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Frioul I

 
Und ob das Meer nach Unrat roch,
Und ob sich unsre Fäuste ballten,
Zwang man uns in das gleiche Joch
Mit zweifelwürdigen Gestalten,
Und regnet’s durch manch Mauerloch
Auf Stroh und Decken, durch die Spalten,
 
 
Da in Frioul hat man uns doch
Für Menschen immerhin gehalten.
 

Abends fahren wir in Frioul ein. Geduld! Es kann ja nur noch für wenige Tage sein. Die Kommissäre haben es uns versichert, daß die Austauschverhandlungen noch in vollem Gange seien, und daß es nur wenige Tage noch dauern würde, bis wir zu Hause wären. Und wir wappnen uns mit neuer Geduld und stärken uns mit neuer Hoffnung. Vielleicht werden wir auch nur nach Frioul geschafft, weil wir von da leichter transportiert werden können. Frioul ist Quarantänestation für Marseille. Sei dem wie es wolle, vorläufig landeten wir in einer Bucht der Insel, marschierten auf die andere Seite der Bucht und zogen nach dem Anschauen eines riesigen Kochtopfes mit Linsen, die wir hatten schleppen müssen, von denen wir aber nichts zu essen erhielten, knurrenden Magens in den großen Quarantäneschuppen, dessen Anblick uns erschauern machte. Dreckiger Steinfußboden, Holzwände, die überall schadhaft sind, so daß der Wind durch die Hallen pfeift. Unser Abendessen ist Brot, ein bißchen Wein geben die Soldaten, Stroh und Decken werden verteilt, wir suchen müde einen Platz, der nicht zu sehr von Schmutz strotzt und der auch nur einigermaßen geschützt ist. Aber wo den finden? Der Sergeant hat die Krätzekranken abgesondert, und die haben dadurch den einzigen Platz erhalten, wo pritschenartig einige Holzbetten sich über dem Fußboden erheben. Der Platz ist zu schön und einladend, und ich schlage Moritz und Bonitz vor, wir wollen uns zu den Krätzekranken legen. Ich mußte fast lachen, als ich, wie ich es ja bei dem sonderbaren Vorschlag erwarten konnte, ihre entrüsteten Gesichter sah; aber Not bricht Eisen, und als ich ihnen auseinandersetzte, daß wir hier wenigstens die Krätzemilben sehen oder ihren Aufenthaltsort kennen, die Bakterien am schmutzstarrenden Fußboden und die Ungeziefer aber nicht, daß diese geradeso todsicher da wären wie die Krätzemilben, da wirkten so schlagende Gründe, und sie ergaben sich, wie ich, in das rauhe Kriegsgeschick. Wir nahmen Platz neben den Krätzekranken und baten sie nur, einen Isolierraum zwischen uns zu lassen. So schliefen wir auf hartem Lager, eingewiegt von der einen großen Hoffnung: Morgen ist Sistertag, da wird man uns holen und uns die Freiheit wiedergeben. Nach Deutschland! Schon ist fast ein Monat vergangen, und ewig wird die Gefangenschaft ja nicht dauern. Ja, wenn das da nicht wäre, diese sichere Aussicht, die doch nicht täuschen kann – Gute Nacht, und morgen – !!

Montag! – Es war ein jämmerliches Erwachen am nächsten Morgen. Wie ein Alp drückend legte sich das allmähliche neue Begreifen unserer elenden Lage auf die Brust. Nicht möglich, so kann es nicht fortgehen. Ein Ende muß geschaffen werden! Und wieder stand das Gespenst der Verzweiflung vor uns. Heulender Sturm draußen. Wir wollen heraus, müssen aber wieder zurück. Die „Sister“ kommt nicht, wir sehen nichts von ihr. Vielleicht, daß der Sturm sie zurückgehalten, vielleicht, daß sie in die Bucht von Frioul nicht einlaufen kann. Und wenn sie heute nicht kommen kann, morgen kommt sie gewiß. Was soll sonst aus uns werden? Wie die Versinkenden klammern wir uns an den Halm der Hoffnung. Und dann trifft uns wie ein Schlag die Nachricht: Die „Sister“ hat Marseille schon passiert und ist auf dem Wege nach Genua! – Wer das miterlebt, weiß, was Enttäuschung heißt. Nun klappt im Augenblick alle Energie zusammen, und eine heiße Wut steigt in uns auf angesichts des Viehstalles, in den wir getrieben werden wie die Herde. Aber ich tue dem Viehstall unrecht, wenigstens dem, was wir unter diesem Namen zu Hause verstehen. Da will ich lieber Wohnung aufschlagen als hier. Der Sturm brüllt, hinaus dürfen wir nicht, durch alle Löcher des verfallenen Stalles pfeift der Wind und treibt allen Schmutz auf unser Lager und in unsere Lungen. Schon zeigen sich neue Begleiter, die Wanzen und Läuse, die an uns saugen und knabbern. Skorpione gibt es hier wie in Château d’If. Der Ekel steigt uns in die Kehle. Zu essen gibt es nichts als Kohlsuppe, die wir nicht mehr sehen können. Wir hungern und frieren. Der Kommandant kommt nachmittags und fragt uns, wie wir zufrieden seien. Wir sagen ihm, daß wir hier nicht leben können. Er zuckt die Achseln: „Glauben Sie, daß es die Unsern in Deutschland besser haben?“ Einer erwidert: „Wir wissen es nicht, aber wir wünschen es ihnen.“ Der Kommandant wendet sich ab und fährt in seinem Benzinmotor davon. Leicht hat er sich auch fernerhin seine Aufgabe gemacht. Meist kam er auf Schleichwegen, daß niemand ihn bemerkte, der etwa Beschwerden vorzubringen hatte, und drückte sich ebenso, ehe wir ihn fassen konnten. Wir wandten uns an den Sergeanten und baten ihn um Hilfe. Er ist der einzige, der helfen kann und will, der Mitleid mit uns hat und wie ein Mensch fühlt. Er zeigt mir einen Raum für die Aerzte und Priester. Er soll nur noch gereinigt werden. Das tut auch not. Gut denn, noch einige Tage bei den Krätzekranken. Was hilft’s? „Das ist der Krieg.“ Wir wälzen uns wieder unruhevoll auf unserem harten Lager. Der Unmut hat sich gemehrt, und alle wohl ausnahmslos packt die Furcht: nicht hier krank werden, nicht hier verrecken, ehe wir die Heimat wiedergesehen haben und ihr in etwas nützlich geworden sind. Bleiern lastet die furchtbare Erkenntnis auf uns, daß bald die Würfel über uns geworfen werden; und die Sorge läßt uns nicht mehr, und an ihren Fersen da hinten, da hinten, von ferne, von ferne, da naht er, der Bruder, da naht er, der Tod.

