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Alles ist heute in Unordnung. Fräulein Brunswich, die mich zum Einkauf in der Kantine für die Kindersuppe abholen soll, erscheint nicht. Ich mache mich auf den Weg, da es Zeit ist zum Besuche der Frauenstation. Auf der Hälfte des Weges begegnet mir Fräulein Brunswich mit dem großen Korbe. Und nun beginnt das Wetterleuchten. Aus dem großen Korbe springen die Neuigkeiten nur so heraus. „Die Elsässer kommen fort, nach Korsika oder sonst wohin. Von den Sisterleuten wird allerhand gemunkelt; Gewisses ist noch nicht heraus; das Schiff, welches gestern mit der Quarantäneflagge einlief, hat Pest an Bord; einer oder zwei sind tot, die übrigen sind als pestverdächtig heute in das Hotel de Dieu (Hospital), welches im Bereich der Frauenstation liegt, eingeliefert, um da behandelt zu werden. Man sucht manches zu verheimlichen; aber allmählich sickert es doch durch.“ Darauf fährt sie fort, man habe ihr geraten, sie solle nicht mehr heruntergehen, damit sie die Pest nicht mit nach unten trüge.

So hatte sie in erregten Worten alles heruntergebeichtet, was sie vermochte. Ich neckte sie und meinte, sie habe sich einen Bären aufbinden lassen, und die Pest, die sie herunterbringen könne, sei nur verheerend für die jungen Kriegsgefangenen dort. Aber sie blieb fest bei ihren Behauptungen, und sie hatte in allem recht.

Ich kam auf die Station. Auch hier bemerkte ich sichtliche Unruhe. Ich fragte den Maréchal, ob es auf Wahrheit beruhe, was man über die Pestverdächtigen sagte. Er bestätigte es. Ein Singhalese war kurz vor der Einfahrt in Marseille an der Lungenpest gestorben. Man hatte ihn sofort ins Meer versenkt, und einen anderen mit ihm, der auch tot oder nur krank war, oder vielleicht auch nur die ersten Symptome der Krankheit bot, so genau war das nicht festzustellen. Es waren ja Singhalesen. – Dann gingen wir nach dem Hotel de Dieu, dessen Front zum Meere, die Rückseite nach dem Hofe der Frauenstation zu lag, und trafen die nötigen Abschließungsmaßregeln. Dann begann die Sprechstunde.

Ich war mitten im Untersuchen und Verordnen, als plötzlich atemlos Fräulein Brunswich in die Halle gestürzt kam: „Herr Sanitätsrat, Sie sind frei! Alle Sisterleute sind aufgerufen, Sie kommen direkt nach Genua. Eilen Sie, das Schiff liegt schon da!“ Nun war Aufregung im Lager, aber weit mehr in meinem Innern. Ich mußte die Sprechstunde unterbrechen und mich schnell von den Damen verabschieden. Der Abschied war kurz und herzlich. Fräulein Schnell sagte wehmütig: „So sieht nun ein glücklicher Mensch aus!“ Ich tröstete sie alle, daß sie nun bald auch so aussehen würden, – ein Händedrücken, und ich verließ die Stätte, die einzige, die mir in der Gefangenschaft lieb geworden ist, und eilte fliegenden Fußes nach unten zum Lager, von einer Aufregung gepackt, die unbeschreiblich war. – Dort begegnete ich gleicher Bewegung. Einzelne Pessimisten, die wissen wollten, man führe uns in ein neues Gefangenenlager nach Korsika, kamen nicht zu Worte. Der größte Optimismus herrschte vor. Man rief mich an, ich solle eilen, den Koffer packen; in einer Stunde führe das Schiff. Nun, das Kofferpacken hat bei mir nie lange gedauert; in zehn Minuten war ich reisefertig und frühstückte noch schnell etwas in der Kantine.

Auffallenderweise waren drei Sisterleute, tschechische Priester, Barth, Kurdin und Kerlitzky, nicht aufgerufen. Sie waren außer sich, als sie so von uns getrennt wurden und nahmen in gedrücktester Stimmung Abschied. Wir waren frei, und sie blieben in alten Ketten. Gerade Barth, an den wir uns besonders angeschlossen hatten, war aufs tiefste erregt, von unserer Seite gerissen zu werden. —

