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Auch an den Ratsversammlungen, die fast täglich auf der Galerie abgehalten wurden, war es mehr und mehr erkennbar, wie eine gewisse Hast und Nervosität sich vieler bemächtigte. Es wurden Anträge auf Anträge gestellt, bei der französischen Regierung, bei der spanischen und deutschen, bei der amerikanischen Botschaft vorstellig zu werden wegen unserer ungerechten Gefangensetzung, das und das zu fordern für bessere Behandlung usw.; besonders war es wieder das Tribunalzimmer, das die äußerste Linke bildete. Ich war durchaus gegen solche Schritte und mit mir meine Kollegen vom Vorsitz. Noch in späteren Tagen ist mir der Vorwurf gemacht worden, daß ich durch starke Ablehnung solcher Vorschläge vielleicht eine frühere Freilassung verhindert hätte. Die Zeitenfolge hat bewiesen, daß dieser Vorwurf ungerechtfertigt war. Eingaben an alle Regierungen, die etwa tagtäglich gemacht wurden, führten zu nichts, als zu ewigen Enttäuschungen, welche die Nervosität zum Unerträglichen steigerten.

Mit dem Tribunal schloß ich an einem feierlichen Tage Frieden, es war der 2. September, den wir in diesem Zimmer im kleinen Kreise und so heimlich als möglich feierten. Und doch war diese Feier, so primitiv sie war, von unvergeßlicher Weihe. Ich sprach in kurzen Worten von der Bedeutung dieses Tages und dem wehmütig-zaghaften Gefühl, mit dem wir hinter Schloß und Riegel unserer Helden von damals und unserer Helden von heute gedächten. Dann sprach noch Dr. Beyer herzliche Worte für mich, und es wurden mit leiser Stimme patriotische Lieder gesungen. Erst um 9½ Uhr trennten sich die nächtlichen Schwärmer. Eine Pfirsichbowle, die wohlpräpariert war, hatte wesentlich zur Hebung der Stimmung beigetragen. So seltsam habe ich den 2. September nie begangen.

Bald darauf begann ein neuer Einzug der Gäste in unsere Burg. Es waren das Offiziere und Mannschaften der „Elsa Köppen“ und einiger anderer Schiffe. Die „Elsa Köppen“ war in Nizza angehalten und ihre Mannschaft gefangengenommen, ehe noch der Krieg ausgebrochen war. Das nahm uns nicht wunder; derlei waren und wurden wir immer wieder von neuem gewöhnt. Es waren 34 Mann, darunter der Kapitän und mehrere Offiziere. Sie waren teilweise scharf zugerichtet und erzählten von ähnlichem Empfang durch die französische Damenwelt, wie er etwa den meisten zuteil geworden ist, und den wir erst später genauer kennenlernen sollten. Wir begrüßten die Herren und räumten ihnen mit Einverständnis des Sergeanten Bonel als vorläufige Unterkunft den Festsaal ein. Die Offiziere wurden in einzelne Zimmer verteilt, der Kapitän William ins Tribunal, der Erste Offizier Heinrich zu uns. Am nächsten Tage gab es Revolution im revolutionären Zimmer: der neue Ankömmling schnarchte so, daß die festesten Mauern der Ruine ins Wanken gerieten. Es gibt Charaktersünden des Menschen, die beim Kriegsgefangenen zur Todsünde werden; dazu gehört das Schnarchen. Der Kapitän selbst verstand die Aufregung der Masse durchaus nicht und erklärte am nächsten Morgen mit Seelenruhe, daß er selten so gut geschlafen habe. Er ließ sich auch später nie durch die Nervosität der anderen aus so gleichmäßiger Ruhe bringen. Uebrigens liegt es mir fern, dem Herrn etwas Böses nachsagen zu wollen; er hat mir im Winter durch einen prachtvollen dicken Wintermantel und Kopfkissen die kalten Nächte erträglich gemacht. Auch wurde gegen etwaiges Weitertragen der Krankheit dem Herrn Kapitän mit drei anderen Herren, die rücksichtslos demselben Laster frönten, ein Extracachot in Château d’If angewiesen, dessen Akustik minderwertig war. Diese 34 reihten sich uns an, und wenn wir 72 Gefangene der Sister als Sisterleute von nun an eine eigene Gruppe bildeten, so erweiterte sich diese mit den 34 Matrosen zu den Château d’Ifern. Zu uns gesellten sich dann noch der alte Herr Müller und Herr Weißschedel, deren Schriftstücke mit der Versicherung ungehinderter Fahrt ich anfangs in Kopie wiedergab. Der eine von ihnen war ein Greis, der andere schwer krank; aber doch hielt sie Frankreichs Starrsinn und Unberechenbarkeit als mobilisable Gefangene.