Die Krankheiten mehrten sich. Kaum einer, der sich noch frisch fühlte bei diesem jämmerlichen Lager und dieser ganz unzureichenden Beköstigung. Und der Tod kam; der erste Fall berührte uns weniger, weil er nicht in unserem Lager war. Die Mutter eines unserer Gefangenen, eine ältere Dame, zuckerkrank, die trotz aller Reklamationen nicht freigelassen war, starb im Krankenhaus zu Marseille. Ihr Sohn fuhr zur Beerdigung. Weitere Opfer fielen, und es war unabweisbar, daß unsere Lage die weniger Widerstandsfähigen niederstrecken mußte. Es war ein Hohn, von Hygiene oder sanitären Maßregeln zu sprechen. Zwar tat der brave Sergeant wieder alles, was er konnte, aber sein Können war am Ende. Er gab uns einen Raum als Hospital, und der füllte sich. Da lagen aneinandergereiht Kranke an Tuberkulose (Kehlkopf-, Lungen- und Darmtuberkulose), an Disenterie und an Fiebern, die mit unseren unzulänglichen Mitteln nicht zu diagnostizieren waren, von denen wir aber in einigen gastrischen schon den typhösen Charakter vermuteten. Wie sollten wir uns gegen die Verbreitung des Typhus wehren? Wir hatten recht vermutet, neben der Dysenterie oder etwa nach ihrem Erlöschen mehrten sich die Fälle des Abdominaltyphus.

Sehr gering waren die Erkältungen. Unser Sergeant gab uns viel Freiheit. Wir durften eigentlich immer draußen sein. Das Wetter war in Château d’If meist schön, in Frioul kalt, oft regnerisch und stürmisch, aber doch so, daß ein klimatisch heilsamer Einfluß auf die Lungen ein Gegengewicht bot gegen den gefährlichen Aufenthalt im Schuppen. Der Himmel war für uns. Was aus uns in einem rauhen Klima geworden wäre, mag ich nicht ausdenken. Der Platz, welcher uns als Aufenthalt zur Verfügung gestellt war, war reichlich groß, wir konnten spazierengehen und uns auch von den anderen absondern, wir waren nicht immer aneinandergekettet. Der Sergeant, der der einzige Gebietende war (den Kommandanten sah man einmal täglich, meist auf der Flucht), gab uns auch die Erlaubnis zum Angeln. Das taten wir reichlich, es war unser einziger Zeitvertreib; denn Bücher waren damals nur wenige im Lager, und andere Beschäftigung, welche uns hätte ausfüllen und die schwarzen Gedanken hätte vertreiben können, fehlte. So angelten wir, und wenn der Fisch biß, lenkte er die Gedanken ab. Es war dadurch noch ein anderer Vorteil erreicht, oder er hätte erreicht werden können, der einer besseren Ernährung. Das war freilich illusorisch, denn unser Angelplatz war dicht neben den Aborten, die den Unrat von vielen hundert Gefangenen auf direktestem Wege nach guten Zielversuchen ins Wasser führten, und den Aborten zunächst wurden die fettesten der kleinen Fische geangelt. Da das Buch, soweit das möglich ist, es sich zur Aufgabe gemacht hat, ästhetisch zu bleiben, so übergehe ich das Kapitel „Abortwesen“ ganz. Ich will nur bemerken, daß in der langen Gefangenschaft in ganz kühnen Träumen uns etwas von einem W. C. vorschwebte, auf dem man regelrecht Platz nehmen könnte. Wenn wir uns trotzdem im Anfang Fische brieten, um den Hunger zu stillen (wir haben ja auch bei Krätzekranken gelegen, um Schlaf zu finden), so erfaßte uns doch bald ein unbeschreiblicher Ekel davor, und auch die anfangs viel belobten Polypensuppen fanden keinen Beifall mehr, und der Ekel erstreckte sich immer weiter. Wir mochten das Meer nicht mehr sehen. Das schwamm voller Unrat. Nicht mehr baden, das war ganz unmöglich geworden; wir mochten auch nicht mehr am Wasser vor dem Schuppen uns aufhalten, denn da stank es, und es stank bis zum Schuppen hinein, und es stank in der Kantine, die direkt den Aborten gegenüberlag, fünf Schritt davon entfernt.

Die Ernährung, die bei jedem Oekonomenwechsel mit Pomp als „nun endlich besser“ verkündet und die ersten zwei Tage wirklich so verabfolgt wurde, blieb unglaublich schlecht und wurde immer schlechter. Alle Vorstellungen, auch die Beschwerden des Sergeanten, halfen nichts. Als mir einmal der Kommandant nicht entgehen konnte (ich hatte ihm auf der Lauer gelegen) und ich ihm als Beweis schädlicher Ernährung ein durch und durch verschimmeltes Brot zeigte, versprach er, die Sache zu untersuchen und steckte sogar das Corpus delicti ein. Aber er hat wohl zu gründlich untersucht, denn ich sah ihn in den nächsten Tagen nicht wieder. Aber die Leute hungerten, und die Stimmung der Gefangenen wurde mehr und mehr gereizt.

 

Eines Abends kam ein Militärarzt aus Marseille in unser Lager, der sich recht eingehend nach allem erkundigte. Da er deutsch sprach, so konnte ich ihm besser als sonst die Beschwerden vortragen, die er freundlich anhörte. Ich sagte ihm, daß, wenn die Ernährung so weiterginge, man uns einen doppelten Raum anweisen müsse, unsere Kranken unterzubringen. Ich stellte ihm vor, daß, abgesehen von der geringen Menge der Nahrung, die Suppen zum Teil ekelerregend seien, daß wir nur alle drei Tage ein Stückchen Fleisch, oft ganz ungenießbar, erhielten, daß die Darmkrankheiten sich erheblich mehrten, und daß auch die Schaden litten, welche Mittel hätten, sich einiges in der Kantine zu kaufen. Er antwortete mir höflich und fast herzlich, daß es durchaus nicht die Absicht der Franzosen sei, deutsche Gefangene Schaden nehmen zu lassen, er wolle alles tun, um dem zu steuern. Dann reichte er mir die Hand, und das Fauchen des Benzinmotors kündete mir, daß wieder einmal jemand froh war, einer immerhin peinlichen Situation glücklich entronnen zu sein. Geändert hat sich durch den Besuch nichts, und wir lernten wieder einmal erfahren, daß das durchaus nicht der Zweck derartiger Besuche war. Wie gesagt, eine gewisse Besserung lag darin, daß wir uns einiges, auch Wein, in der Kantine kaufen konnten. Abgesehen davon, daß das nur diejenigen begünstigte, die Geld hatten, war auch der Raum so schmutzig, häßlich und ungemütlich, daß wir, wenn möglich, ihn mieden. Zudem war die Kantine in den Stunden, wo sie geöffnet war, so überfüllt, daß man warten mußte, um Platz zu bekommen, und – last not least – die Düfte…

Wein war damals noch unbeschränkt erlaubt, und das war auch nicht gut. Die Folgen waren schlimme und sind es lange geblieben.