Nun hieß es eiligst Abschied nehmen. Ein Motorboot schickte uns an Bord des Dampfers „Pelion“. Ein Grüßen, ein Hüteschwenken, und wir fuhren aus dem Hafen, wieder einmal ins Ungewisse; denn schon erhoben die Ungläubigen lauter ihre Stimme und warnten vor Selbstbetrug. Wir wurden im untersten Lagerraum verstaut; es fehlte uns Licht und Luft. Der „Pelion“ war einer der ältesten französischen Kästen, gerade gut genug für die „boches“. Als wir uns trotzdem einrichten wollten, wurden die oberen Lagerräume von den Elsässern besetzt, die uns das letzte Restchen Licht und Luft nahmen, und deren Anwesenheit drückend die Frage auf uns legte: Wenn die auch mit uns fahren, wie ist dann an ein Freikommen zu denken? Aber noch hielten die Optimisten den Kopf hoch: „Ganz einfach, das Schiff setzt die Elsässer in Korsika ab und fährt uns dann nach Genua.“ Ein furchtbarer Sturm. Der Kasten wackelt hin und her, schlingert und rollt, daß es eine Art hat. Aber das Schicksal meint es gut mit uns, da es uns Sturm schickte; denn die Posten, des Seefahrens nicht gewohnt, fielen ab. Einer nach dem anderen. Sie lagen zum Teil langgestreckt, das aufgepflanzte Bajonett neben sich, und erbrachen die Seele aus dem Leibe. So war ihre Wachsamkeit gleich Null; einer nach dem anderen von uns kam an Deck und schloß Eß- und Trinkhandelsgeschäfte heimlich mit den Stewards. Aber mens sana in corpore sano. Als das Meer höher ging und wir zum großen Teil kaum noch dem allgemeinen Elend entgingen, faßten seltsame Gedanken in unserem Hirn Wurzel. Wir waren an Zahl weit überlegen; ein Handstreich, und das Schiff war unser. Schiffsmannschaft, Kapitäne und Offiziere hatten wir unter uns. Und so erhitzten wir die kranke Phantasie mit seltsamen Gespinsten. Die Großredner führten das Wort und begeisterten sich an ihnen.

Wir waren noch nicht reif; wir hatten noch nicht genug gelitten; es mußte noch viel heftiger auf Nerv und Niere gehämmert werden, ehe derlei zur Tat sich gestalten konnte. Aber auch sonst, was sollte uns derlei? Wir fuhren ja in die Freiheit; in zwei Tagen sollten wir die Heimat wiedersehen. Warum vorgreifen?

Die Kommissäre waren mit uns an Bord, und auf unser wiederholtes Fragen hatten sie ihr feines Lächeln: „Staatsgeheimnis“. Und ihr Lächeln sagte dem einen „Freiheit“, dem anderen „neue Ketten“.

Wenn aber die Herren Kommissäre auch keinen Mißbrauch mit Gefühlsduseleien trieben, etwas anderes war ihnen geläufiger, das Handelsgeschäft. Und so wurden zehn Mann von uns, auch ich war unter den Auserwählten, aus lauter Freundlichkeit Kabinen eingeräumt, zu 10 Fr. pro Mann, so wurden kleine Essen veranstaltet, teuer und schlecht; der Wein stieg auf seltene Preishöhe, und das Bier, als es begehrter wurde, auf 2,50 Fr. die Flasche. Die übermütige und grobe Behandlung der Stewards erhöhte den Genuß. All das war natürlich nicht erlaubt und entsprang nur der Gutmütigkeit der Biedermänner, wie sie es selber versicherten. Sie nahmen den Abfall und füllten die Taschen.

Der Sturm heulte und der Kasten wackelte immer bedenklicher. Ich hatte mit Moritz und Bonitz zusammen eine Kabine, und was mir seit Jahren nicht passiert ist, nicht einmal im Sturm auf den kleinen Fischdampfern bei Màlaga, ich wurde so jämmerlich seekrank, daß ich alles andere Leid vergaß.

So kam der Morgen, da wir in Bastia landen sollten; denn daß dies das Ziel der Reise war, hatte die Schiffsmannschaft verraten, der auch von einer Weiterreise nach Genua nichts bekannt war. Wir waren nicht vorwärts gekommen, und so ging die widerliche Fahrt noch einen Tag länger.

Wir mußten morgens die Kabine verlassen, durften aber an Deck bleiben, da die Posten unfähig waren, Ordnung zu halten. Der Tag verging; abends durften wir für eine Zulage an die Herren Kommissäre in die Kabine zurück. Wir sollten uns nicht entkleiden, da man annahm, wir könnten schon in der Nacht ausgebootet werden.

Um zehn Uhr zeigte uns ein wüstes Johlen, Kreischen, Pfeifen und Heulen unsere Landung an. Wenn der Inhalt von zehn Affenkäfigen in voller Tätigkeit ist, so kann das Ohr nicht so gräßlich durch die höchsten Mißtöne beleidigt werden als hier durch das Kreischen der alten Weiber. Wir wurden in unsere Kabinen eingeschlossen und uns die Weisung gegeben, uns nötigenfalls darin zu verrammeln. Dann ein Hin- und Herlaufen, wir hören das Aufpflanzen der Bajonette, das Kreischen dauert fort und dringt näher. Man ruft uns durch die verschlossene Tür zu, wir sollten das Licht löschen und uns ganz still verhalten; die Menge wolle das Schiff stürmen und uns lynchen. Wir gehorchen schweigend dem Befehle. Eine unheimliche Nacht! Die Weiberstimmen überschlagen sich in Fisteltönen. Ein Ausbooten sei unmöglich, ruft man uns wieder zu, die Menge würde uns zerfleischen.

Nun habe ich zwar des öfteren gesehen, wie tapfere, alte Weiber, auch junge, durch Flaschenscherben oder Steine Unheil anrichteten; manch ein Loch im Kopfe gab davon Bericht. Aber hier erschien es mir doch noch etwas anders. So grausig auch das Menageriegeheul durch die dunkle Nacht drang, das Ganze wirkte mehr als Theater, wie das der Franzose liebt, Musica, wie der Spanier derlei bezeichnet. Es kam mir so verabredet vor, uns bange zu machen.