Und noch eines muß ich gedenken, der in unsere Gruppe aufgenommen wurde. Den darf ich nicht mit drei Worten abspeisen; er bot uns lange Unterhaltungsstoff und war ein Gradmesser für unsere erregten Nerven. Es war an einem Dienstag. Wir schrieben den 9. September. Hinter uns lagen die üblichen Sonntagsbesuche, die meist aus Damen bestanden, welchen wir als „boches“, also als besondere Spezies von Menagerietieren, gezeigt wurden. Der Montag hatte uns mit dem Einfahren der Sister die üblichen Hoffnungen, mit ihrer Ausfahrt die übliche Enttäuschung, der Dienstag den Katzenjammer gebracht. Unsere Stimmung war die denkbar schlechteste und gefährlich für Kombinationen. Noch dazu hatte am Nachmittag einer der Herren tschechischen Geistes, der uns als besonders gewaltiger Redner gepriesen war, eine herzlich öde Rede über den Marienkultus gehalten, kurz, wir waren reif zur Aufnahme einer Sensation. Die ließ denn auch nicht lange auf sich warten. Sie erschien – das war an und für sich durchaus nichts Besonderes – in Gestalt eines neuen Gefangenen. Aber die Begleitumstände! Die bekannte Treppe hinauf durch das Tor schritt ein Jüngling von etwa 24 Jahren, französische Soldaten – ja, das war es! – trugen ihm Koffer, Matratzen, Kissen und Decken nach; er lohnte sie ab und entließ sie.

Was das sagen will, versteht nur der, welcher je Sträfling gewesen ist. Ich will darauf nicht weiter eingehen, weil ich vielleicht nicht genug Sachverständige fände, die unser Entsetzen voll würdigten. Wer war der Jüngling, der wie ein verkappter Fürst, von französischen Soldaten bedient, hier einzog, wohin wir noch vor kurzem, begleitet und bedroht von französischen Bajonetten, unser Gepäck im Schweiße unseres Angesichts heraufgeschleppt hatten? Wer war der Knabe, der mit einer, nach unserer heutigen Anschauung, kompletten Schlafzimmereinrichtung hier eintraf? Sein Aussehen war kaum deutsch, eher französisch.