Frioul, 2. Okt. 1914.

Meine liebe Armgard!

Du glaubst nicht, wie quälend es ist, Dir schreiben zu müssen und noch dazu in französischer Sprache, wie es anfangs war, „je me trouve assez bien“. Ich habe nie gelogen, wenn ich Dir schrieb oder sprach, und wir waren gewohnt, mehr auszutauschen als die gewöhnlichen Erlebnisse des Alltags. Da will ich mich trösten mit Briefen, die Dich nicht erreichen und Dich nicht erreichen sollen, die, wenn ich hier falle – ich darf getrost den stolzen Ausdruck gebrauchen – Dir überbracht werden mit meinem Tagebuche, und die, wenn ich gesund die Heimat erreiche, ich Dir selber vorlesen werde. Ein anderes ist noch möglich, daß man mir das, was mir das Liebste in der unwürdigen Gefangenschaft geworden ist, fortnimmt. Ich hüte meine Blätter wie ein Heiligtum, aber wer steht für das Ende, das sie, das ich finde? – Wir sind erst 40 Tage in Gefangenschaft, und jeder Tag, wenn er auch dasselbe Gesicht zeigt, bringt etwas Neues, und das Neue überholt das Erlebte des vorigen Tages und läßt die Zukunft uns dunkler und dunkler erscheinen. Ich meine unsere Zukunft, denn auf den endgültigen Sieg unseres Heeres und unserer Marine baue ich so felsenfest, wie ich von je darauf gebaut habe. Darin machen mich die hämischen Bemerkungen unserer Wärter nicht irre. Wir dürfen keine Zeitungen lesen, und das ist wohl gut. Eins fürchte ich, und wohl jeder von uns, hier zu verrecken, ehe wir etwas für unsere Heimat getan haben. So ganz ruhmlos möchte ich nicht aus diesem Kriege hervorgehen, und daß ich noch nichts habe tun können, schmerzt mich am meisten. Darum hatte ich der französischen Regierung den Vorschlag machen wollen, mich anzustellen, mit der Bedingung, daß ich in Gefangenenlagern vorzugsweise meine Landsleute behandeln dürfte, wenn möglich verwundete Soldaten. Das ist abgeschlagen, aber nun wird es in gewisser Weise in Erfüllung gehen, denn Krankheiten mehren sich in unserem Lager und die Zahl der Gefangenen. Aber wie sollen wir behandeln? Uns steht ja kein Medikament, kein Bett, kein Verbandstoff zur Verfügung. Kranken nur Trost zusprechen, wo man selber keinen Trost findet, ist ein nichtig Ding. Sie glauben uns nicht, weil wir auch nicht glauben. So greift die Verzweiflung mehr und mehr um sich, und der Verzweiflung entspringt der wilde Plan der Selbsthilfe. Darum, wenn wir den Krankheiten entgehen – und wir werden es durchaus nicht alle, das ist sicher – , so wird jedes Opfer unwürdiger Verhältnisse, jeder weitere hämische Uebermut unserer Gefangenenwärter uns mehr und mehr zum Widerstande reizen, und dem Kriegsgesetze, das scharf ist und scharf sein muß, unterstehen wir.

Darin liegt die größte Gefahr, in der Auflehnung.

Ich kann nicht dauernd den Korporalston vertragen, ich kann es nicht hören, wenn einem an Dysenterie Kranken, der zu unerlaubter Zeit den Abort aufsuchen muß, wie ich es neulich hörte, zugerufen wird: „S’il ne peut pas attendre, qu’il peut sortir, qu’il se merde dans son pantalon!“ Es sind so viele gebildete Männer unter uns, die derlei nicht gewöhnt sind. Ich nehme mir täglich wieder vor, über meine Lage hinwegzusehen und das Empfinden dagegen abzustumpfen, daß ich der Willkür irgendeines rohen Burschen ausgesetzt bin, der sein Mütchen an mir kühlen will, dem „boche“, den er nur im Felde fürchtet. Und wenn ich mich auch vielleicht für mich gewöhnen würde, werde ich es für andere, oder werden sie es für sich können? Ich weiß, Ihr fürchtet in demselben Sinne für mich, weil Ihr mich kennt und auch meine Freundschaft für die Franzosen. Neulich hätte es beinahe eine zweite Tragödie, wie auf unserer Reise nach Marseille, gegeben und mit ernsteren Folgen.

Oekonomen kommen und gehen. Jeder treibt es, solange man wucherische Uebervorteilung hinnimmt, und solange sie nicht Rand und Band überschreitet. Geschieht das, so kommt ein neuer und treibt es wieder so weit, bis ein neuer ihn ablösen muß.

Wir hatten wieder unsere Kohlsuppe, nachmittags war uns auf unsere Beschwerde hin Fleisch versprochen, und es gab auch Fleisch, so hart und zähe wie Leder, ungenießbar. Ich trat vor, reklamierte in schlechtestem Französisch, aber mit deutlicher Zeichensprache, und warf dem Oekonomen das Fleisch vor die Füße. Der wollte den Koch verantwortlich machen, bis der ihm seinen Kochlöffel vor die Füße warf. Die Stimmung war böse, da trat der Sergeant, vom Korporal gerufen, herzu. In anderen Lagern war mir Gefängnis sicher, aber der trat, wie immer, auf unsere Seite und wieder wurde ein Oekonom entfernt.