Dann verstummte allmählich das Geheul; Offiziere kamen säbelklirrend in die Kabinen, es wurde allerhand verlesen und besprochen, bis ein Uhr nachts etwa. Was in der Nacht durch unser Hirn gezogen, was wir alles, die wir aufgeregt horchten, aus den seltsamen Verhandlungen herausgehört haben, das übersteigt die Phantasie des kühnsten Dichters. Bonitz verstand nicht Französisch, Moritz verstand nicht Französisch, ich verstand nicht Französisch, aber jeder von uns hatte auf der Schule und im Leben so viel von dieser unangenehmen Sprache aufgefaßt, daß wir gerade in der Lage waren, uns ein Hexengesudel aus dem zurechtzumachen, was an unser Ohr klingelte: – Wut der Korsen – starke Bemannung – Schutz – Genua – Militär vermehren – wieder Genua oder etwa Genf – einige bleiben hier, andere nach – Genua! – und was immer wieder an unser Ohr schwirrte, war – Genua!

Am folgenden Morgen setzten wir unseren Fuß auf die Insel Korsika, und alle Träume der Freiheit waren begraben; wir waren von den Korsen zu Gaste geladen.

So begann das widerlichste Kapitel unserer Gefangenschaft, Casabianda. —

 

III. Casabianda

 
Und wieder erfaßt mich ein ekles Entrüsten,
Durchblättr’ ich noch einmal, was hier ich gebucht.
 

Kaum eine Stunde hatten wir in jener denkwürdigen Nacht Ruhe gefunden. Um drei Uhr morgens schon ging das Blasen und Lärmen los; wir kamen übermüdet aus einzelnen Kabinen und tauschten nun aus, was wir erhorcht hatten. Da stießen denn die Meinungen gewaltig aufeinander. Wie wenn wir im Bremer Ratskeller geträumt hätten, so zog in verschiedenen Variationen diese gruselige Nacht an unseren Sinnen vorüber. Und dem entsprachen die Berichte. Die Kühnsten verstiegen sich dazu, gehört zu haben, daß das Schiff weiter sollte nach Genua; die Pessimisten hatten herausgehört – und daran war viel Wahrheit – , daß alle Elsässer, Dalmatiner, Tschechen usw. besser behandelt werden sollten, daß die schlimmste Behandlung die Deutschen treffen sollte. Und wieder schwirrte es durcheinander, und wie Hexenmusik klangen immer wieder die Worte „Gênes“ und „Gêneve“ durch. Die Elsässer gingen zuerst von Bord. Aber das Schiff machte keinen Dampf auf; unser großes Gepäck wurde verladen, und das kleine mußten wir in die Hand nehmen, und dann ging es herunter von dem gräßlichen Kasten zur Eisenbahn, in der wir, dicht gedrängt, in einigen Viehwagen verladen wurden. Die Bevölkerung war ruhig dank den großen Absperrungsmaßregeln, die getroffen waren. Oder war doch der ganze Empfang gestern nichts als Musica gewesen, unsere Männerherzen im Tiefsten zu erschüttern? Nun war ja manch einer von uns tapfer und manch einer weniger; aber dem Weibergekeife hätten wir wohl alle noch standgehalten.

Uebrigens wurde der Trick, uns das Gruseln zu lehren, von nun an eigentlich dauernd angewandt; ich werde noch des öfteren darauf zurückkommen. Auch jetzt kam der erste Befehl, wir sollten die Köpfe tief halten, da man für den Zornesausbruch der tapferen Korsen nicht einstehe, und da Steinwürfe oder verirrte Kugeln leicht Unschuldige treffen könnten. Es gab auch wirklich deren, die nur im Tunnel den Kopf mutig erhoben und bei jeder Lichtung ängstlich bargen. Nun ging die Fahrt vier Stunden durch die herrliche Landschaft. Auf jeder Station sah das Volk erregt in unsere Menageriekäfige, und besonders Pater Kaspar in seiner Körperfülle und braunen Kutte erregte die Menge zu den seltsamsten Ausrufen. Daß man einen ganz besonderen Fang gemacht hatte, das war schon reichlich verbreitet, und im ganzen Volke schien man es nicht anders zu wissen, als daß es der französischen Regierung gelungen sei, einen ganzen Wald voll Affen, pardon, ein ganzes Nest von Spionen, auszuheben, deren Bestimmung nur die weiße Wand sein konnte und sein würde. Auf einer Station gefiel sich ein hämischer Pfaffe besonders darin, uns Eingepferchte für die Zertrümmerung der Kathedrale in Reims verantwortlich zu machen, und mit Entsetzen sah man auf die Heiligtumschänder, bis sich die Menagerie wieder in Gang setzte. Innerhalb der Tierkäfige ging es friedlicher zu. Manch einer hatte sich auf dem Schiffe mit Vorräten, Wein und Atzung, versorgt. Die Flasche kreiste, und der gutmütige Soldat, der uns mit aufgepflanztem Bajonett bewachte, wurde so reichlich bewirtet, daß er, ermüdet, den Schlaf des Gerechten schlief, nachdem er noch mit Aufbietung der letzten Willenskraft Herrn Kuchenbecker, einem alten, weißbärtigen Herrn, seine Mordwaffe vertrauensvoll in die Hand gedrückt hatte. Wer das Bild gesehen, Herrn Kuchenbecker an der Seite des schlafenden Soldaten, als Wächter französischer Ordnung, der wird es so bald nicht vergessen. Endlich langten wir in Aleria an, wo wir ausstiegen. Ein Hauptmann der Forestiers auf einer merkwürdigen Rosinante mit einer Schar von Förstern empfing uns, und nun ging es langsamen Schrittes – wir mußten uns dem Gang der Rosinante anpassen – nach Casabianda. Dort waren schon einige Militärgefangene interniert. Man führte uns in eine Halle, wo einige Offiziere die Begrüßungsformeln, Abnahme von Messern, Streichhölzern und ähnlichen Artikeln vornahmen. Dann gab es ein freudiges Wiedersehen mit der uns so wohlbekannten Kohlsuppe. Die Sonne neigte sich, und wir sanken ermüdet ins Stroh. Ein großer Kübel wurde uns als nunmehr unentbehrliches gemeinsames Gerät ins Zimmer gestellt. Immerhin hatte er wenigstens einen großen Holzdeckel. Die Wachen traten heraus, und die Riegel klirrten. Noch ein kurzer Besuch, Feststellung, daß wir alle da wären, und wir blieben uns selber überlassen.