Während die Besonnenen unter uns sich scheu und vorsichtig zurückhielten, duldeten einige der Jüngeren seine Annäherung. Er sprach fließend Französisch, Deutsch und Spanisch, nannte einen deutschen Namen, „Silberger“; aber das kann schließlich jeder. Die Neugier überwog, und auch wir lauschten schließlich dem krausen Zeug, das der Ankömmling, sich überstürzend, im Anblick der erstaunten gläubigen Gemeinde vortrug. Mir ist nicht alles im Gedächtnis geblieben; aber wenn ich es heute rekapitulieren soll, war es etwa so: Die Russen waren in Eilmärschen bis dicht vor Danzig gelangt (da wohnt mein Bruder), nachdem sie Königsberg (da habe ich viele Onkel und Tanten) in zwei Tagen erledigt hatten, wurden von der russischen Flotte in der Zerstörung Danzigs unterstützt (armer Artur!), die inzwischen wohl schon Faktum geworden sei. Die Deutschen waren vor Paris (also doch!). Stettin wurde beschossen (da wohnt meine Mutter). Der Kurs der Mark war zu 60 für Franken usw. Er, der Träger dieser Nachrichten, war auf irgendeinem Ueberseeschiffe mit Franzosen zusammen gereist, hatte sich für deutschen Deserteur ausgegeben und sei gezwungen worden, die Marseillaise zu singen. Er unterrichtete uns schnell und legendär. Bald ging ein Raunen durch unsere Reihen, hier lauert Verrat! Wer ist der gesprächige Jüngling, und welchen Zweck verfolgt er? Und immer lauter wird die Frage: Gebet acht! – Und man gab acht, und es offenbarte sich immer mehr, was wir längst erwartet: Der Ankömmling, der so fürstlich ausgestattet zu uns kam, der in Marseille allein in einem Hotel gewohnt hatte, war ein von der französischen Regierung für uns bestellter Spitzel! Nun war es heraus und nicht mehr zu bannen. – Die Nervosität trieb wunderliche Blüten, und das mehrte sich, als er sich mir vorstellte, mich fragte, ob ich Arzt sei, und ob ich so freundlich sein wollte, ihn zu untersuchen, da er an einem schlimmen Fuße litte. Ich tat das auch ganz ruhig und stellte eine allgemeine Schlaffheit der Gelenkbänder fest. Damals stieg in mir noch nicht der fürchterliche Verdacht auf wie in den anderen. Bald wurde ich meines Leichtsinns wegen gescholten und schwer gewarnt: Durch die Kantinenwirtin, die es einem andern unter dem Siegel tiefster Verschwiegenheit mitgeteilt hatte, war es herausgekommen, daß die französische Regierung auf einen aktiven deutschen General mit falschem Paß fahnde, und der befände sich in unseren Reihen. Auf zwei fiel der stärkste Verdacht, auf Moritz und mich. Bei Moritz war die Feststellung nicht so einfach. Wenn auch sein Aussehen durchaus dem eines Generals entsprach, so war es doch schwer, ihm Gespräche zu entlocken, die ihn bloßstellten. Bei mir war es schon leichter; ich war nicht so vorsichtig und hatte mich außerdem als Arzt ausgegeben, und es brauchte nur festgestellt zu werden, ob ich wirklich Arzt sei. Daher die Konsultation. So kam etwas Spannendes in die Oede des Alltags, und die scharfen Beobachtungen, die wir dem Jüngling von nun an gönnten, wirkten als Nervenreiz. Ich hielt mich ganz frei von der allgemeinen Spitzelkrankheit, und alle Warnungen, auch die ängstlichsten, prallten ab. Schmidt und ich sahen uns den Herrn im Gegenteil zuerst von der nüchternen, praktischen Seite an und entlockten ihm für die allgemeine Kasse nicht nur reichlichen Beitrag, sondern auch Zigaretten usw., die wir zum allgemeinen Besten verauktionierten. Aber die Gespensterfurcht war nicht mehr zu bannen. Einen Moment ergriff mich selber der Wahn, als ich sah, wie sich der eine Kommissär dem Herrn näherte und ihm zuflüsterte: „Nun, sind Sie gut untergekommen?“ Auf meine Frage an Herrn S. erklärte dieser, daß er den Kommissär von früher her kenne. Das war wohl möglich und einfach. Das Einfachste aber glaubten wir natürlich am wenigsten. So wurde der Arme längere Zeit ängstlich gemieden, bis sich der Bann löste.

Er hat unsere Gefangenschaft redlich geteilt, und da er durch die Kenntnis der französischen Sprache oft zum Vermittler gewählt wurde, so bot sich ihm auch Gelegenheit, sich den Gefangenen nützlich zu erweisen; und die hat er ergriffen und sich immer unzweideutig auf unsere Seite gestellt, was man leider nicht von allen sagen konnte, die des Französischen mächtig waren.

