Seewölfe Paket 23

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„Sie bauen Hirse, Kartoffeln und Gerste an“, erklärte der Padre. „Und aus Gerste braut man bekanntlich Bier. In der anderen Kruke ist Fruchtsaft drin, Bruder.“

„Fein“, sagte Ed sofort, „dann haben die anderen ja wenigstens auch etwas zu trinken.“

Während die Frauen wieder verschwanden, blieben die beiden Männer bei dem Potosi-Trupp und schwatzten mit Aloysius. Die Kinder standen verschämt an der Tür und musterten die Männer.

„Was ist mit dem Mann passiert?“ wollte der eine Indio wissen.

„Er ist einen Abhang hinuntergerutscht und hat sich den Knöchel gebrochen. Er muß liegen und braucht Ruhe, damit der Bruch verheilen kann. Ich wollte euch bitten, ob ihr ihn hierbehalten könnt, bis wir wieder zurück sind.“

Für die Indios war das ganz selbstverständlich. Sie nickten sofort, als der Pater seine Bitte vortrug.

„Wohin führt euch der Weg, Padre?“

„Wir wollen nach Potosi.“

Als der Name fiel, zuckten die beiden Männer zusammen und sahen sich unbehaglich an. Potosi war gleichbedeutend mit Sklaverei, Elend, Hunger und Tod.

„Nach Potosi?“

„Ja, wir haben vor, den Spaniern ans Leder zu gehen, damit die Sklaverei endlich ein Ende hat. Diese Männer sind gut gerüstet, um den Spaniern eine Schlappe beizubringen.“

Jetzt war die Verblüffung groß, aber auch die Freude, denn die Dons wurden von den Indios wie die Pest gehaßt – aus gutem Grund.

„Wir wollen versuchen, die gefangenen Indios zu befreien, um die Silberminen am Cerro Rico lahmzulegen.“

Diese paar Worte rissen die Indios hoch. Sie erzählten es sogleich ihren Frauen, dann den Kindern. Gleich darauf begannen sie vor Freude zu hüpfen.

„Sie waren schon ein paarmal hier“, erzählte der eine. „Wir konnten jedoch immer rechtzeitig in die Berge flüchten, sonst wären wir heute auch in den Minen von Potosi.“

Eine der Frauen sagte, sie hätte eine Schlafstätte für den Verletzten bereitet, und man möge ihn hinübertragen. Sie würden für ihn sorgen und ihn pflegen. Es sei ihnen sogar eine Ehre, diesen Mann im Haus zu haben. Fred Finley war also in den besten Händen.

Hasard stand auf und ging hinaus. Als er zurückkam, überreichte er den Indios eine Axt und ein Entermesser, was unbeschreibliche Freude auslöste.

Dann trugen sie Fred in einen Raum, in dem Felle und Matten auf dem Boden lagen.

„Du hast es gut“, sagte Stenmark. „Wirst gehätschelt und gepflegt und kannst schon jetzt den Helden spielen. Die Leute freuen sich wie verrückt, daß sie dich hierbehalten können.“

„Ich bin auch heilfroh, daß diese Leute so nett und hilfsbereit sind. Gar nicht auszudenken, wenn es diese Familie nicht gäbe.“

Etwas später trugen die Frauen Essen auf. Da die Schüsseln und Kummen für das Dutzend Männer nicht ausreichten, holten sie das eigene Geschirr. Die Sitzgelegenheiten reichten ebenfalls nicht aus. Ein Teil von ihnen hockte sich auf den Boden.

Es gab große dampfende Kartoffeln mit scharfer Soße. In einem anderen Topf befanden sich Picantes, ein stark gepfeffertes Gericht aus kleinen Schoten mit Huhn.

Alle Mann langten zu, als hätten sie tagelang nichts mehr gegessen. Das war mal etwas anderes als das schnelle Abkochen beim Biwak.