Heute, liebste Armgard, ist unserer kleinen Renate Geburtstag und ich habe ihn würdig unserer Lage gefeiert. Ich geleitete einen armen kleinen Kriegsgefangenen, das achtjährige Töchterchen des Notars Lützerer, zu Grabe. Er sowohl wie seine Frau und sein einziges Kind waren Gefangene und hierhertransportiert. Die Mutter hat mir eine jämmerliche Beschreibung des Transportes gegeben. Das arme Kind war tagelang ohne Nahrung geblieben, einige fette Suppen ausgenommen, die der schwache Magen nicht vertrug. Schmutziges Wasser diente als Getränk. So erkrankte es schwer, und alle Medikamente im Hospital zu Frioul nutzten dem armen Wurm nichts. 40 von unserem Lager waren abgeordnet zur Leichenfolge, darunter ich, 40 vom Frauenlager in Frioul. Wir trafen uns vor dem Hospital. Ein Bierkarren stand vor dem Fenster, aus dem der Sarg des armen Opfers gehoben und aufgeladen wurde. Du kannst Dir nicht denken, wie uns zumute war. Es war ein jämmerliches, klägliches Schauspiel, und die armen Eltern, die so ihr Einziges hergeben mußten, waren fast die Mutigsten unter uns. So brachten wir den armen kleinen Körper, der die Kraft nicht mehr gehabt hatte, so rauher Kriegsbehandlung zu widerstehen, auf den Friedhof. Der Sergeant ließ die Posten präsentieren. Das ist später nicht wieder geschehen. Die Priester gingen voran, dann der Wagen, mit vielen Blumen geschmückt, dann die Eltern und das übrige Gefolge zur Seite, in gleichem Abstand französische Bajonette. Der französische Pfarrer segnete die Leiche ein, dann wurde der Sarg auf dem Friedhof versenkt. – Friedhof! – ein ödes, von Gestein und Unkraut umwuchertes Stückchen Land, das den ersten Toten aufnahm. Pater Kaspar sprach wenige, aber so herzliche und erschütternde Worte am Sarge, daß jedes Auge voller Tränen stand.

Waren wir so unmännlich empfindsam geworden oder lag tiefe Tragik in diesem Schauspiel? Ich glaube, beides. Wir werden uns an Leichenbegängnisse gewöhnen müssen, um härter zu werden. Dafür ist gesorgt und wird weiter gesorgt werden. Morgen sind zwei Beerdigungen, eine eines elsässischen Bürgermeisters, der in unserem Krankenzimmer an Kehlkopftuberkulose elend zugrunde gegangen ist, die andere eines acht Monate alten kriegsgefangenen Kindes, das dem Hunger erlegen ist. Ich wurde zuletzt noch hinzugerufen und ließ dem armen Wurm ut aliquid fiat etwas warmen Tee mit einigen Tropfen Kognak einträufeln; es starb kurze Zeit darauf. Ich werde nicht mehr folgen, es ist nicht gut, daß derartige Stimmungen überhandnehmen; ich will versuchen, ihrer Herr zu werden. – Wenn wir zur Heimat dürften! Täglich und immer wieder tauchen Gerüchte der Auslieferung oder des Austausches auf, und immer wieder sind wir die Genarrten. Das reißt an unseren Nerven. Und in welcher Gesellschaft leben wir? Frankreich hat alles aufgelesen, wessen es habhaft werden konnte, und die neuen Gefangenen bieten oft wunderbaren Anblick. Da ist einer, halb verrückt. Wir nennen ihn Ravachol. Einige Spaßvögel haben ihn heute frisiert und rasiert – ein gefährliches Wagestück, er war völlig verlaust – dann mit Lackstiefeln, Stehkragen und schwarzem Rock bekleidet, so stolzierte der Narr grinsend einher, ein widerlicher Anblick.

Einer von uns, ein braver Kerl, er gab sich als Schweizer aus, hat heute nacht ein Boot genommen und ist ausgerissen. Unsere Lage hat er erschwert, aber wir wünschen ihm von Herzen, daß er durchkomme.

Ich will auf meine Lagerstätte, liebste Armgard, und hoffe, nach üblicher Wanzenjagd Ruhe zu finden. Grüße mir die Kinder, ich will ihnen viel erzählen, wenn ich wiederkomme. Bleibe nur fein geduldig!

Max.

Frioul II

Der Stationsarzt in Frioul war der Médecin-Major Gros, ein Herr, welcher der schweren Situation gewachsen war, wie vor ihm und nach ihm kein anderer. Unter ihm stand noch, durchaus minderwertig, Herr Dr. Michel als Assistenzarzt. Von deutschen Aerzten waren auf der Insel: Sanitätsrat Dr. Spindler (Elsaß), Dr. Berger (Els.), Dr. Vösselmann (Els.), Dr. Heller (Oesterreicher) und ich, von Gefangenen 1200–1300 Männer, etwa 250 Frauen und ebensoviel Kinder. Eine Lösung der ärztlichen Frage mußte also gefunden werden.

Die Frauen und Kinder lebten von uns etwa zwanzig Minuten entfernt in einem Kasernement auf einer Anhöhe der Insel. Es war schon des öfteren gemunkelt worden, daß Dr. Gros die Baracken an einem Vorsprung der Insel instand setzen ließe und beabsichtige, die Arbeit unter französische und deutsche Aerzte zu teilen. Das wurde mit großer Freude von uns begrüßt; aber wenn wir auch die Botschaft hörten, der Glaube fehlte uns. Eines Tages, es war am 5. Oktober, wir hatten gerade wieder einen der lächerlichen Aufzüge neuer Kriegsgefangener bewundert (Männer, die leere Kinderwagen vor sich herschoben), kam an uns die Aufforderung vom Médecin-Major, wir möchten uns zu einer Besprechung einfinden, und zwar am nächsten Tage bei den Baracken. Dort empfing uns zur festgesetzten Stunde Dr. Michel, völlig kollegial, er hatte sogar seine Freude daran, uns mit einigen Ferngläsern zu zeigen, wie gerade ein deutsches Handelsschiff von einem Torpedo eingebracht wurde, und knüpfte daran etwa die sinnbildliche Betrachtung vom Untergange des heiligen deutschen Reiches. Derlei waren wir gewohnt. Wichtiger war es uns, daß er uns die Baracken zeigte, die zwar noch nicht ganz fertig, aber doch schon etwa bewohnbar waren, sagte, daß Dr. Gros eine Teilung beabsichtige, etwa so: einer von uns solle die innere Station, ein anderer die äußere, ein dritter den Revierdienst und endlich der vierte die Frauenstation übernehmen. In der letzteren sei die Kenntnis der französischen Sprache notwendig. Herr Dr. Gros behielt sich das Hospital, welches neben unserem Schuppen lag, und in welchem die beiden Kinder gestorben waren, sowie die Aufsicht über die anderen Stationen vor, da er die Verantwortung für das Ganze trage. Wir möchten uns alles überlegen und am nächsten Mittag mit Dr. Gros alles selber besprechen. So schieden wir in recht gehobener Stimmung. Ein laisser-passer für die Insel wurde uns sogleich ausgestellt, auch die Erlaubnis, im Kasino zu essen und jederzeit zu verkehren. Ebenso wurde uns vier Aerzten, außer Sanitätsrat Dr. Spindler, der als Kranker im Hospital lag und somit von der offiziellen Behandlung ausschied, in den Baracken je ein kleines Zimmer mit Bett – Gedanke voller Majestät! – zugewiesen.

