Seewölfe Paket 23

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„Das fängt ja gut an“, sagte Donald. Er hob die Würfel auf. „Aber wenn ich zwei Sechsen und eine Eins werfe, was ist dann?“

„Du kriegst sie nicht.“

Donald würfelte – zwei Sechsen und eine Fünf. Albert stieß einen leisen Pfiff aus. Wieder nahm er die Würfel auf – und so ging es weiter, während die sechs anderen Männer sich anschickten, Arica zu betreten.

„Wir sind Seeleute, vergiß das nicht“, sagte Le Testu, als sie sich den Hafenanlagen von Arica näherten. „Wer dich auch anspricht, du antwortest auf spanisch.“

„Ich vergesse es nicht“, sagte Montbars. „Aber dieser Hafen ist größer, als ich ihn mir vorgestellt habe.“

„Arica soll an die dreißigtausend Einwohner haben“, sagte Le Testu. „Das hat Pater Franciscus mir erzählt, als wir in seinem Tal waren.“

„Donnerwetter.“ Montbars verfolgte aus wachen Augen den regen Betrieb, der am Kai herrschte. Nein, dort konnten sie wirklich nicht auffallen. Sie blieben völlig unbeachtet, als sie sich unter die Männer und Frauen mischten, die unterwegs waren und ihren verschiedenen Tätigkeiten nachgingen.

In einiger Entfernung entdeckten sie auch zwei Soldaten der Stadtgarde, aber die waren sehr schnell wieder in einer der Gassen verschwunden. Der Patrouillendienst schien lax zu sein, kein Mensch wurde kontrolliert.

„Die fühlen sich sehr sicher, was?“ zischte Montbars seinem Freund zu. „Aber das ändert sich noch.“

„Da vorn“, sagte Le Testu. „Könnte das nicht ein Waffendepot sein?“

Sie näherten sich einem wuchtigen Bau aus Quadersteinen, der festungsähnlich zwischen den anderen Häusern am Hafen aufragte. Hier verharrten sie eine Weile und konnten beobachten, wie ein Soldat erschien, das Tor des Gebäudes öffnete und darin verschwand. Kurz darauf schob ein anderer Soldat das Tor von innen auf, sprach ein paar Worte zu dem Mann, der eingetreten war, und verließ das Gebäude. Er schritt davon, ohne sich umzusehen.

„Das war die Wachablösung“, sagte Le Testu. „Hast du was erkennen können?“

„Ja, durch den Torspalt“, erwiderte Montbars leise. „Der Bau ist voll mit Waffen. Schuß-, Hieb- und Stichwaffen. Lafetten und Geschützrohre. Kugeln aller Kaliber. Mehr habe ich nicht sehen können.“

Le Testu grinste. „Das reicht ja auch. Es ist also wirklich ein Depot. Vielleicht sind im Inneren noch mehr Soldaten, nicht nur der eine.“

„Ja, das ist möglich.“

Das Depot befand sich in der südlichen Hälfte des Hafens – also ganz in der Nähe des Morro de Arica. Zu diesem Gemäuer schauten Le Testu und Montbars eine Weile auf, dann schritten sie weiter.

Kurze Zeit darauf entdeckten sie nördlich des Depots, etwa in der Mitte des Hafens, hinter dem Kai mehrere Holzschuppen, in denen Lebensmittel, Fässer und Schiffsausrüstungen gelagert waren.

Montbars stieß Le Testu mit dem Ellenbogen an.

„Da könnte man ein bißchen zündeln“, murmelte er. „Keine schwierige Arbeit. Aber das Depot müssen wir sprengen, daran führt kein Weg vorbei.“

„Die Ladungen müssen entsprechend stark sein, sonst stürzen die Mauern nicht ein“, sagte Le Testu. „Na, das werden wir noch ausgiebig genug mit Ferris und Al besprechen.“

Ferris Tucker und Al Conroy hatten sich unterdessen in die Nähe des Morros begeben und setzten sich dort unter einen Baum, von dem aus sie nahezu die ganze Anlage überblicken konnten. Sie wirkten wie zwei harmlose Seefahrer, die gerade erst eingetroffen waren und sich die Stadt ansahen.