Inzwischen unterhielt sich Aloysius mit den Indios. Der eine hielt liebevoll die Axt im Arm, der andere konnte sich nicht mehr von dem Entermesser trennen und betrachtete es immer wieder mit verzückten Blicken.

„Sie möchten, daß wir noch ein paar Tage bleiben“, sagte Aloysius, „aber ich habe ihnen gesagt, daß jeder Tag ein verlorener Tag wäre, denn inzwischen müßten sich ihre Landsleute zu Tode schuften.“

„Haben sie es eingesehen?“

„Ja, natürlich. Aber die Leute sind überaus gastfreundlich. Sie werden Finley verwöhnen, daß der gar nicht mehr zurück will. Nehmen wir wenigstens das Angebot an, über Nacht zu bleiben? Drüben steht eine Hütte, in der Stroh liegt. Dort könnten wir schlafen.“

„Das nehmen wir dankend an“, sagte Hasard.

Aloysius besprach noch etwas mit den Indios. Hasard sah, daß die Männer lachten und sich amüsierten. Aloysius drehte sich um und sah den Profos an, der gerade eine große Kartoffel mampfte und sich die scharfen Schoten genüßlich in den Rachen schob.

„Ist was?“ fragte er kauend.

„Sagtest du nicht vor ein paar Tagen, der Herr hätte etwas vergessen? Da war doch die Rede von einem ungewaschenen Rübenschwein, für das der Herr schon mal ein Bächlein hätte fließen lassen dürfen, damit sich gewisse Schäfchen den Dreck abspülen können.“

„Stimmt, das sagte ich.“

Aloysius lächelte hintergründig.

„Der Herr hat ein Ohr für alle Wünsche, Bruder Edwin. Ich habe gesagt, daß er vielleicht eins fließen läßt.“

Carberry entsann sich und auch daran, daß der Padre so unergründlich dabei gelächelt hatte. Er hatte noch auf seine Kontakte zum Herrn angespielt, worauf der Pater versprochen hatte, er würde mal in einer stillen Stunde mit ihm reden.

„Heißt das, hier gibt es ein Bächlein, Bruder? Nun, wenn es hier eins gibt, dürfte das Wasser aber lausig kalt sein.“

„Steh auf, Bruder, dann werde ich dir etwas zeigen, natürlich auch den anderen.“

Zwischen den Hütten rannten Hühner umher. Auf einer Wiese, die zum Erstaunen der Männer ziemlich grün war, weideten Schafe. Die drei Hunde folgten ihnen kläffend.

Aloysius ging zielstrebig auf eine der letzten Hütten zu. Davor lagen Adobeziegel. Offenbar sollte noch eine weitere Hütte errichtet werden.

Etwa dreihundert Yards hinter der letzten Hütte befand sich eine Bodensenke, aus der leichter Dunst aufstieg. Wie Nebel sah das aus.

Der Profos blieb schluckend stehen. Auch die anderen sahen verblüfft in die Senke, wo alle paar Lidschläge ein Wasserstrahl aus dem Boden schoß. Ein kleiner See war dort, der einen unsichtbaren Abfluß hatte.

Aus dem Wasser schoß immer wieder ein breiter Strahl zischend und gluckernd in die Höhe und ergoß sich wie eine Riesenbrause in den kleinen See.

„Das hat der Herr hier fließen lassen“, sagte der Pater genüßlich, „damit sich die Schäfchen den Dreck abspülen können. Das ist ein Geysir, Bruder, mit herrlich warmen Wasser. Du siehst, der Herr hat nichts vergessen und an alles gedacht.“

„Ja, er denkt wirklich an alles“, sagte Ed schluckend, als hätte er einen dicken Kloß im Hals stecken.

„Man hat den Hof ganz bewußt in der Nähe dieses Geysirs gebaut. Das ist äußerst praktisch. So kann man selbst in der kältesten Jahreszeit baden und hat immer warmes Wasser. Deshalb wächst an dieser Stelle auch alles so prachtvoll.“

„Oh, Bruder, deine Kontakte zum Herrn sind wirklich von himmlischer Qualität. Wenn ich dieses Wässerchen sehe, gelüstet es mich nach einem Bad. Ob unsere Indiofreunde das wohl gestatten?“

„Selbstverständlich, sie haben es ja gleich angeboten. Sie können sich durchaus sehr gut in unsere Lage nach dem langen Marsch versetzen.“

Der Profos grinste fast lüstern, trat einen Schritt vor und tauchte die Hand ins Wasser. Dabei verdrehte er entzückt die Augen. Stenmark und Matt Davies taten es ihm nach. Matt Davies war so perplex, daß er seinen Eisenhaken ins Wasser tauchte und es erst merkte, als der Profos ihn anranzte.

„Doch nicht den Haken, du aufgegeiter Wanzenfänger! Die Hand mußt du nehmen.“

„Ich spür das auch mit dem Haken“, versicherte Matt. Dann tauchte er aber doch die linke Hand ins Wasser und stöhnte wohlig.

„Herrlich warm ist das“, schwärmte Stenmark. „Das ist ja wie ein Geschenk des Himmels, ist das.“

„Ist es auch“, sagte der Padre still.

„Hm, da könnte man sich gleich die Stoppelchen aus dem Gesicht kratzen“, erklärte der Profos. „Die wachsen bis Potosi ja doch wieder nach. Ist überhaupt ungewohnt, mit so einer Matte herumzulaufen.“

Jetzt erschienen auch die anderen mit dem zweiten Indio, der sie freudestrahlend heranführte und stolz auf den sprudelnden Geysir zeigte.

In den Gesichtern malte sich Verblüffung, ausgerechnet hier auf einen sprudelnden Geysir zu treffen.

„Das ist gar nicht so ungewöhnlich“, sagte Aloysius. „Die Puna ist im Osten und Westen von mächtigen Massiven gesäumt, die meist vulkanischen Ursprungs sind. Das hier ist auch nicht der einzige Geysir, es gibt weit verstreut noch ein paar kleine.“

Die Männer empfanden Dankbarkeit, daß sie endlich einmal aus den Klamotten kamen und sich waschen konnten. Und dann auch noch unter einer warmen Brause! Das war wirklich wie ein Geschenk.

Eine knappe halbe Stunde später grunzte der Profos vor Wohlbehagen wie ein Büffel und tummelte sich mit Dan O’Flynn, Stenmark, Matt und Gary Andrews in dem hüfthohen Wasser. Die anderen wollten anschließend baden.

Immer wieder tauchten sie prustend unter und konnten ihr Glück gar nicht fassen. Auf dem langen Marsch waren sie bescheiden geworden, und jetzt erfüllte sie ein warmes Bad mit unbeschreiblicher Freude.

Als die anderen den Tümpel wieder verlassen hatten, sprang der Profos immer noch auf und nieder. Dabei stieß er Töne aus, die an das Röhren eines Hirsches erinnerten.

Die meisten rasierten sich und nahmen die Bärte ab. Danach fühlten sie sich wie neugeboren.

Die Indios versorgten auch die Maultiere und führten sie auf die Weide, wo die Schafe grasten. Dabei sahen die Männer, daß die Familie auch Weizen, Mais und Bohnen anbaute. Hier, in der Nähe des kleinen Geysirs war die Erde wärmer und der Boden auch im Winter nicht gefroren.

Am Abend gab es wieder Kartoffeln und stark gewürzte Anticuchos, die mit Zwiebeln und Pfefferschoten gereicht wurden. Die Anticuchos waren kleine Hammelfleischstücke, die auf einen langen Spieß gesteckt wurden. Als die Indios herausgefunden hatten, daß die Männer gern Bier tranken, schenkten sie unermüdlich ein. Sie wurden schon wie Helden gefeiert, als hätten sie die Silberminen von Potosi längst lahmgelegt.