Am nächsten Morgen ging das alte Rezept los. Wir sollten das Gruseln lernen. Zu dem Zwecke rief der Offizier, Herr Simeoni traurigen Angedenkens, einige, die Französisch sprachen, zusammen und sagte ihnen, sie sollten es weiter unter uns verbreiten, daß die große Wachsamkeit, die sie an uns verschwendeten, zu unserem Besten sei. Die Korsen seien gefährlich und haben uns Tod geschworen. Sie sähen in uns allen Spione, und wir seien vor ihren Dolchen nicht sicher. Auch wenn wir herausgelassen würden, dürften wir nicht einen Schritt außerhalb der Umfassungsmauern uns wagen, da der Kommandant ausdrücklich gesagt, er stünde für keinen derartigen Unfall ein. – Also sprach Simeoni. – Er war ein Mann, der von der Pike auf gedient, bei der Fremdenlegion avanciert und schließlich Offizier geworden war. Dem entsprach er ganz. Er war groß, kräftig, trug einen martialischen Schnauzbart und gefiel sich in starker Pose. Er bekam bald den trefflichen Namen „der Operettenleutnant“. Ich beschäftige mich mit dem Mann genauer, weil er berufen war, eine schwere Rolle in unserem künftigen Schicksal als Gefangene und auch in dem meinen zu spielen.

Bei der Revision der Koffer, die programmäßig am zweiten Tage nach dem Quartierwechsel stattfand, passierten wieder einige kleine Humoristika. Eines will ich berichten: Dr. Bayer hatte ausländisches Geld bei sich, das der untersuchende Korporal mit besonderer Neugier betrachtete. Wessen Kopf ist das? – Kaiser Franz Joseph. Und der? – König Georg von England! Ein bewunderndes Ah! Und der? – Kaiser Wilhelm. – Da verzerrten sich die Züge des Korsen, und er warf das Geldstück klirrend auf den Boden. Wilhelms Name ist Kinderschrecken, aller Haß entlädt sich auf unseres Kaisers Haupt. Einen Schuldigen will das Volk haben, und im Fälschen der Geschichte sind sie Meister.

Unsere Lager werden nun genau bestimmt. Ich teile wieder mit Bonitz eine Matratze, wir sind aneinander gewöhnt. Abends erfaßt mich ein dumpfer moralischer Schmerz. Warum nahm man mich von Frioul fort, von meiner Tätigkeit, ehe ich sie eine Woche nur ausgeübt hatte, und was tue ich hier? Nun ging das Verzweifeln von neuem los, und es wuchs uns über den Kopf und wuchs zu einer solchen Stärke, daß wir ihm nicht wehren konnten, wir gerieten in wirkliche Gefahr, nach innen und nach außen.

Schön liegt Casabianda, der Neid muß ihm das lassen. Als uns die Terrasse freigegeben war, atmeten wir auf und genossen in vollen Zügen die reine Luft und die prächtige Aussicht. Vor uns, fast greifbar, nur durch Wiesen von üppigem Grün und kleine Waldungen getrennt, ragten in riesiger Kette die schneebedeckten Berge Korsikas empor. Der Anblick ist imposant, und er imponierte uns heute und er erfreute uns heute noch, auch noch am anderen Tage und einigen folgenden; dann aber erwachte wieder das quälende Bewußtsein, daß das nichts anderes sei als vergoldete Stäbe unseres Käfigs, und daß wir anderes zu tun hätten, als arbeitslos uns der Natur zu erfreuen. Und als uns so auch die Freude an der Natur genommen war, begann unser Leiden immer drückender die Brust zu beengen, daß wir fast zu ersticken meinten. Ein Etwas trat damals in die Erscheinung, das uns fast das Unerträglichste dünkte. Aus unseren eigenen Reihen traten einige hervor, die, der französischen Sprache kundig, sich dazu hergaben, ein gewisses Kommando über uns sich anzumaßen, unterstützt von der französischen Behörde. Es war natürlich, daß bei einer immer wachsenden Zahl von Gefangenen Disziplin herrschen mußte. So wurden wir in Gruppen und Sektionen eingeteilt, welche ihre Gruppen- und Sektionschefs hatten, für jedes Zimmer war weiter ein Zimmerältester verantwortlich. Zu diesem Posten waren nur solche möglich, welche Französisch gut sprachen. So war die Auswahl beschränkt, und es sind nicht immer die Taktvollsten, leider auch nicht immer die Besten gewesen, welchen solch Posten zugewiesen wurde.