 

Wir vereinigten uns mit unserer neuen Erlaubnis in der Kantine und schwelgten einmal in recht gutem Essen mit Bier und Wein, froh, daß wir endlich in unserem Beruf angestellt waren.

Inzwischen übernahmen wir provisorisch die einzelnen Schuppen. Am Abend schickte Dr. Gros reichliche Mengen Lymphe, und ich impfte mit Dr. Spindler in zwei Tagen mehr als 1000 Mann gegen die Pocken. Gegen Typhus wurde im Lager nicht geimpft, wenngleich die ersten verdächtigen Fälle schon zu verzeichnen waren. Am nächsten Tage bestimmte Dr. Gros für die äußere Station Dr. Heller, für die innere Station Dr. Vösselmann, mich für den Außendienst, und Dr. Berger, der perfekt Französisch sprach, für die Frauenstation.

So froh wir waren, eine Enttäuschung war es doch für mich, von der Frauenstation versprach ich mir den besten Erfolg, denn was mir von da berichtet war, erschien mir recht trostlos.

Frioul, 10. 10., abends 9½ Uhr.

Liebste Armgard!

Nun hat sich wieder alles so eigenartig verändert, der Ekel und Widerwille ist gemildert. Eben verläßt mich Herr Geißler, der zugleich mit Herrn Schülke uns als Krankenpfleger zugeteilt ist, und der Kollege Berger. Sie gehen aus „meinem Zimmer“, einer Bude von 3 mal 2½ Meter, aber es ist doch mein Zimmer, und ich habe es mir blutsauer verdient. Ich bin also doch ausgezogen aus dem Stall, in dem wir auf Steinfußboden, immer zwei zu zwei auf einer Matratze nebeneinander, eingepfercht zwischen anständigen Menschen und einem widerlichen Gesindel, der Kälte, dem Winde, dem Ungeziefer, Krankheit und Tod preisgegeben waren. Ich sitze vor Deinem Kleiderkorb, der mir als Tisch dient, auf meinem Koffer und schreibe Dir. Eine Stearinkerze, die ich mir für 15 Cts. gekauft, erleuchtet festlich mein Zimmer. Eine Flasche Wein steht vor mir, und ich rauche eine gute Pfeife. Ja, liebe Alte, man kann mit wenigem nicht nur zufrieden sein, sondern sich sogar mehr daran freuen, als man sich an vielem je freute. Mein Bett hat eine Matratze aus Stroh, aber sie erscheint mir köstlicher als die beste Sprungfedermatratze, und das eiserne Bettgestell kommt mir luxuriös vor, denn es ist ein wirkliches Bettgestell, das vermutlich nicht einmal Wanzen birgt; doch ich will nicht unbescheiden sein, das werden die nächsten Nächte schon lehren. Die paar Flöhe in Decke und Stroh sollen meine gute Laune nicht trüben. Heute war der große Umzug in die Baracken, die so schlecht gebaut sind, daß ein Sturm sie aufheben kann. Ich habe mein Zimmer mit einigen Arbeitern wieder zurechtgezimmert, und nun steht es gerade. Vielleicht hält die Bude, solange ich halte. Wir sind also, um mich großsprecherisch auszudrücken, menschlich untergebracht.

Aber das gilt leider nur von uns vier Aerzten, den Krankenpflegern und den Kranken. Die anderen, auch Moritz, Bonitz, Schmidt, Dr. Bayer und die übrigen Geistlichen und verwöhnten Herren hausen da in dem Stalle weiter, wo der Regen nachts auf ihr Strohlager träufelt, und verzweifeln. Die Krankheiten mehren sich, und es heißt, man habe in Marseille beschlossen, das Gefangenenlager Frioul als solches zu räumen. Daran knüpfen sich wieder vage Hoffnungen, deren Endziel ist: „Nach Hause“. Seit ich wieder eine geordnete Tätigkeit habe, kann ich viel ruhigeren Blutes alle solchen Gerüchte aufnehmen. Vielleicht ist, hier im Lager viel zu leisten und die Aufgabe dankbar.

Aus unserer Insel sind zugleich – natürlich getrennt von uns – die gefangenen Frauen und Kinder untergebracht. Ich habe bisher einige von ihnen bei der Beerdigung des Lützererschen Kindes gesehen, und Frau Lützerer, deren Mann gleichfalls an schwerer Dysenterie im Hospital liegt, sehe ich täglich am Krankenlager. Es steht nicht gut mit ihm. – Einige von den Frauen haben ihre Männer hier im Lager, welche sie von Zeit zu Zeit besuchen dürfen. Sie berichten recht Trauriges, wenn sie auch wenig Einblick in das Lager haben können. Es war mein Wunsch gewesen, diese Station zu bekommen. Der Médecin-Major, welcher die Einteilung vornahm, wählte dafür Dr. Berger, weil er fertig Französisch spricht und ich nicht. Zu meiner großen Freude hat er das heute widerrufen und mir die Station gegeben. Er bat mich, morgen auf der Station den ersten Besuch zu machen und gab mir ein Schreiben an den maréchal des quartiers mit, des Inhalts, der maréchal möchte mich auf der Station einführen und der französischsprechenden Krankenpflegerin, Mme. Vogl, vorstellen, ich würde dann noch nach eigener Wahl eine deutschsprechende Dame beauftragen, zugleich mit Mme. Vogl unter meiner Leitung die Krankenpflege zu übernehmen. So, liebste Armgard, nun will ich auch den äußeren Menschen wandeln. Ich rasiere mich und trage den häßlichen Vollbart ab, der Dir immer so besonders mißfiel, dann packe ich die Koffer aus und lege mir neue gestärkte Wäsche zurecht, um alles abzulegen, was an unser Sträflingtum erinnert. Ich habe ja nun eine relative Freiheit gewonnen und darf mich auf der ganzen Insel, wann und wo und wie ich will, bewegen. Morgen schreibe ich weiter. Gute Nacht!