Mit gleichmütigen Mienen verfolgten sie, wie Soldaten das Gemäuer verließen und andere es betraten. Ein Marketenderwagen rollte heran, das Tor wurde ganz geöffnet, und Ferris und Al hatten eine günstige Gelegenheit, in den Hof zwischen den verschiedenen Festungsgebäuden zu blicken.

„Sieh dir die dicken Mauern an“, sagte Ferris.

„Es sind nicht nur die dicken Mauern, die mir zu denken geben“, sagte Al.

„Mein lieber Mann“, sagte der rothaarige Riese. „Diese Befestigungsanlage ist eine ziemlich harte Nuß. Sie ähnelt einem kleinen Küstenfort, ist ganz von der Mauer umgeben und gespickt mit Kanonen.“

„Kanonen ziemlichen Kalibers“, brummte Al.

Sie betrachteten die Rohre der Geschütze, die zwischen den Zinnen hervorragten.

„Ja, das sind wohl alles Culverinen“, sagte Ferris. „Auch ein paar Demiculverinen, aber die sind nicht der Rede wert. Auch die zwei Minions da oben nicht.“

„Es sind Falkons“, sagte Al.

„Ist mir auch recht“, sagte Ferris. „Hast du gesehen, daß innen, am Fuß der Anlage ein Steinturm aufragt?“

Al pflückte eine kleine Blume und lächelte. „Klar. Ein trutziges Ding. Das Flachdach ist ebenfalls mit Zinnen und Schießscharten versehen. Und dort oben sind Drehbassen aufgebaut.“

Das Tor war inzwischen wieder geschlossen worden, der Marketenderwagen befand sich im Inneren der Festung. Ferris hatte den Turm aber noch deutlich in Erinnerung: viereckig und aus dicken Steinquadern gemauert, mit länglichen Schlitzen, wahrscheinlich an allen vier Seiten, die als Schießscharten dienten.

„Jawohl“, murmelte er. „Es ist der Pulverturm.“

„Feine Sache“, brummte Al. „Da kommt keiner ran.“

„Scheiße“, sagte Ferris.

„Genau das“, pflichtete Al ihm bei.

Die ganze Anlage stand auf einer felsigen Landzunge, die zur Insel geworden war – durch menschliche Hand. Um ihren Morro zusätzlich zu sichern, hatten die Spanier einfach ein Stück der Landzunge weggesprengt und sie somit unterbrochen. Das fehlende Stück war durch eine Zugbrücke ersetzt worden, die vom Fort aus bedient wurde. Zur Zeit war sie heruntergelassen.

„Die Zugbrücke“, sagte Ferris leise. „Nachts ziehen sie sie garantiert hoch. Aber das müssen wir noch feststellen.“

„Wenn es dunkel wird“, sagte Al.

„Na schön“, sagte Ferris. „Und wenn wir wissen, daß die Dons ihre verdammte Zugbrücke hochkurbeln, was haben wir dann gewonnen?“

„Verlierst du schon die Geduld?“

„Nein. Ich frage mich nur, wie wir an den Klotz herankommen.“

„Mit einem Boot natürlich“, sagte Al. „Die einzige Möglichkeit ist, nachts an den Morro heranzupullen, um ihn zu knacken. Wir müssen über die Mauer weg und bis zum Pulverturm vordringen.“

Ferris grinste dünn. „Bestens, dein Plan. Du vergißt nur die Wachtposten und die Kanonen. Bilde dir bloß nicht ein, daß die Dons pennen. Darauf können wir uns nicht verlassen.“

„Das tue ich auch nicht“, entgegnete Al. „Und uns wird schon noch was Besseres einfallen.“

Sie erhoben sich wieder und schlenderten davon, um nicht aufzufallen. Langsam lenkten sie ihre Schritte dem Hafen entgegen, als seien sie im Begriff, zu ihrem Schiff zurückzukehren. Dabei dachten sie unablässig darüber nach, wie man am besten in den Morro de Arica eindringen konnte. Aber es schien keinen anderen Weg zu geben – sie würden im Schutz der Dunkelheit mit einem Boot landen und die Mauer überklettern müssen.

4.