Die Korsen hatten in Maurer ein gutes Medium gefunden, uns aufzuregen, nur hatten sie nicht bedacht, wie lange sich unser Haß zurückdrängen ließ, ohne zum Ausbruch zu kommen. Es war in ihnen von Anfang an die Lust wach, uns bis aufs Blut zu reizen, und dieser Lust frönten sie, wie ich es später noch zeigen werde, bis zum Satten. Der Spanier quält Tiere, ist aber gutmütig zu Menschen, der Franzose aber quält Menschen mit Lust, mit satter Lust. Was nun alles zu einem wilden Gebrodel in dem Höllenkessel von Casabianda vereinigte, war die verdammte Gleichheit unter den Franzosen und übertragen auch auf uns. Das habe ich nie so ausgeprägt empfunden als in jenen Tagen in Casabianda, „dort, wo es keinen Herrn und keinen Diener gibt“. Das mag schön klingen, aber für den souveränen Pöbel paßt es nicht. Einer dient nicht etwa dem anderen, sondern die Sucht, Herr zu sein über den anderen, ist nie so ausgeprägt wie hier. Wer nicht Herr sein kann und aufsteigen, der tut alles, hernieder zu ziehen; nur keinen Besseren anerkennen! Keine Autorität! Der gemeinste Schwätzer soll dem Denkenden gleichstehen. Der Kommandant, Herr Teissier, war ein Mann von Formen und Anstand, nicht gutmütig, aber entgegenkommend. Was wir anfangs für Gutmütigkeit hielten, war Schwäche, er konnte nicht „nein“ sagen, zu uns nicht, aber weniger noch zu seinen Untergebenen, und das führte naturgemäß zu Wirkungen. Der Operettenleutnant und allen voran der Arzt führten Regiment über ihn, diese an bevorzugter Stelle. Aber auch jeder Forestier, jeder Gendarm fühlte sich als Kommandant. So passierte folgendes, was etwa typisch für die Verhältnisse in Casabianda war:

Ich genoß als Arzt eine gewisse Ausnahmestellung, welche zwar nicht im entferntesten derjenigen glich, die ich in Château d’If und Frioul gehabt hatte, die mir aber doch Freiheiten sicherte. So hatte ich keine Arbeit zu verrichten, trug ein laissez-passer, ausgestellt vom Kommandanten, bei mir, das mich berechtigte, die Posten jederzeit ungehindert zu passieren. Das ist ein Vorteil oder sollte einer sein. Als ich eines Tages mir aus der Kantine etwas besorgen wollte, ging ich am Posten vorbei, der mich anhielt. Ich zeigte ihm das Dokument, woraus er mir achselzuckend bedeutete, das sei ihm ganz gleichgültig. Ich pochte etwas energischer auf meine Rechte und bekam nun die Antwort, die wir von nun an zu allen Gelegenheiten und fast täglich hörten: „Ich sch… auf den Kommandanten, der Kommandant bin ich!“ – Ich geriet in Wut und wollte nun gerade durchdringen, weil ich damals noch reichlich harmlos über Machtbefugnisse des Kommandanten dachte; aber schon hatte der Kerl im Augenblick seinen Revolver entblößt, setzte ihn mir auf die Brust und sagte: „Einen Schritt weiter, und ich schieße Sie tot.“ – Dieser Logik gehorchend, zog ich mich zurück und beschloß, über solches Vorgehen, das mir damals noch unerhört erschien, mich beim Kommandanten zu beschweren. Das geschah am nächsten Tage. Der Kommandant war außer sich über die Rücksichtslosigkeit des Forestiers und schrieb eine äußerst strenge, aber immerhin weise und gerechte Maßregelung einer solchen Insubordination auf mein laissez-passer als Zusatz. Nun hatte ich das drohendste aller Schriftstücke in der Hand, aber versucht habe ich nie mehr, die Kraft solchen Talismans zu erproben. – Wie gesagt, wo es nur am Platze war oder sein konnte, gebrauchte man das Wort: „Ich pfeife.“ Jeder Forestier (ich drücke mich sehr gewählt aus) pfiff auf den anderen, die anderen auf ihn und mit ihnen zusammen auf den vorgesetzten Offizier, dieser auf sie und auf die anderen Offiziere, und dann wiederum in Gemeinschaft mit dem Arzt, auf den sie alle pfiffen, und den anderen Offizieren auf den Kommandanten. Nur dem armen Kommandanten blieb im Lager nichts zu pfeifen, so mußte er sich schon höher hinaufbemühen. So herrschte ein Geist der Unordnung in Casabianda, der allem hohnsprach, was ich im militärischen Leben für möglich gehalten hätte, der Geist des souveränen Pöbels.

Casabianda, 10. November 1914.

Liebste Armgard!