 

Nach dem Essen unterhielten die Indios sie mit Musik von einer Art, wie noch keiner der Männer sie gehört hatte. Es waren fremde, aber wohlklingende Töne, meist etwas schwermütig.

Der eine blies auf der Panflöte Sicus, die aus einem Dutzend Pfeifen bestand, die unten geschlossen und in Reihen miteinander verbunden waren. Der andere blies auf der blockflötenartigen Kena, die aus sieben Grifflöchern bestand und das Lieblingsinstrument der bolivianischen Indios war. Später wechselte er das Instrument gegen ein Bajón aus, ein Mundstückinstrument aus Baumrinde und gebranntem Ton.

Aus der Musik klang die Einsamkeit der Puna, das harte und entbehrungsreiche Leben der Indios.

Die Töne waren harmonisch, ein bißchen wehmütig und fast elegisch. Einer der Indios sang später mit heller klarer Stimme, während der andere ihn auf der Sicus begleitete.

„Sie besingen die Puna, die Berge und den Kondor“, erklärte der Pater.

Inzwischen war es längst dunkel geworden. Über der Puna blies der kühle Wind sein monotones Lied.

Nach diesem Tag hatten die Seewölfe ein ganz anderes Bild von den Indios mit ihrer alten Kultur. Stolz waren sie, aber ihr Stolz wurde von den Spaniern gebrochen. Sie wurden verschleppt, gefoltert, mit Bluthunden gejagt und versklavt. Und ihre Frauen wurden vergewaltigt.

„Wenn ich noch einmal von einem lausigen Don höre“, sagte Ed grimmig, „daß er von Indioaffen spricht, dann breche ich ihm das Genick, so wahr ich Edwin Carberry heiße. Wird höllisch Zeit, daß wir den Dons in die Silberminen spucken. Ich kann es kaum noch erwarten.“

„Ja, sie behandeln diese Leute wie Vieh“, sagte Hasard. „Aber wir werden bald Gelegenheit haben, unseren Plan durchzuführen. Wir brechen morgen gleich nach Sonnenaufgang auf.“

In dieser Nacht schliefen sie auf Stroh und brauchten keine Zelte aufzuschlagen. Hier gab es auch keinen Wind, der ihnen eisigkalt in die Knochen fuhr. Sie schliefen so gut wie schon lange nicht mehr.

5.

Am nächsten Morgen brachen sie auf und sahen noch einmal nach Fred Finley, der lebhaft bedauerte an dem Unternehmen nicht teilhaben zu können.

„Auf dem Rückweg holen wir dich wieder ab“, versprach Ribault. „Bis dahin ist dein Knöchel sicher geheilt. Und keine Sorge, Fred: Die Leute hier werden sich fürsorglich um dich kümmern.“

„Mast- und Schotbruch“, murmelte Finley gerührt. „Und bestellt den Dons einen Gruß von mir, aber einen kräftigen.“

Das versprachen sie alle grinsend. Dann beluden sie ihre Maultiere und verabschiedeten sich von der Indiofamilie. Alle guten Wünsche begleiteten sie.

Aloysius bedankte sich und erklärte noch einmal, daß das Bein von Finley in Ruhestellung bleiben müsse, so wie es jetzt geschient war, damit es heile. Aber darauf verstanden sich die Indios selbst.

Etwas später brach der Trupp auf. Die drei Hunde begleiteten sie noch ein Stück, dann kehrten sie um.

Vor ihnen lag die trostlose Weite der Puna. Einhundertfünfzig Meilen Fußmarsch. Aber jetzt würde der Marsch leichter sein als vorher.

Immer öfter war jetzt der Andenkondor zu sehen, wenn er in unglaublich großen Höhen seine einsamen Kreise zog. Es sah aus, als begleite er die Männer auf ihrem langen Marsch. Immer wieder sahen sie gebannt zu. Der Anblick des großen Vogels war faszinierend.

Die Tage in der Puna waren wieder heiß. In den Nächten dagegen wurde es bitterkalt. Sie kamen jedoch gut voran und konnten stramm ausschreiten. Das Land war rauh, vom Sturm gebeutelt. Nur ganz selten mal gab es einen Baum. Auch Großtiere fehlten. Es gab zwar den Puma, den Berglöwen, und das Huemul, einen geweihtragenden Hirsch, aber sie bekamen in den ersten beiden Tagen keines dieser Tiere zu sehen. Einmal sahen sie ein Vicuña, aber das kniff bei ihrem Anblick in langen Sätzen aus und verschwand hinter einer Mulde.

Auch die Vegetation war karg und dürftig. Meist gab es nur verschiedene Gräser, die von den Indios mit dem Sammelnamen „Ichu“ bezeichnet wurden. Die Halme der Ichugräser waren nadelartig und boten der trockenen Luft kaum eine Angriffsfläche. So hielt sich ihr Wasserverlust in geringen Grenzen.

Dann gab es ein flaches distelähnliches Gewächs. Die anderen Mulis verschmähten es, aber Diego blieb jedesmal stehen und fraß es bis zum Boden ab.

„Du bist vielleicht ein komisches Vieh“, sagte Ed. „Nachher hast du das ganze Maul voller Stacheln.“

Diego nickte und mampfte ungerührt weiter.

Am späten Nachmittag des ersten Tages deutete Dan O’Flynn voraus.

„Was ist denn das für ein Gebilde?“ fragte er. „Das sieht aus wie ein Baumstamm, der in der Mitte eine stachelige Perücke trägt.“

„Vielleicht erleben wir das Wunder der Puna“, sagte Aloysius. „Ich habe es bisher nur einmal gesehen, aber es ist überwältigend.“

„Ein Baumstamm mit Perücke soll überwältigend sein“, meinte Ed. „Das ist höchstens merkwürdig.“

„Laß dich überraschen, Bruder.“

„Sind ja nur noch zwei, drei Meilen“, schätzte Gary Andrews.

„Mindestens acht bis neun“, sagte der Padre. „In der Entfernung kann man sich gewaltig verschätzen, denn hier ist die Luft absolut staubfrei, und was man glaubt, mit Händen greifen zu können, ist noch sehr weit weg.“

Er hatte recht. Es dauerte noch eine Ewigkeit, bis sie das eigenartige Gebilde erreichten. Dann aber waren sie tatsächlich überwältigt und staunten nur noch, daß es in dieser Einöde so etwas gab.

Das Gewächs stand etwas geschützt an einem sanft ansteigenden Hang.

Niemand sprach ein Wort, alle starrten das Ding an. Es war etwa acht bis neun Yards hoch und von faszinierender Schönheit. Unten trug es ein dicker Stamm, dem die „Perücke“ folgte. Darüber hinaus wuchs ein riesiger, einem Maiskolben ähnlicher Stamm, der aus Tausenden von Blüten bestand. Und um diese Blüten schwirrten aufgeregt winzige Kolibris, die ihre langen Schnäbel immer wieder in die Blüten tauchten, um den Nektar herauszusaugen.

„Ich werd’ glatt verrückt“, sagte Ribault. „Hier, in dieser Einöde, wächst so eine phantastische Pflanze? Und dann gibt es hier auch noch Tropenvögel? Was ist das überhaupt, Bruder?“

Aloysius stand andächtig davor.