Roger Lutz und Grand Couteau befanden sich unterdessen im Zentrum der Stadt. Sie hatten sich nach der Karte von Pater Franciscus orientiert, die ihnen von Le Testu mitgegeben worden war, und hätten mühelos die Plaza gefunden. Sie war ellipsenförmig angelegt. Dicht drängten sich die Steinhäuser aneinander, deren Fassaden zum Teil weiß und grau gestrichen waren.

Mehr als ein Dutzend Gassen öffneten sich zur Plaza. Roger und sein Freund benutzten eine dieser Gassen und mußten ausweichen, als eine vierspännige Karosse an ihnen vorbeirollte.

„He“, sagte Grand Couteau wütend. „Der hätte mich beinah angefahren.“

„Nicht so laut“, sagte Roger und zupfte ihn am Ärmel.

Glücklicherweise hatte Grand Couteau die Geistesgegenwart gehabt, sich des Spanischen und nicht seiner Muttersprache zu bedienen. Er blickte der davonfahrenden Kutsche nach – sie überquerte die Plaza. Um ein Haar wäre er über die Füße eines auf einer Eingangstreppe sitzenden Mannes gestolpert. Er wandte sich halb um und murmelte eine Entschuldigung.

Der Mann grinste die beiden an. Er war mager und hatte ein runzliges, verkniffenes Gesicht. Sein Alter war schwer zu schätzen, er mochte vierzig oder aber auch sechzig Jahre alt sein.

„Legt euch mit dem nicht an“, sagte er. „Das ist Diego de Xamete, der Bürgermeister.“

„Aha“, sagte Roger Lutz: „Und der braucht auf keinen Rücksicht zu nehmen, wie?“

„Er tut, was er will“, erklärte der Spanier. „Und ich wünsche ihm, daß er sich den Hals bricht.“

„Hast du einen besonderen Grund dafür?“ fragte Grand Couteau überrascht.

„Ihr seid neu hier, was?“

„Wir kommen gerade aus dem Hafen“, antwortete Roger Lutz.

Der Spanier musterte sie aufmerksam aus seinen kleinen, wachen Augen. „Ich kann mich nicht entsinnen, daß heute früh ein Schiff eingelaufen ist. Na, ist ja auch egal.“ Er grinste immer noch. „Ich heiße Furio Benares. Und ihr?“

„Ich bin Rujero“, erwiderte Roger. „Das ist Cotello, mein Freund.“

Furio Benares nickte ihnen zu. „Herzlich willkommen in dieser verfluchten Stadt. Ich wäre schon längst abgehauen, aber dazu fehlt mir das Geld. Ich hatte einen kleinen Laden als Schiffsausrüster, aber der Hund von einem Bürgermeister hat mich kaputtgemacht. Er hat nicht nur hohe Steuern verlangt, er hat auch Schmiergeld kassiert – um wegen kleiner Unregelmäßigkeiten, die die Größe und Einrichtung meines Ladens betrafen, beide Augen zuzudrücken. Ich mußte mir Geld leihen und konnte die Wucherzinsen nicht bezahlen. So ging ich pleite. Jetzt sitze ich da und verdiene mir mit Gelegenheitsarbeiten mein Brot.“

„Bei wem hast du dir das Geld denn gepumpt?“ fragte Roger.

„Dreimal darfst du raten.“

 

„Bei Diego de Xamete?“

„Ja.“

„Heiliger Strohsack“, sagte Grand Couteau. „Das scheint ja ein ganz übler Hai zu sein.“

„Der schlimmste von allen“, brummte Benares. „Aber komm rein, ich lade euch auf ein Gläschen Wein ein. Ich bin froh, mal mit jemandem sprechen zu können.“

„Nachher“, sagte Roger. „Auf dem Rückweg. Erst müssen wir ein paar Besorgungen erledigen.“

„Laßt euch nicht übers Ohr hauen“, sagte Benares. „Die meisten Läden gehören dem Bürgermeister.“

Roger und Grand Couteau gingen weiter und zur Plaza.

„Dieser de Xamete scheint ein prächtiges Kerlchen zu sein“, sagte Roger leise. „Hast du ihn in der Kutsche gesehen? Er ist dick und fett wie alle diese Bastarde, die ein höheres Amt haben.“

„Ich hätte Lust, dem eine Flaschenbombe in die Karosse zu werfen“, sagte Grand Couteau.