Der letzte Brief, der wirklich an Dich abging, war eigentlich nicht für Dich berechnet, sondern für den Kommandanten. Ich schrieb ihn in gewisser Verzweiflung, um das Ohr des Kommandanten zu erreichen, das uns der Erste Offizier künstlich verschließt. Der Herr Maurer hatte mich dazu getrieben. Wiederum war ich zum Leutnant Simeoni gerufen, der mir sagte, daß der Geist der Rebellion in unsere Reihen gedrungen sei, und daß ich der Rebellenführer sei, der die anderen aufhetze. (Ich hatte meine Lampe erst fünf Minuten nach 9 Uhr statt Punkt 9 Uhr ausgemacht.) Er wolle heute noch Rücksicht nehmen, auch habe er das nur im allgemeinen gehört, nicht etwa durch Mr. Moré (das war gelogen, denn Mr. Moré hatte sich wieder einmal gebrüstet, daß er es dem Sanitätsrat eingebrockt habe). Er wollte also von Bestrafung absehen, aber wenn ich es noch einmal wagen sollte, mich beim Kommandanten zu beschweren, so würde er (der Kommandant bin ich) mich auf zwei Tage einsperren.

 

Ich hatte es satt und suchte das Ohr des Kommandanten durch den Brief an Dich, in dem ich Dir alle Schandtaten des Mr. Moré aufzählte, in der Sicherheit, daß er die Zensur nicht passieren, daß aber der Kommandant ihn lesen würde. Nun höre ich, daß er ungelesen durchgegangen ist, der Kommandant hat ihn gar nicht zu Gesicht bekommen, sein Zweck ist verfehlt, Dich hat er höchstens geängstigt. Das habe ich nicht gewollt! – Neulich bekamen wir den ersten Sold in französischen Diensten, auch die Priester und Aerzte, die nicht gearbeitet haben. Einen Sou pro Tag, ich erhielt 4 Sous. Es werden noch mehrere kommen, die will ich für Hans bewahren. Ein Memento!

Unser Los ist unerträglich. Doch da es eben ertragen werden muß, solange psychische und physische Kraft standhalten, so will ich nicht jammern. Viele andere haben schwereres Los zu tragen, nur nicht so elend, so gedemütigt wie wir. Ich klammere mich nur noch daran, daß, wenn wir unseren alten früheren Stolz ganz eingesargt haben, ein neuer geläuterter Stolz entstehen wird. So muß es wohl kommen. Es ist unendlich schwer, die täglichen Demütigungen, die stündlichen Nadelstiche zu überwinden, den Hohn des Pöbels und unsere Ohnmacht. Manchmal meine ich, daß wir vom Propheten von Nazareth lernen dürften, dessen Stirn-, Hand- und Fußmale leuchteten als Sinnbild seines Stolzes. Wenn wir uns erst dazu durchgerungen haben werden, Schmähungen und gewollte Demütigungen unserer Feinde als Ehre zu empfinden! – Ich glaube, ich komme solcher Auffassung näher, heute kann ich mich noch nicht zu ihr aufraffen.

Zurück aus dem Feindesgewoge zur Idylle. Wir hatten eine Eingabe gemacht, man möchte uns gestatten, in einer Küche, die wir uns provisionell einrichten wollten, für einige Herren selber zu kochen. Die Eingabe ist günstig beschieden und uns ein kleiner Raum neben der Küche zur Verfügung gestellt, in welchem wir zwei kleine Herde aufstellen konnten. Zum Küchenchef bin ich erhoben, wieder eine der vielen Wechselstufen in meinem bewegten Leben. Präsident der Republik Château d’If, Chefarzt der Frauen- und Kinderstation in Frioul, Oberkoch für die Zuchthäusler mit garantiertem Mehreinkommen! – Was winkt mir noch? Der Pfad scheint etwas abschüssig, aufwärts weist er nicht. Aber ich habe doch etwas zu tun. Der Arzt hier, ein junger Mann, ebenso abstoßend wie gesucht freundlich, hat sich mit Heller stark überworfen und ihm jedes Eingreifen in die Behandlung von Kranken, auch jede Bestellung von Medikamenten untersagt. Ich selber bin mit dem Knaben noch nicht recht in Berührung gekommen. In unseren Räumen sieht man ihn nicht, trotzdem er da oft genug not täte bei der wachsenden Dysenterie. Einen Toten hat sie schon gefordert.

Wenn ich also für den Magen der anderen sorge, so leiste ich ärztlich mein gut Teil, denn die Verpflegung ist erbärmlich, und die Fälle der Dysenterie sind zum großen Teile der Unterernährung zuzuschreiben.

Moritz und Radei sind mir zugeteilt. Radei versteht die Küche schon und kocht selbständig, Moritz gibt sich der neuen Schule mit bewunderungswürdigem Eifer hin. Wir kochten am Tage der Eröffnung ein recht einfaches Gericht, Rindfleisch mit Gemüsesuppe. Es war dasselbe wie in der Menage, und doch, wie anders! Uns mundete es kostbar, wie am heimatlichen Tisch. Alles, was wir bisher vermißten, Kraft in der Bouillon, Verschiedenheit in den Gemüsen (Kohl hatte ich ausgelassen), ein weiches und großes Stück Fleisch, ganz durchgekocht, fanden wir hier. Radei und ich übernehmen jeder abwechselnd die Garantie für gutes Essen. Am nächsten Tage kochte der „ungarische Professor“ sein Gulasch, das allgemeinen Beifall fand. Heute sitze ich nun frühmorgens 6½ Uhr bei scharfer Kälte oben in meiner offenen Küche und habe glücklicherweise so viel an die Mäuler der Fresser zu denken, daß ich den trostlosen Gedanken keinen Raum geben kann. So geht mein Leben in dem neuen Beruf Tag für Tag zu wie folgt:

Morgens beim Grauen Appell, dann ziehe ich zur Küche und mache großes Feuer, meist aus Selbsterhaltungstrieb, denn die Kälte macht sich recht bemerkbar. Dann bringt mein Bursche (wir leisten uns solchen Luxus für 5 °Cts. täglich) Wasser und Waschgeräte nach oben, wo ich mich einer gründlichen Reinigung unterziehe, dann meinen Morgenkaffee wärme. Inzwischen kommen Radei und Moritz zur Menuberatung, dann Linke mit dem großen Einkaufskorb, Küchendienst. Endlich naht der Financier der Küchengesellschaft, Herr Gerson, mit seinem Notizbüchelchen und notiert, was wir ihm an Einkäufen als notwendig vorschlagen, nickt bejahend oder schüttelt mißbilligend den Kopf. Wir alle fünf gehören zu den Senioren der Gefangenen. Radei, der jüngste von uns, zählt 35 Jahre, Gerson und Moritz sind noch älter als ich, Linke geradeso alt. Nun geht es zum Einkauf. Zuerst herauf zum Fleischer, einem dicken braven Manne, der uns manch gutes Stück ausgesucht, manchen Vogel besorgt und auch manche Flasche Wein heimlich zugesteckt hat. Für 22 Personen Fleisch, also immerhin eine tüchtige Portion, denn wir haben Hunger und müssen nachholen. Dann zur Kantine, wo wir auch freundlich empfangen werden, wir sind immerhin gewichtige Gäste. Die alte Frau erzählt uns ihr altes Märchen von Guillaume, das ihr das Käseblättchen immer mit neuen Tricks mundgerecht auftischt, und die junge, deren Mann im Kriege ist, gibt aus, je nach den Nachrichten, die sie empfangen, reichlich oder weniger reichlich. Die Nachrichten müssen selten gut sein, denn sie wiegt immer knapper und steigt in Preisen. Bisweilen wird uns ein Morgenschnäpschen kredenzt, Branntwein, der Krämpfe erzeugt. Nun geht es ans Reinigen der Gemüse, des Fleisches, Aufsetzen des Wassers usw., bei dem sich mein Freund Moritz wie immer durch besondere Sorgfalt auszeichnet, bis die verschiedenen Sachen aufgesetzt sind und die Frager sich einstellen: „Was gibt es heute?“ Ihre Zahl vermindert sich zusehends, denn sie werden meist nicht eben freundlich behandelt. Sie sollten sich auch solche Fragen abgewöhnen, denn die Antwort ist doch immer die gleiche: Das weiß der Koch erst ganz bestimmt, wenn das Essen auf dem Teller liegt. – Wie oft hat es sich gerächt, wenn wir so tiefe Weisheit mißachteten und in vorschneller Prognose die Tagesplatte verraten hatten, und nachher gestehen mußten, daß eben aus dem Wunderkochtopfe zum Schlusse etwas ganz anderes hervorgegangen war, als unsere Meinung gewesen. Wenn ich nun verrate, was es bisweilen gab, und bis zu welchen Höhen sich unsere Kochkunst verstieg, so schelte man uns nicht Schlemmer, wir haben es vorher schlecht genug gehabt, und solche Perioden des Wohllebens waren immer von kurzer Dauer, wer weiß, wie wir es später haben werden? Also nach dieser entschuldigenden Vorrede zur Aufzählung der Tagesplatten, die zu den außerordentlichen gehörten: Aal grün, Aal gebacken mit Breikartoffeln (dabei half, wie auch sonst oft, der Kapitän der Elsa Köppen, Herr William, der eine wunderbare Fähigkeit besaß, die Aale durch den Essig laufen zu lassen und dann ihnen das Fell über die Ohren zu ziehen), Kalbskeule mit Gemüse (hors de concours), Schweineschinken, Apfelmus, Fischsuppe mit Tomaten, Huhn mit Reis, gebratene Hühner, Rindfleisch mit Senfsauce, Bouillonkartoffeln und Sellerie, Karotten und Steinpilze mit Koteletts, frische Champignons, Kartoffelpuffer, Eierkuchen mit Obst usw. usw. Wenn man bedenkt, daß der Durchschnittspreis für die Portion 5 °Cts. sein sollte, daß Herr Gerson böse Augen machte, wenn wir das Budget überschritten, daß wir keine weiteren Gewürze als Zwiebeln, Salz und Pfeffer zur Verfügung hatten, daß die Butter unerschwinglich teuer und das Schmalz ungenießbar war, so denke ich doch, daß wir das Unsere geleistet haben. Zur Kräftigung der Kasse wurde nachmittags Kaffee gekocht, an dem wir pro Tasse etwa 7 Cts. verdienten, und ein Cedratine dazu ausgeschenkt, der auch einen kleinen Ueberschuß ergab. Andernfalls wäre unser gemeinnütziges Unternehmen verkracht. Wenn nun alles sich gesättigt entfernt hatte, begann die Reinigung der Küchenräume durch eine angestellte Kraft. Später stand die Küche noch einmal den 22 Mitinhabern zur Verfügung, und manch Eierkuchen oder Kartoffelpuffer wurde darauf gebacken. Bisweilen, aber nur selten, an ganz besonders kalten Tagen, braute ich abends einen Eierpunsch, zu dem Anmeldungen zugelassen wurden. Das geschah besonders, wenn die Kasse Ebbe aufwies.