 

Das gute Klima und der Ueberschuß an Gesundheit, den wir alle mitbrachten, verhinderte noch damals das Auftreten von Epidemien, wie sie bald in Frioul und später in besonderer Schärfe in Casabianda uns bedrohten. Immerhin gab es Kranke genug. Dr. Heller und ich teilten uns in die Behandlung. Die französischen Aerzte taten nichts für uns. Von dem einen habe ich schon gesprochen; der andere war ein ganz schneidiger Bursche. Um seine tiefwissenschaftliche Art zu kennzeichnen, will ich kurz von seiner ärztlichen Tätigkeit berichten. Die erste Meinung, welche der Menschenfreund äußerte, war, die Brunnen sollten geschlossen werden. Er hielt den Ausschank von Wasser an die „boches“ durchaus für Luxus. Dann schlug er einem im Vorübergehen die Mütze vom Kopf, sagte einem anderen, welcher um die Bewilligung von Decken für die Gefangenen bat, daß Decken für solche Banditen überflüssig seien. Er fand das Essen als Völlerei und schritt nach solchen Vorbereitungen zur ärztlichen Untersuchung. Wie immer gab es einige Harmlose, die ihn wirklich konsultierten. Den ersten, einen alten Herrn mit Blasenkatarrh, fuhr er an: „Sie sind ein Schwein“; dann ertönte sein Kommando: Die Zunge herausstrecken! Aus dem Befund diagnostizierte er mit tödlicher Sicherheit, daß ein Blasenleiden nicht vorliege. Von nun an nahm er sich nicht so ausgedehnte Zeit zu weiterer Untersuchung. Die Patienten mußten schon mit ausgestreckter Zunge herantreten, und da diese meist reinlich war und keine Zeichen von Ueberfütterung des Magens aufwies, so trieb er schnell seine Opfer davon und strich sie aus den Listen der Kranken. Damals stand noch nicht Gefängnis auf solcher Krankmeldung, wie später; aber verdient hätten sie es. So schlug der Herr im Gebiete der Schnelluntersuchung wohl den äußersten Rekord. Ich sah dem tüchtigen Kollegen von der Galerie aus bewundernd zu, und als ich mich auf einen Augenblick in das Zimmer verfügte und wieder heraustrat, war die Diagnose bei zwölf Kranken gestellt. Zu einigen Krätzekranken sagte er: „Ihr seid Wilhelms Söhne!“ Ich habe unter den französischen Aerzten in unserem Lager die besten und die schlechtesten kennengelernt; auch ein Ungeheuer war unter ihnen, dem ich später noch ganze Kapitel widmen muß und das die französische Regierung gern zu den Geisteskranken geworfen hätte. Als später noch Dr. Vosselmann in unser Lager kam, traten wir zu dritt in die Organisation der Krankenbehandlung ein. Sergeant Bonel hatte uns drei Aerzten das Casimirzimmer eingeräumt und den größeren, etwas dunklen Kuppelraum außerhalb des Gefängnisses als Hospital sowie einen kleinen Schuppen am Meere als Infektionsstation übergeben. Das war sehr dankenswert von unserem braven Sergeanten, und da er uns Aerzten noch laissez-passer ausstellte, die Erlaubnis, uns zu jeder Zeit frei auf der Insel zu bewegen, so wurde unsere Lage recht erträglich. Ich bin in den letzten Besprechungen schon der Zeit vorausgeeilt und wende mich zurück zum Tage neuer Einquartierung.

Am 10. September erfuhren wir, daß wir am Abend den Einzug von 130 neuen Gästen zu erwarten hätten. Wir sahen Kommissäre und Offiziere geschäftig hin und her wandern, alle Räume durchstöbern, um zu erkunden, wo ihre Unterbringung möglich wäre. Selbst das Prison des condamnés politiques wurde einer eingehenden, langdauernden Untersuchung unterzogen. Ich habe dieses im Anfang des genaueren geschildert. Kot und Abfälle lagen dort herum; der Raum war dunkel und stank nach Urin und verschimmelten und verdorrten Kadaverteilen. Der Boden war aufgewühlt, staubig, lehmig; jede Berührung des Bodens trieb den bazillengeschwängerten Staub in die Höhe. Daß dort Menschen untergebracht werden sollten, war ja ganz undenkbar. Ein Schweinestall, der monatelang nicht ausgemistet war, erschien palastartig gegen diesen Raum.