Roger war fast versucht, zu lachen. „Wir können ja mal mit Ferris darüber reden.“

Sie gingen über die Plaza, und Roger fiel plötzlich eine junge Frau mit pechschwarzen, gelockten Haaren auf, die in einer Schenke verschwand.

„Hast du die gesehen?“ fragte er Grand Couteau. „Mann, dieses Gesicht! Und die Figur! Hinreißend!“

„Ich habe sie gesehen“, erwiderte Grand Couteau. „Aber sie ist eine Hure, mein Freund.“

„Habe ich das bezweifelt? Die meisten Frauen in den Hafenstädten sind das, aber welche Rolle spielt das schon?“

Grand Couteau seufzte. „Sicher hast du recht. Aber denk daran, Le Testu hat gesagt, wir sollen die Finger von Weiberröcken lassen. Das ist ein Befehl.“

„Für heute“, sagte Roger. „Morgen – oder heute abend – sieht’s vielleicht schon wieder anders aus. Möglicherweise gehört es zu den taktischen Mitteln, auch mal einen schrägen Vogel über die Zustände in Arica auszufragen.“

„Du kannst es wohl nicht lassen, was?“

„Vielleicht kennt sie den Sargento“, sagte Roger.

„Da kannst du auch diesen Furio fragen“, sagte Grand Couteau. „Der wird dir bereitwillig Auskunft geben, wenn du ihm die Zeichnung zeigst.“

„Immer vorsichtig sein“, sagte Roger. „Er könnte auch ein Spitzel sein. Noch wissen wir es nicht.“

Sie gingen am westlichen Rand der Plaza entlang und näherten sich der Nordseite, und dann wurde ihre Aufmerksamkeit durch etwas völlig anderes gefesselt. Ein düsterer Bau ragte an der Nordseite auf, er stand hinter einer hohen Mauer.

„Das ist das Stadtgefängnis, jede Wette“, sagte Roger. „Herrgott, nun sieh dir das an.“

Vor dem Mauertor, der Plaza zugewandt, standen fünf Indios am Pranger, die Hälse zwischen den beiden aufklappbaren Holzhälften eingeschlossen. Sie waren nur mit ihren Lendenschurzen bekleidet – und völlig hilflos den Passanten ausgeliefert.

An der Mauer war eine Tafel angebracht, auf die jemand mit schwarzer Farbe etwas geschrieben hatte. Roger und sein Freund blieben stehen und lasen, was da stand.

„Bürger von Arica“, las Roger leise vor. „Diese fünf Wilden haben sich geweigert, die ehrenvolle Aufgabe anzunehmen, für Seine Allerkatholischste Majestät, den König von Spanien, in den Minen von Potosi zu arbeiten. Dorthin aber werden sie zur Strafe jetzt erst recht gebracht.“

Grand Couteau blickte zum Pranger, während Roger dies vorlas. Er sah, wie ein junger Spanier die Indios nacheinander ohrfeigte. Ein paar andere junge Männer lachten und spuckten die armen Teufel an.

Eine dicke Frau schrie: „Ihr Affen! Früher habt ihr Menschen gefressen! Seid froh, daß man euch nicht aufhängt!“

„O Mann“, sagte Grand Couteau mit verzerrtem Gesicht. „Mir steigt die Galle hoch, Roger. Halt mich fest.“

„Reiß dich zusammen“, zischte Roger. „Es wäre mehr als dumm, wenn wir jetzt was unternehmen würden. Halt die Luft an und bezwing dich.“

Die Indios mußten nach vorn gebückt stehen, weil die Löcher für die Hälse niedriger als in gewöhnlicher Schulterhöhe angebracht waren. Sie wurden immer wieder geohrfeigt, bespuckt und vom Pöbel verhöhnt und beschimpft.

„Ein schamloses Schauspiel“, murmelte Grand Couteau, als sie weitergingen, um nicht aufzufallen. „Man sollte diesen fetten Bürgermeister, dieses korrupte Schwein, an den Pranger stellen. O Hölle, ich brauche was zu trinken, sonst haue ich diese Kerle da noch um.“

Sie suchten eine kleine Kneipe auf und bestellten sich jeder einen Becher Wein. Schweigend tranken sie und blickten aus dem Fenster auf die Plaza. Der Pöbel bereitete sich einen Spaß daraus, die Indios zu schlagen und mit den unflätigsten Ausdrücken zu beschimpfen. Am allerschlimmsten benahm sich die dicke Frau.