Daß ich nun doch die Küche aufgeben werde, hat verschiedene Gründe. Zuerst kann ich selber nicht essen, wenn ich koche, und nehme so viel zu wenig Nahrung zu mir. Ich werde Radei auf einige Zeit die Leitung übergeben und für einige Zeit auf Urlaub gehen. Der wird wohl auch nicht lange aushalten und Moritz auch nicht, denn sie sind beide nicht die Stärksten, und Arbeit, die zu leisten ist, ist weit größer, als der ahnt, welcher mit seinem möglichst tiefen Teller ankommt und sich seine Portion zumessen läßt. Dann aber will ich mich zurückziehen, weil die Küche zu exponiert liegt und wir das ganze Getriebe der korsischen Forestiers und Gendarmen wie auch Simeoni mit seiner Kommandostimme täglich vor Auge und Ohr haben. Ich möchte die Aussicht auf die Berge und alle Schönheiten der Natur entbehren, wenn ich einmal ein Zimmer für mich hätte, in das ich mich verschließen und ausdenken könnte, ohne immer wieder mit ansehen zu müssen, was uns Gefangenen hier täglich und stündlich von den Korsen zugefügt wird.

Gestern passierte etwas, so widerlich, wie ich lange nichts erlebt. Nach dem Essen saß ich auf der Mauer gegenüber der Küche mit Herrn Großpietsch, einem jungen Manne von 21 Jahren, der mir in der Küche geholfen hatte. Während wir uns unterhielten, sehen wir, wie ein französischer Soldat in der Küche herumschnüffelt. Ich frage: „Was will der Kerl?“ G. geht hin und fragt den Soldaten, was er da suche, worauf der sofort grob wird und G.s Namen fordert. Ein Gendarm kommt aus der anderen Küche, packt G., der sich verteidigt, und nun prügeln beide zusammen auf den einen Wehrlosen in der rohesten Weise. Dann verhaften sie sie ihn. Unterdessen war schon wieder unten ein wüstes Durcheinander entstanden. Alle, welche den Vorfall mit angesehen hatten, entrüsteten sich gegen solche Mißhandlung. Der Hauptmann kam, ein bequemer, weißhäuptiger kurzer Herr, dem der Name Schildkröte beigelegt war. Die Forestiers zogen, wie sie das so gewohnt waren, den Revolver und bedrohten jeden einzelnen, einige weitere Verhaftungen wurden vorgenommen, der Hauptmann sprach mit dem Gendarmen und bestätigte die Strafe. Da trat ich an den Hauptmann heran und bat, gehört zu werden, da ich direkt neben G. gestanden habe. Ich wurde nicht gehört, sondern mir die Antwort zuteil: „Wenn ein französischer Gendarm sagt, er habe nicht geschlagen, so gilt das mehr, als wenn 200 Deutsche beschwören, er habe geschlagen.“ Unsere Hoffnung auf Freilassung taucht täglich auf und täglich wieder unter. Unseren Nerven wird reichlich viel zugemutet. Wie lange werden wir aushalten? Welche Zustände! Wer uns hier sähe, würde sich entsetzen. Wir liegen auf Stroh am Boden, in unsere Wäsche kriechen die Läuse, die Ratten beginnen sich zu zeigen und werden uns allmählich an Zahl näherkommen. Im Zimmer steht neben den Lagern ein Kübel, der, sobald wir eingeschlossen sind, bis zum Morgen benutzt wird und fast immer besetzt ist. Wie soll da der Infektion Halt geboten werden?

Willkür und Unordnung treiben Blüten. Neulich wird Klaebisch als Sektionschef plötzlich ins Gefängnis gesteckt, weil ein Mann seiner Sektion fehlt. Wir zählen nach und finden, daß alles stimmt. Nun werden die Franzosen gerufen und zählen auch nach, dreimal, bis sie wirklich herausbekommen, daß keiner fehlt und Klaebisch wieder entlassen wird. Das Gefängnis füllt sich, der brave Arzt läßt alle ins Gefängnis stecken, welche sich krank melden und von ihm nicht als krank befunden werden. So beugt man Krankheiten vor. Wir leben im Lande der Humanität.

Dr. Bayer hat eine Karte geschrieben, darin heißt es: „Wir haben auch Nachbarn, Ratten, Wanzen, Läuse, Krankheiten und den Tod.“

Max.

Am 1. November waren neue Zivilgefangene unserm Zuchthaus zugeteilt, es waren das alles Wehrpflichtige, welche, von Spanien kommend, auf Schiffen, die meisten auf dem Federigo, abgefangen waren. Wir bedauern die Armen, die mit uns leiden sollen. Von den in Frioul zurückgelassenen drei Priestern erfahren wir, daß sie freigeworden und nach Spanien zurückgeschickt sind. Barth schreibt an Bayer folgende humoristische Karte, die wunderbarerweise durch die heute noch harmlose Zensur geht, trotzdem ihr Sinn allzu deutlich ist. Sie lautet: