir über Kinn und Wangen und nahm Schaumreste vom Hals; sie fand keine Stoppeln, auch keine Schnitte, sie fand nur etwas in ihrem Gedächtnis.

Dein Vater, eröffnete sie mir ganz überraschend, hat sich oft geschnitten beim Rasieren und immer Fetzen von Klopapier darauf gedrückt, so hat er dann gefrühstückt, mit diesen kleinen roten Fetzen im Gesicht, nicht nur zu Hause, auch wenn wir in einem Hotel oder schönen Gasthof waren, saß er morgens so da, Fetzen am Kinn und am Hals, und nie fiel einer herunter – ob ich gut gefrühstückt habe, unterbrach sie sich selbst und sah auf die Uhr. Sie wollte die Verabschiedung, ehe die Putzfrau erschien, ich aber wollte noch etwas über sie und meinen Vater wissen, wo in einem schönen Gasthof sie beide gewesen seien, und wie am Abend zuvor kam ihr kleines fahriges Kopfschütteln, das auch ein vergebliches Abschütteln von Erinnerung war – Wo, mein Gott, wo, in Tirol, in der Sommerfrische, da hat er uns einmal besucht, musst du nicht zum Zug? Sie kannte meine Abfahrtszeit, sie kannte auch die Fahrzeit mit dem Taxi bis zum Bahnhof Tegernsee, sie kannte den Preis und die pünktliche Fahrerin; noch hätte ich etwas bleiben können, fünf Minuten, aber sie bat schon um den Abschiedskuss, den einen auf den Mund. Und als ich wieder aufsah, lag sie – und liegt in der Erinnerung auch weiterhin – schmal und blass im Bett, groß nur die Augen, darin ein Blick von lautloser Klarheit: Ich weiß, dass ich allein hier liegen muss, geh jetzt. So blieb nur noch, Auf Wiedersehen zu sagen, das eine unabdingbare Wort, die Tasche zu nehmen und eben zu gehen. Ich gab den Besucherschlüssel im Foyer ab und nickte Herrn Abban zu, der auch schon vormittags an seinem Platz saß, angezogen wie für den Abend im Restaurant; das Taxi aber stand bereits, überpünktlich, vor dem Eingang.