„Da, jetzt werden sie erlöst“, sagte Roger plötzlich. „Was hat das zu bedeuten? Hat man sie begnadigt? Das kann ich nicht glauben.“

Soldaten marschierten aus dem Gefängnis und öffneten die Holzhälften. Andere Soldaten trieben fünf Indios heran, und jetzt wurde klar, welchem Zweck die Aktion diente. Die fünf Indios wurden vom Pranger gezerrt und ins Gefängnis zurückgeführt. Dafür wurden die fünf „Neuen“ an den Pranger gestellt und mußten die Prozedur über sich ergehen lassen.

„Wir bleiben erst mal sitzen“, sagte Roger. Sein Gesicht war wie aus Stein gemeißelt. „Ich will wissen, wie das weitergeht.“

Bald erfuhren es die beiden. Jede Stunde wurden die fünf Indios am Pranger ausgetauscht – die jeweiligen „Sünder“ wurden dabei einfach wahllos aus einer großen Menge von Indios herausgegriffen, die man unter Bewachung im Hof des Gefängnisses zusammengepfercht hatte.

Roger Lutz und Grand Couteau registrierten das, denn sie konnten immer dann, wenn der Wechsel am Pranger stattfand, einen Blick in den Hof werfen.

„Völliger Wahnsinn“, sagte Roger. „Diese Schweinerei soll der Abschreckung und Einschüchterung dienen.“

„Es gibt sicherlich auch unter den Indios gute und schlechte Kerle“, sagte Grand Couteau gepreßt. „Aber das haben sie nicht verdient, wirklich nicht.“

Roger leerte seinen Becher. „Jedenfalls haben wir jetzt die Bestätigung, daß die Indios hier für den Abtransport nach Potosi zusammengetrieben und gesammelt werden.“

„Ja“, sagte Grand Couteau. „Und vorher werden sie gedemütigt, ganz abgesehen davon, daß man sie hungern und dursten läßt.“

Die Indios ergaben sich in ihr Schicksal. Was blieb ihnen anderes übrig? Wer zu fliehen versuchte, wurde auf der Stelle erschossen. Groß waren der Lebenswille, der Selbsterhaltungstrieb und die Hoffnung, eines Tages doch wieder in Freiheit in das Dorf zurückzukehren, aus dem die Soldaten sie mit Gewalt geholt hatten.

So litten die Indios stumm, manche von ihnen völlig apathisch und abgestumpft, andere mit zusammengebissenen Zähnen und voll Haß. Roger und Grand Couteau konnten an ihren Mienen ablesen, was in ihnen vorging. Die einen resignierten, die anderen hätten sich auf die Spanier gestürzt, wenn sie nur eine Waffe gehabt hätten.

„Sieh mal“, sagte Grand Couteau plötzlich. „Da wird Nachschub herangeführt.“

Roger blickte über die Plaza, dorthin, wohin sein Freund wies, und sah die kleine Kolonne von etwa zwanzig Indios, die sich dem Stadtgefängnis näherte – elende, zerschundene Gestalten, von denen die meisten gebückt vorwärtsstolperten. Man hatte sie mit Ketten gefesselt, einige waren schon so schwach, daß sie unter der Last der Fesseln zusammenzubrechen drohten – und unter der Wucht der Peitschenhiebe.

Vierzehn Soldaten eskortierten den Leidenszug.

„Paß auf“, sagte Roger plötzlich. „Das Kommando hat ein Sargento.“

„Der Kerl, der mit der Peitsche auf sie einprügelt?“

„Den meine ich.“ Roger saß jetzt hochaufgerichtet und ließ den Spanier nicht mehr aus den Augen.

„Zeig mir noch mal das Bild“, sagte Grand Couteau.

„Nein, jetzt nicht.“

„Du glaubst, daß er …“

„Ich bin sicher, daß er es ist“, zischte Roger. „Der Hund, den Anacoana gemalt hat. Das ist er, der Bastard, wie er leibt und lebt.“

Der Zug war fast heran, und es hatte den Anschein, als wolle Roger aufspringen und nach draußen rennen. Aber Grand Couteau griff über den Tisch und packte seinen Arm.

„Hör mal gut zu“, sagte er leise, aber eindringlich. „Du hast mich eben zurückgehalten, weil es Wahnsinn wäre, jetzt was zu unternehmen. Richtig?“

„Richtig.“ Roger verfolgte, wie der Sargento und die Soldaten die Indios in den Gefängnishof trieben. Seine Muskeln waren angespannt, er schien immer noch aufspringen zu wollen.

„Mach jetzt keinen Quatsch“, sagte Grand Couteau. „Du kriegst ihn noch, ganz bestimmt.“

„Ja.“

„Dreh jetzt nicht durch, Mann!“

Roger sah seinen Freund an. „Wer dreht denn durch? Ich vielleicht? Ich bin ganz ruhig und gelassen.“

„Dann ist ja alles gut.“

„Der Schankwirt sieht zu uns rüber“, murmelte Roger. „Achte darauf. Los, bestellen wir noch einen Wein.“

„Willst du betrunken zur Hütte zurückkehren?“

„Ach, rede doch keinen Unsinn“, sagte Roger. „Von dem bißchen Wein werde ich noch lange nicht blau.“ Er hatte aber trotzdem das Gefühl, seinen aufwallenden Haß irgendwie betäuben zu müssen. Er winkte dem Wirt zu, und dieser kam zu ihnen an den Tisch und holte die leeren Becher.

„Noch ’ne Runde“, sagte Grand Couteau.

„Ja. Wollt ihr auch an den Pranger?“

„Wie bitte?“ fragte Roger verdutzt.

„Manche Leute sehen es als einen Zeitvertreib an, die Indios zu schlagen und zu treten“, sagte der Wirt. „Pfui Teufel. Ich kann Menschen nicht leiden, denen es Spaß bereitet, andere zu quälen.“

„Wir auch nicht“, sagte Roger. „Aber das scheint hier in Arica üblich zu sein.“

„Ich sollte meinen Mund halten“, flüsterte der Wirt. „Aber ich glaube, ihr sagt nichts weiter. In Arica liegt manches im argen, und es wäre gut, wenn mal jemand mit einem Eisenbesen auskehren würde. Einer der größten Hurensöhne ist der Bürgermeister. Aber das behaltet ihr ja für euch.“

„Klar“, sagte Roger. „Warum trinkst du nicht einen Becher Wein mit uns?“

Das tat der Wirt, denn um diese Zeit hatte er keine anderen Gäste. Roger und Grand Couteau erfuhren unter anderem, wie der Sargento hieß: Zeno Manteca.

„Er ist der größte Menschenschinder, den es gibt“, sagte der Wirt. „Wenn ihm jemand nicht paßt, macht er ihn fertig. Das gilt auch für uns Bürger der Stadt. Ich bin mal mit ihm aneinandergeraten, als er hier eine Schlägerei vom Zaun brechen wollte. Anschließend habe ich eine hohe Strafe zahlen müssen.“

„An den Bürgermeister?“ fragte Roger.

„Ja.“

„Das habe ich mir gedacht.“

Der Wirt biß sich auf die Unterlippe. „Ich glaube, ich habe schon zuviel gesagt. Könnt ihr schweigen?“

„Hör zu“, sagte Roger. „Ich bin ein Ehrenmann, und das gilt auch für meinen Freund Cotello hier. Wir können schweigen. Warum informiert keiner den Provinzgouverneur über das, was hier so vorgeht?“

„Der Adelantado ist noch schlimmer als de Xamete“, erwiderte der Wirt. „Er sitzt in Potosi.“

„Ach so“, sagte Grand Couteau. „Ja, von dem haben wir auch schon gehört. Aber ich finde es nicht richtig, daß man euch Bürger derart zur Ader läßt. Hat der Bürgermeister keine Angst, daß ihm was zustoßen könnte?“

„Solange Männer wie Manteca ihn beschützen, kaum.“

„Daran könnte sich etwas ändern“, sagte Roger Lutz, dann zahlte er die Zeche, bedankte sich bei dem Wirt und verließ mit Grand Couteau die kleine Kneipe an der Plaza.

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