„Das ist die Puya, die allen Gesetzen des Absterbens trotzt. Man sagt, sie wuchs schon hier, als dieses Land noch flach und sumpfig war. Offenbar hat sie sich bei der Entstehung des Gebirges angepaßt und an immer größeren Höhen gewöhnt. Diese Puya ist etwa hundert Jahre alt, erst dann bildet sie ihre Blüten aus. Es ist mit Sicherheit die einzige, die wir sehen werden, wenn sie in voller Blüte steht. Leider stirbt sie nach dem Blühen ab, aber vorher tut sie noch einmal alles, um ihre Art zu erhalten und zu verbreiten. Die Kolibris fliegen von tief unten aus den Yungas herauf, wenn die Puya blüht, und laben sich an dem süßen Saft der Blüten. Ist sie nicht ein Wunder?“

Das wurde ausnahmslos und staunend bestätigt. Selbst in der öden Puna gab es immer noch etwas zu entdecken, und eine Überraschung folgte der anderen.

In dieser Nacht kampierten sie in einer geschützten Mulde in ihren Zelten und hüllten sich dick in die Decken ein, denn die Nacht war wieder eisigkalt, und der Wind pfiff scharf heran.

Gleich in der Frühe des anderen Morgens gab es die nächste Überraschung, und sie erhielten ungewöhnlichen „Besuch“.

Die Mulis waren bepackt, und die Truppe setzte sich in Bewegung, als Dan O’Flynn aufgeregt nach oben zeigte.

„Ein Kondor“, sagte er. Aber das schreckte die anderen längst nicht mehr auf. Sie wären den Anblick der Riesenvögel bereits gewohnt.

Aber dieser Kondor war offenbar sehr neugierig, denn er ging immer tiefer hinunter, in der eindeutigen Absicht, genau auf die Männer zuzufliegen.

Verblüfft starrten sie nach oben.

„Der Geier wird doch uns nicht holen wollen“, murmelte Gary, „der scheint keine Angst zu haben.“

Selbst der Padre hatte Ähnliches wohl noch nie erlebt, denn er blickte ebenfalls fassungslos auf den Vogel, der immer größer und immer gewaltiger wurde. Jetzt war er bestenfalls noch fünfzig Yards hoch und sehr deutlich zu erkennen.

Fast schwerelos schwebte er heran, immer noch auf die erstaunten Männer zu, denen es langsam mulmig wurde.

Da waren weitausladende mächtige Schwingen, die jetzt einmal kraftvoll und rauschend durch die Luft schlugen. Der riesige Kondor verdeckte mit seinen Flügeln fast den Himmel.

Aus der Nähe betrachtet, wirkte er längst nicht mehr so elegant und majestätisch. Jetzt schwebte er mit mächtigem Flügelschlag höchstens noch zehn Yards hoch über den Männern. Deutlich war der Wind zu spüren, den seine riesigen Schwingen verursachten.

Der Kondor war hager, seine Nähe beunruhigend und erschreckend. Er hatte einen abstoßenden Kopf mit nackten Kehllappen, einen furchterregenden riesigen Schnabel und großen Hautfalten um die Augen.

Diese Augen sahen kalt und berechnend auf die Männer, als handele es sich um leichte Beute. Der Glanz der Augen war böse und wirkte einschüchternd. Der Vogel schien unheimlich gut sehen zu können.

Immer noch schlug er wild mit den Schwingen auf und ab. Dann umkreiste er die Gruppe.

Als der Profos hochsprang und dabei in die Hände klatschte, traf ihn ein eiskalter Blick, der ihm durch und durch ging. Das Geklatsche störte den Riesenvogel nicht im geringsten.

Er flog eine weite Schleife, stieg dann höher hinauf und ließ sich von dem Wind in die Höhe tragen. Als er genau über den Männern stand, unternahm er den zweiten Anflug und stürzte nochmals bis auf sechs, sieben Yards hinunter.

Alle duckten sich instinktiv. Dieser Neuweltgeier war zwar ein Aasfresser, aber vielleicht hatte er heute seinen hungrigen Tag.

Er schien jeden einzelnen der Gruppe genau zu mustern, legte den Kopf schief und sah von einem zum anderen.