Sonntag, den 11. 10., abends 11 Uhr! Kollege Berger nahm eben einen Abendschoppen bei mir. Wir werden unsolide. Mein neues Zimmer wird täglich einladender. Eine Kiste gibt eine Art Waschtisch, eine andere größere einen pompösen Schreibtisch. Als Stuhl dient mir die Bettkante, und Besucher setzen sich entweder auf die Bettkante oder nehmen je nach Gefallen auf dem Waschtische oder dem Schreibtische Platz. Die Franzosen fangen an, uns ernstlich zu verwöhnen. Es war ein eigenartiger Tag heute. Wie gesagt, meine Toilette machte ich wie in alten Tagen, um den traurigen Menschen der letzten Zeit abzustreifen und hatte etwa zwei Stunden dazu nötig, was sonst nicht mein Fall ist. Dann war es acht Uhr geworden, und ich machte mich auf. Ich schreite gleich hinter den Baracken auf den Bergweg und genieße einen wunderbaren Morgenspaziergang. In Bergwindungen und Buchten führt der Weg, der die schöne Aussicht auf das Meer, Marseille und die anderen Inseln freigibt, bis herauf zur Bergeshöhe, einem eigenartigen, kasernenartigen Gebäudekomplex, der die gefangenen Frauen und Kinder einschließt. Es war ein Spaziergang von etwa zwanzig Minuten, der mich wunderbar zu neuer Tätigkeit stärkte.

Oben auf der Station angelangt, ließ ich mir den maréchal rufen und gab ihm den Brief des Majors. Er stellte mich der Mme. Vogl vor, einer hübschen Französin, Gattin eines Deutschen in Paris, welcher mit uns das Gefangenenlager teilte. Sie hatte bisher die Krankenpflege allein geleistet. Dann wählte ich mir als deutsche Pflegerin Frl. Schnell, urdeutsch, eine Dame, welche zu unseliger Zeit ihren Bruder in Paris besucht hatte und nun diesen Wagemut mit Gefängnis büßte. Sie wohnte oben mit der Frau Schnell, und der Bruder teilte unser Lager. Sie nahm sich mit großem Geschick der Pflege an, und Arbeit gab es in Hülle und Fülle.

Ich machte meinen ersten Besuch durch die verschiedenen Räume. Es waren ungefähr 250 Frauen und ebensoviel Kinder dort. Und in welcher Ordnung und in welchem Zustande?!

Da waren zuerst die Damen, welche, soweit das möglich war, sich etwas abgesondert hatten, dann Frauen aus dem Volke, fast alle Elsässerinnen, endlich Weiber verschiedenen Ranges, verschiedenen Alters und verschiedenen Wertes. Dieses Durcheinander! Ich habe anständige Mädchen und Frauen zusammen in einem Zimmer mit Freudenmädchen interniert gesehen, und versucht, da zu helfen; andere, Gesunde, mit Krätzekranken, die später auch infiziert wurden. Ich sah in einem Zimmer eine Mutter (Elsässerin) mit acht Kindern. Das Zimmer war, deutsch gesprochen, ein Schweinestall. Die Kinder verrichteten ihre Notdurft in das Stroh, und nur die 17jährige Schwester versuchte, die äußerste Reinlichkeit aufrechtzuerhalten, wusch sogar bisweilen die Geschwister. Die Fenster waren geschlossen, und es stank pestartig. Die Mutter ertrug blöde ihr Los, unfähig zu helfen. Ich entsetzte mich wahrhaftig. Auch andere Zimmer zeigten mir, wie furchtbar solche Frauen in der Gefangenschaft hausten. Eine Sorge für die Kinder fand ich wohl hier und da, bei einigen Frauen sogar ausgesprochen peinlich. Manche Zimmer waren auf das korrekteste gehalten, zum Teil sogar gemütlich gestaltet, was recht schwer war, der Durchschnitt war aber entsetzen- und mitleiderregend. Als ich noch in einem dunklen Loch eine Menge Zigeunerweiber mit Kindern in eklem Schmutz fand, da bat ich den Maréchal, blasen zu lassen. Alle Kinder sollten heraustreten. Das habe ich von nun an täglich beibehalten. Immer, wenn ich auf Station war, mußten die armen Würmer an die Luft. Und was sah ich da! Unter einigen frisch gewaschenen, spielenden und fröhlichen Kindern weitaus die größere Zahl blasse, abgehärmte Gestalten, deren Jugend und Vernachlässigung in Pflege und Ernährung es mir klarmachte, daß hier der Tod fürchterliche Musterung halten würde, wenn nicht schleunigst Abhilfe geschaffen würde. Ich ging nun mit den beiden Damen ernstlich zu Rate, auch mit dem Maréchal, der wohl nicht mit Unrecht alle Schuld auf die Mütter schob. Von den Kindern litten so viele an unstillbaren Durchfällen. Die schweren Bohnen, in Fett gekocht, konnten die Jammergestalten nicht vertragen, und wunderbarerweise gab es gerade auf der Frauenstation weit konsistentere Nahrung. Milch und Milchsuppen gab es nicht, Hautkrankheiten grassierten, Läuse und Ungeziefer gab es überall, Krätze hatte sich unerbittlich fest eingenistet. Noch einmal versuchte ich, mit den beiden Damen auf einzelne Frauen einzureden, aber die Worte schlugen an taube Ohren. Die Gleichgültigkeit ist vollkommen: „Hier haben es die Kinder wenigstens warm, da draußen frieren sie und erkälten sich.“ – Es ist ihnen alles gleich, ob sie mit ihren Kindern verkümmern oder nicht. Wo ihre Männer sind, wissen sie nicht, Nachricht haben sie nicht erhalten, Hab und Gut ist zerstört, nun mag die Sintflut einbrechen. Was nützt es, gegen den Stachel zu löcken? Sie kommen mir vor wie die Armen, die im Schnee verirrt die Energie zum Weiterschreiten verlieren und das kalte Totenlaken begrüßen. Ein Elend ohne Ende; so hatte ich es in seiner ganzen Nacktheit nicht erwartet.

Das war der erste erschütternde Eindruck, den ich von dem Lager der gefangenen Frauen in Frioul hatte. Wie bitter not tat hier Hilfe! Ich wählte mir nun einen Raum zur Sprechstunde. Der Maréchal stellte mir liebenswürdigerweise eine große helle Glashalle zur Verfügung, und wir begannen nach dem Krankenbesuche die Sprechstunde.