Nachmittags hielten wir auf der Galerie Versammlung ab über eventuelle Maßnahmen für den Empfang der neuen Ankömmlinge. Und nun ereignete sich etwas, was in seiner Tragikomik allen unvergeßlich bleiben wird. Es trat als Redner auf Herr Julius Meyer, welcher auch sonst zündend und reichlich lange zu sprechen pflegte. Dieser setzte uns in bewegten Worten auseinander, daß aus den Besichtigungen der unteren Räume, die nun einige Tage hintereinander sich wiederholt hätten, erleuchte, daß diese Räume den Erwarteten als Unterkunft angewiesen werden sollten. Im Namen der Humanität wende er sich gegen die Möglichkeit solcher Maßnahmen. Die Aerzte müßten zugeben, daß ein Wohnen in solchen Räumen Todesgefahr berge (wir gaben das unbedingt zu); im Namen der Humanität fordere er von den beiden Aerzten, daß sie sofort vorstellig würden, dergleichen Ungeheuerlichkeiten zu vermeiden. Im Namen der Humanität fordere er von uns allen, daß wir zusammenstehen, und im Falle, daß die französische Regierung wirklich derart Gefangene unterbringen wollte, auch zusammenrückten und die armen Opfer in unseren Zimmern aufnähmen, und ob wir gleich wie die Heringe zusammengepreßt würden. Im Namen der Humanität. Dixi!

Die Rede war schwung- und wirkungsvoll und verfehlte nicht tiefsten Eindruck. Armer Julius Meyer! Es kommt manchmal so ganz anders, und das Tragische liegt so nahe beim Komischen. Die Wirkung, die die Rede gehabt und die sicher die Bewilligung der geforderten Opfer zur Folge gehabt hätte, wurde zunichte durch den lakonischen Befehl, welcher von draußen zu uns drang: Sämtliche Deutsche haben sofort die oberen Zimmer zu räumen und ziehen in das Prison des condamnés politiques! Die Ankömmlinge übernehmen die oberen Zimmer. – Schluß!

Armer Julius Meyer, wo blieb die Humanität, die dich also beseelte bei den Neuangekommenen?

Und wer den bittersten Schaden hat, soll noch den Spott dazu in Kauf nehmen, das ist harte Bedingung. Den Namen „Humanitätsmeyer“ bist du nie losgeworden, und für uns wirst du ihn bis an dein seliges Ende tragen. Aber doch hast du es gutgemeint.

Also das war der Anfang!

Unsere tüchtigen Seeleute griffen nun ein. Wir erhielten vom Sergeanten Erlaubnis zur gründlichsten Reinigung des Todesraumes. Er versicherte uns mehrfach, wie peinlich ihm die Ausführung des Befehls, der von oben kam, geworden sei. Es wurde tüchtig gearbeitet, alles nach draußen getrieben, während drinnen die Ausräumung des Augiasstalles unternommen wurde. In Haufen wurde der Dreck in den Graben geworfen, der das Kastell umgab. Die Skorpione wurden an einzelne Liebhaber verschenkt; dann wurde gescheuert und gewaschen, bis es schien, daß der Raum bewohnbar sei. Aber unser bemächtigte sich eine tiefe Depression. Wenn das möglich war, wie werden wir Epidemien auf die Dauer fernhalten? Der Sergeant hat uns auch hier geholfen. Er nahm erst einige, dann andere aus dem furchtbaren Raum, erst uns Aerzte, dann die Priester, und später belegte er mehr und mehr den oberen Turmraum. Er hat mir noch einmal wiederholt, wie schwer es ihm geworden sei, dem Befehle zu gehorchen, da er uns höher einschätzte. Es ist das ungefähr das einzige Mal gewesen, daß wir solche Meinung von einem Franzosen gehört haben.

Unsere Gefangenschaft in Château d’If nahte mehr und mehr ihrem Ende, und nur weniges ist noch von ihr zu berichten. – Ich wurde eines Tages zu den Kommissären gerufen. Man bedeutete mir, daß ein großer Korb mit Damenkleidern noch im Lager sei, und man vermeinte, es sei der meinige. Zu meinem Schrecken mußte ich das zugeben. Meine arme Frau wird schön in Verlegenheit gekommen sein! Da sie im letzten Augenblick noch einige Sachen aus dem Reisekorb für mich herausgegeben hatte, war dieser zum Schluß auf dem Ponton geblieben. Mein Entsetzen wurde indes falsch gedeutet, und da ich auf die Frage, wem die Kleider gehörten, antwortete, „meiner Frau und Tochter“, stellte man immer verfänglichere Fragen, ob meine Frau kleiner sei als ich usw. Ich war harmlos genug, immer noch nicht darauf zu verfallen, in welch fürchterlichem Verdacht ich stände, bis der Kommissär mich aufklärte, ob ich denn nicht begriffe, daß ich dadurch in den Verdacht käme, in Frauenkleidern spioniert zu haben. Nein, daran hatte ich nicht gedacht. – Ich weiß von vielen, die um Geringeres an die Wand gestellt wurden. Gut, daß die Kleider mir durchaus nicht paßten. So entging ich meinem Schicksal und trug meiner Frau Kleider auch weiterhin mit uns. Aus verschiedenen Gründen riskierte ich es nicht, sie nach Hause zu schicken.

Das Baden im Meere war uns in letzter Zeit erlaubt, aber das Wetter, das sonst unser einziger guter Freund gewesen war, ließ uns nur einige Male zum vollen Genuß kommen. Immer lauter wurde gemurmelt, daß unsere Tage in Château d’If gezählt seien, und unsere Freude, daß die Freiheit winke, wurde zu ausgelassenem Jubel, als wir eines Tages herausgerufen wurden, der Kommissär uns antreten ließ und mitteilte, daß beide Regierungen einen Austausch der Zivilgefangenen beschlossen hätten, und daß die Sisterleute zuerst in Frage kämen. Dann stellte er an jeden einzeln die Frage, ob er zum Austausch bereit sei, die jeder einzeln, fast schreiend, mit „ja“ beantwortete. Dann waren wir entlassen. Wie die Kinder oder wie die Trunkenen gebärdeten wir uns in unserem Jubel. Ich stürmte herauf, Moritz, der sich krank fühlte und sich hingelegt hatte, die Nachricht zu bringen; aber Bonitz war mir schon zuvorgekommen, und Moritz war im Augenblick gesund. Wir vereinigten uns im Saale der Matrosen, da verteilten wir unsere Kasse, sammelten für die Hinterbliebenen, Rede und Gegenrede wurde gehalten, über all das, was wir gemeinsam und einzeln uns angeschafft, wurde verfügt, Abschied wurde genommen; denn schon drang durch den Kantinenwirt ein neues Gerücht zu uns, daß wir noch heute nacht abgeholt werden sollten, um an die Schweizer Grenze befördert zu werden. Aber die Nacht verging, die viele wachend zugebracht haben, und noch manche Nacht, bis endlich der Tag erschien, da das Gerücht deutlichere Fassung annahm, es geht wirklich fort. Die Kantinenwirtin besorgte sich schon keinen Vorrat mehr, und unsere Koffer standen auf höheren Befehl gepackt. Der Kommissär kam eines Tages, und da wir in unsere Becher die Tage unseres Aufenthaltes in Château d’If eingeschnitzt hatten, fragte er, welchen wir denn als Abschiedstag gesetzt hätten. Wir sahen ihn fragend an, und er erwiderte: „Schreiben Sie getrost den heutigen Tag!“ Nun brach der Jubel von neuem los. So schändlich würde der Mann nicht an uns handeln und unser in dieser Lage spotten! Wir hätten ihm nicht trauen sollen. – Mein Panamahut war am Tage vorher bei kolossalem Sturm von oben aus ins Meer getrieben, und da ich seinen Verlust am nächsten Tage beklagte, trat „mit fröhlichem Gesichte ein Fischer“ vor mich hin und gab ihn mir wieder. Ein Aberglauben hatte manchen von uns stutzig gemacht, und ich stehe nicht an, heute zu bekennen, daß ich als aufgeklärter Mann jedem, auch finsterstem und albernstem Aberglauben mehr traue als dem Wort eines Franzosen. Wir haben darin noch bessere Erfahrungen gemacht.

Der Mann hat zweimal unser gespottet, hier und später in Frioul, und es mit herzlichstem Behagen getan.

Das Schiff kam wirklich, uns fortzuführen, aber nicht in den Hafen von Marseille, sondern am Nachmittag des 20. September in unseren zweiten Kerker nach Frioul.