Erst dann strich er mit wildem Flügelschlag ab. Er ging in Schräglage, nutzte den Aufwind aus und schwebte zu den fernen Bergen hinüber. Dort schraubte er sich langsam in die Höhe, und nach einer Weile sah er wieder elegant und majestätisch aus.

„Das habe ich auch noch nicht erlebt“, sagte Aloysius. „Der hat sich sehr ausgiebig für uns interessiert.“

„Er musterte jeden einzelnen von uns“, sagte Hasard. „Dabei interessiert er sich doch nur für Aas.“

„Vor ein paar Tagen hätte ich das ja noch verstanden“, sagte der Profos, „da haben wir noch wie die Schweinchen gestunken. Aber jetzt sind wir frisch gebadet.“ Dann legte er den Zeigefinger an die Nasenspitze und fügte hinzu: „Vielleicht war’s doch Old O’Flynn, der nur mal sehen wollte, wie es uns so geht. Der hatte genau den gleichen Blick wie dein Alter drauf, Dan, wenn er jemanden mustert. Dann stiert er auch immer so scharfäugig.“

„Himmel, redest du wieder einen Stuß“, sagte Dan. „Das mit meinem Alten ist dir wohl nicht auszutreiben, was? Glaubst du Riesenhirsch denn etwa, der kann sich in einen Kondor verwandeln? Der hat so ein Vieh ja noch nie gesehen.“

„Old O’Flynn kann fast alles“, erklärte Ed, und dann verstieg er sich gleich zu einer weiteren Behauptung, die bei den anderen Kopf schütteln auslöste.

„Irgend etwas stimmte mit dem Geier jedenfalls nicht. So benimmt sich kein Kondor.“

„Woher weißt du denn, wie sich ein Kondor benimmt?“

„Vielleicht war’s ein spanischer Spion, den sie von Potosi geschickt haben, um hier die Gegend zu überwachen. Sie können ihn ja dressiert haben, so wie man das mit Albatrossen macht – oder wir mit den Brieftauben auf der Schlangen-Insel.“

Der Seewolf griff sich verzweifelt an den Kopf.

„Laß das bloß keinen hören. Ed. Ein Kondor als spanischer Spion! Und der fliegt jetzt zurück und verklart den Dons, daß ein Dutzend Engländer unterwegs ist, um Potosi anzugreifen.“

„Warum nicht“, sagte Ed ungerührt. „Das ist eben meine Theorie.“

„Und du glaubst, er spricht Spanisch mit den Dons?“ fragte Dan höhnisch.

Die Antwort haute ihn fast um.

„Ich hab noch keinen Kondor quatschen hören. Aber sie können ihm ja beigebracht haben, daß er beispielsweise so und so oft mit den Flügeln schlägt. Ein Stummer quasselt ja auch nicht, sondern drückt sich durch Gesten aus.“

Hasard lachte verhalten. Mitunter entwickelte der Profos Theorien, die himmelschreiend waren.

 

„Erst war’s der alte O’Flynn“, sagte er lachend, „und als das nicht zog, wurde ein spanischer Spion daraus, der sich durch Flügelschlagen verständigt.“

„Lacht nur“, maulte Ed beleidigt. „Ein normaler Kondor war das jedenfalls nicht, sonst hätte er nicht so geglotzt.“

Darin mußten sie ihm allerdings recht geben. Das Verhalten des Vogels war recht ungewöhnlich gewesen.

„Vielleicht war’s Sir John“, sagte Matt grinsend, „der Kreischgeier hat sich in einen Kondor verwandelt und wollte mal sehen, wie’s dem lieben Herrn und Meister so geht. Deswegen hat er dich auch besonders genau gemustert.“

„Meinst du?“ fragte Ed zweifelnd.

„Davon bin ich überzeugt.“

Pater Aloysius amüsierte sich köstlich. Die Kerle führten so erbauliche Dialoge, daß keine Langeweile aufkam. Er fühlte sich in ihrer Gesellschaft ausgesprochen wohl.

In dieser Nacht kampierten sie wieder in einer der zahlreichen Mulden, die etwas vor dem beißenden Wind geschützt waren. Dann begann der dritte Tag ihres Marsches durch die Puna.

Hasard hatte grob gerechnet, daß sie pro Tag etwa dreißig Meilen zurücklegten. Es gab keine Hindernisse mehr und so konnten sie stramm und zügig marschieren.

Am Vormittag wurde Dan O’Flynn auf ein paar winzige Punkte aufmerksam, die die anderen noch nicht bemerkt hatten. Sie waren auch noch sehr klein und kaum zu bemerken.

„Da bewegt sich etwas“, sagte Dan.

Er ging zu dem Maultier hinüber und nahm ein Spektiv aus der Satteltasche. Langsam zog er es auseinander und blickte gespannt hindurch.

„Eine langgezogene Kolonne“, murmelte er. „Sie bewegt sich in östlicher Richtung.“

„Soldaten?“ fragte Hasard.

„Ja, Soldaten, Maultiere und gebeugte Gestalten. Offenbar Gefangene – Indios.“

„Sklaven für Potosi“, sagte Hasard hart. „Das ist eine logische Schlußfolgerung. Die Trupps aus Arica sind mal wieder am Werk gewesen, um menschliches Arbeitsvieh zu beschaffen. Da steigt mir die Galle hoch. Das sind jene Trupps, die auch die Padres von Tacna vereinnahmen wollten.“

„Wenn ihr nicht eingegriffen hättet, wären wir jetzt sicher auch schon in Potosi“, sagte Aloysius grimmig.

Hasard deutete auf die kaum sichtbaren Punkte und wandte sich fragend an den Padre.

„Ist das die Route Arica-Potosi?“

„Ja, das ist sie“, bestätigte Aloysius. „Sie verläuft vom Westen her.“

„Was tun wir, Sir?“ fragte Ed kampflustig. „Den Dons eins auf die Ohren hauen?“

„Zuerst gehen wir in jener Mulde dort in Deckung, damit wir nicht gesehen werden. Dann beratschlagen wir.“

Er warf auch noch einen Blick durchs Spektiv und nickte grimmig.

„Ja, kein Zweifel, es sind Gefangene.“

Die Mulde bot guten Sichtschutz. In aller Eile verbargen sie sich mit den Maultieren darin.

„Ich bin dafür, daß wir die Gefangenen befreien“, sagte Hasard. „Ist jemand anderer Meinung?“

„Ich ganz bestimmt nicht“, versicherte Ed. „Diesen Menschenschindern gehört ordentlich was aufs Maul.“

Die beiden streitbaren Padres waren ebenfalls dafür, und auch die anderen stimmten sofort zu.

„Gut, dann pflocken wir jetzt die Maultiere an und überprüfen unsere Waffen“, sagte der Seewolf. „Einer muß bei den Tieren zurückbleiben. Wer übernimmt das?“

Keiner meldete sich. Der Profos blickte in eine andere Richtung, als könne er mit der Frage niemals gemeint sein.

„Hm, dann lassen wir das Los entscheiden.“

Das Los fiel schließlich auf Gary Andrews, der in der Mulde bei den Tieren zurückbleiben mußte. Die Mulis wurden angepflockt, dann überprüften sie ihre Pistolen und steckten auch die Entermesser ein.

„Wir bleiben immer in Deckung der Mulden“, sagte Hasard. „Also in südöstlicher Richtung. Dort werden wir die Kolonne abfangen.“

Gary Andrews blickte ihnen nach, als sie von Deckung zu Deckung eilten. Er wäre gern mit dabei gewesen, aber das Los hatte nun mal anders entschieden.