Ich verließ recht gedrückt die Station, aber doch wieder glücklich, daß ich hier eine große Aufgabe zu erfüllen hatte. Der Major hatte mir völlige Freiheit in der Behandlung und Pflege gelassen, auch Medikamente standen zur Verfügung. Aber welche Medikamente wirken bei Verhungernden? Opium gegen Brechdurchfall, Tannin oder Wismut? Hier mußte der Unterernährung gesteuert werden, und Milch, Reis, Grieß, Sago und weiße Semmel erschienen mir die einzigen Heilmittel. – Ich ging auf dem herrlichen Wege zurück zu den Baracken, und da ich zur allgemeinen Suppe zu spät kam, aß ich im Kasino und besuchte die anderen Lager der Deutschen. Gewiß, das Elend war dort auch groß; aber man sah doch Männer, die so viel Energie bewahrten, den Kampf aufzunehmen.

Zum Kriegführen gehört bekanntlich Geld und dreimal Geld, und um Notleidenden in Kriegsgefangenschaft zu helfen ebenso. Ich wandte mich zuerst an einige Herren, die im Kasino täglich zweimal ein großes Essen zu sich nahmen und sich selber wenigstens tadellos pflegten. Auf meine Bitte, mir oder vielmehr den armen Kindern zu helfen, erhielt ich zur Antwort, das sei Sache des französischen Staates. Aber dafür konnte ich den Würmern nichts kaufen. – Ein Bote kam und rief mich von da ab wieder zur Frauenstation. Ein Kind, blaß und elend, ließ unter sich und krümmte sich vor Bauchschmerzen. Kann ich ihm helfen?

Ich suchte abends das Lager der Deutschen auf, und da fand ich Mitleid. Herr Schnell war der erste, der reichlich gab, dann die Herren Vogl, Silberberg, Moritz und Leonhardt. Keiner, den ich darum anging, versagte mir die Hilfe. Dann wandte ich mich an unsere Sisterleute und berief sie zur Versammlung. Ich brauchte ihnen nur zu sagen, daß oben deutsche Kinder hungern, und erhielt nicht zur Antwort, daß die französische Regierung für die Kinder zu sorgen hätte, sondern ich hatte kaum ausgesprochen, als auch schon der Antrag gestellt wurde, die halbe Sisterkasse, und dann die ganze, mir zur Verfügung zu stellen. Als ich erklärte, es genüge vorläufig die halbe Kasse, wurde einstimmig dies als Antrag angenommen. Später sollte ich mehr haben, wenn ich forderte. Auch erbot sich jeder einzelne zu freiwilligen weiteren Beiträgen. Auch die Matrosen kamen zu mir und stellten mir den Inhalt der Matrosenkasse zur Verfügung. In der Kantine bestellte ich für morgen fünf Liter frische Milch, Tapioka, Grieß, Eier und weißes Brot. Morgen wird Suppe gekocht. – und damit gute Nacht.

Max.

Frioul, Mittwoch, den 14. 10., abends 8 Uhr.

Liebste Armgard!

 
Ach, wenn in unsrer dunklen Zelle
Die Lampe freundlich wieder brennt,
Dann wird’s auch in dem Busen helle,
Im Herzen, das sich selber kennt.
 

Ich erlebe und erlebe, und die Eindrücke sind so traurig und erschütternd. Allein das sehen, wie die verhärmten Kinder unbewußt Hilfe suchen gegen ihre stupiden Mütter, und dann die männlichen Gefangenen, deren Lager durchnäßt ist vom ewigen Regen, die erkältet sind und verzweifeln! – Es kommt mir fast wie ein Unrecht gegen die Kameraden vor, daß ich es nun soviel besser habe seit wenigen Tagen. Um wieviel besser! Nicht nur, daß ich meine kleine Holzbude für mich besitze und meine eingedeckte Strohmatratze auf Holzgestell, ich habe zu tun und kann so den bösen Gedanken wehren. Die anderen klammern sich an die Hoffnung, daß wir bald von Frioul fortkommen, nach Hause oder in ein anderes Lager, gleichviel, nur fort von hier. Und ich habe das Gefühl, daß ich Deserteur wäre, wenn ich die da oben verlasse, wo sie mich doch so nötig haben. Unsere Baracken sind schön gelegen, und ich versuche bisweilen, einige der anderen durch die Posten mit meinem laissez-passer durchzuschmuggeln. Das geht manchmal glatt, wenn die Posten gutmütig, manchmal nicht, wenn sie bösartig sind. Gestern nahm ich fünf Herren mit mir. Der Posten rief uns an. Ich zeigte mein laissez-passer. – Er: „Ja, Sie kenne ich; aber die anderen dürfen nicht durch.“ Ich bedeutete ihm, daß sie dazu da wären, Medikamente und Milch zu tragen. Da lachte er: „Fünf Mann zum Milchtragen?“ und ließ uns durch. Herrn Schnell, der seine Frau besuchen wollte, gab ich eine Terpentinflasche und ein laissez-passer „mit Medikamenten“. Unglücklicherweise war gerade oben Revision; er wurde zwar durchgelassen, mir aber bedeutet, ich möchte doch kein laissez-passer mehr ausstellen.

Doch nun zum Bericht:

Also am Montag kam ich zur Station und erzählte Frl. Schnell von dem guten Erfolg, den ich gehabt und der bewiesen wurde durch einen großen Korb mit Lebensmitteln, in dem sich auch noch gute Schokolade befand. Dann ließ ich alle Kinder herunterrufen und warten, damit sie die frische Luft genossen. Der Maréchal stellte uns die Küche zum Suppenkochen zur Verfügung. Ich bat die Damen zur Besprechung, und drei von ihnen erklärten sich bereit, die Suppe zu kochen, Frl. Brunswich, die Besorgungen in der Kantine zu übernehmen. Heute wurde für 60 Kinder Grießsuppe mit Ei und Milch gekocht. Ich ließ die Kinder antreten und suchte mir die schwächlichsten aus. So verteilten wir 60 Bons. Die Damen erzählten mir nachher, daß sie noch etwas übrig gehabt haben für einige Blaßgesichter, die ich übersehen hatte. In der Sprechstunde hatte ich auch viel zu tun, von den Damen auf das eifrigste unterstützt. Wir arbeiten uns ganz gut miteinander ein. Frl. Schnells gleich freundliche und bestimmte Art macht sie besonders für solche Pflege geeignet; ich hoffe, daß sie einmal von Grund aus hier Wandel schaffen wird. Gestern kamen mir bei meinem Besuch die Kleinen schon von selber unten entgegen; sie hatten Vertrauen gewonnen, und als ich heute mehr Bons für Semmelsuppe verteilen konnte, da streckten sich die kleinen, mageren Aermchen schon nach dem Zettel aus, und ich habe selten so hohe Befriedigung im Leben empfunden. Einige haben auch Schokolade bekommen. Der Médecin-Major und Dr. Michel, denen ich Mitteilung vom Suppenkochen gemacht hatte, schickten mir jeder 3 Fr. für die Sammlung, auch von anderen Seiten flossen Gelder zu; nur die so reichlich im Kasino essen, haben noch nichts von sich hören lassen. Aber ich kann darauf verzichten. Als ich gerade Sprechstunde abhielt, kam der Médecin-Major, der sich durchaus kollegial benahm. Er schickte zwei Patienten, die ich ihm dafür empfahl, ins Lazarett zu Marseille. Wenn ich früher Böses von französischen Aerzten gesehen, später Schamloses, so sei hier auch der Platz, lobend eines Arztes Erwähnung zu tun, der seiner schweren Aufgabe so voll und ganz gerecht wurde.

Nach der Konsultation besuchte ich noch Frau und Fräulein Schnell, die mit einer kräftigen Tasse Kaffee meine ermatteten Lebensgeister wieder auffrischten. Ihr kleines Zimmerchen mit zwei Strohmatratzen als Lager machte einen so behaglichen Eindruck, daß mancher häßliche Eindruck verwischt wurde. Ich bestellte für morgen Tapiokasuppe mit Ei und hoffe, bald den Kindern eine Schokoladensuppe zu bringen.

So ging auch heute alles seinen guten Gang. Schwerere Erkrankungen haben wir nicht zu verzeichnen, wenn auch manches von den kleinen Kindern vom Tode gezeichnet ist. Vielleicht reicht einmal das Geld, auch etwas Wäsche usw. anzuschaffen. Von seiten des Arztes, der Damen und des Maréchals finde ich das willigste Entgegenkommen. – Einzelne Fälle sind typhusverdächtig, auch Diphtherie haben wir. Die Kranken sind gut isoliert, aber ich möchte sie doch aus dem Häuserkomplex heraushaben. Ich spreche darüber mit dem Arzt; der sagt mir, daß er auch schon daran gedacht habe und beschlossen habe, ein Haus zu diesem Zwecke zur Verfügung zu stellen. Er habe an eins auf dem Wege zu den Baracken gedacht, in welchem augenblicklich die Geniesergeanten untergebracht sind. Ich sollte dort Wohnung nehmen, die Infektionsstation leiten und die Frauen- und Kinderstation weiterbehalten. Ich war natürlich sehr erfreut darüber. Der Maréchal wurde beauftragt, mir das Haus zu zeigen; ich solle ihm dann sagen, wie ich es einrichten wolle. In zwei bis drei Tagen solle der Umzug stattfinden. Auf dem Rückwege zeigte mir der Maréchal das Haus, ganz geeignet für unsere Zwecke. Es hat vier Zimmer nach dem Süden als Krankenzimmer, die ich gut mit je vier bis fünf Patientinnen belegen kann, dann ein Zimmer für mich mit Bett und Schreibtisch, daran anschließend eine kleine Küche und Apotheke. Vor dem Hause kleiner Raum und kleiner Garten, schöne Aussicht auf das Meer. Ich sagte natürlich gerne zu, bat noch, Bonitz als Pfleger dorthin mitnehmen zu dürfen; das wird wohl keine Schwierigkeiten haben. Bonitz ist natürlich von dem Gedanken sehr erbaut.

Am meisten erbaut bin ich selber. Wie anders hat sich seit wenigen Tagen mein Los gestaltet! Ich bereute fast nicht mehr, daß ich gefangen war. Ich aß im Kasino und ging dann zum Schuppen meiner Kameraden.

Dort schwirrten die seltsamsten Gerüchte. Morgen sollten 500 Elsässer fortkommen; wohin wußte keiner, wahrscheinlich nach Korsika. Das Schiff, welches bei uns im Quarantänehafen seit heute morgen lag, soll Pest an Bord haben. Die Sache der Sisterleute soll entschieden sein. In den nächsten Tagen werden alle nach der Schweizer Grenze geschafft und zur Heimat zurückbefördert. Es war wie ein Rausch, der die Aufgeregten erfaßt hatte. Endlich winkte die Freiheit. Aber es gab auch die Bedächtigen, welche böse aussagten, wir würden fortkommen, aber nur, um die schon infizierte Insel zu räumen, in neue Gefangenschaft. Wohin wußte heute noch keiner.

Mich hatte der Rausch mit den anderen ergriffen. Der Gedanke, freizukommen, war so beseligend, daß keiner das nachfühlen kann, der nicht in unserer Lage war. Und doch machte ich mir einen gewissen Vorwurf, daß ich so leicht meinen Platz, der mir so wichtig geworden war, verlassen wollte. Und wie ein Schrecken lähmte die Furcht, ich solle nur von hier fort, in ein neues Gefangenenlager, von neuem all das durchmachen, was ich vordem gelitten, und das aufgeben, was mich so froh gemacht hatte!

Das Gerücht läuft beharrlich weiter und weiter.

Bei schwerstem Regen kam ich nach Hause; er klatscht gegen das Wellblech. Man fühlt sich so köstlich geborgen nach sieben Wochen der Entbehrung. Soll ich das alles hergeben um einen Tausch, bei dem ich nicht gewinnen kann? – Aber, wenn mich das Schicksal zu Euch zurückführte, wenn das Ende der Gefangenschaft da wäre…? Ich wage es nicht auszudenken. Der Gedanke ist zu schön! Was wird der morgige Tag bringen? Ich bin sehr müde. Gute Nacht. – Vielleicht auf Wiedersehen!

Max.

Und nun folgte ein kritischer Tag erster Ordnung, den ich nie in meinem Leben vergessen werde, so voll der Freude, des Erwartens, der Aufregungen, wie ich ihn früher nie, später des öfteren erlebt habe. Am nächsten Morgen schon war die Luft elektrisch gespannt; einer sah den anderen an, ein fragender Blick, und der andere antwortete durch Gegenfrage. Etwas sollte geschehen, das war gewiß; etwas mußte der heutige Tag bringen. Ein großes Schiff fuhr in den Hafen. Die Insel Frioul sollte von Gefangenen geräumt werden, und der erste Schub, eine beträchtliche Zahl, sollte heute mittag fort. Uns Sisterleuten winke die Freiheit, so hieß es, und eine gewaltige Freudenstimmung bemächtigte sich allen. Aber bisher waren nur die 500 Elsässer aufgerufen worden, nichts weiter.