Seewölfe Paket 23

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Mit wenigen Sätzen war Montbars am Schanzkleid und versuchte, zu erkennen, was auf der „Estrella“ los war. Nichts rührte sich. Nach wie vor schien alles ruhig und friedlich zu sein. Aber da waren das Geschrei und das Toben. Es klang, als wolle jemand das komplette Schiff auseinandernehmen.

Plötzlich sah Montbars die Jolle. Sie schob sich hinter dem Bug der „Estrella de Málaga“ hervor – nein, sie schoß hervor! Der Kerl, der auf der Ducht saß, pullte wie ein Verrückter. Segeln konnte er nicht, denn der vorherrschende Südwestwind war in dem Felsenkessel nur schwach.

Montbars’ Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Der Kerl in der Jolle – das konnte nur der verdammte Schönling und Sklavenschinder von Potosi sein. Irgendwie mußte es ihm gelungen sein, die Männer der „Estrella“ zu überlisten. Wie? Egal. Luke Morgans Gebrüll reichte aus – der Hund hatte den Arwenacks offenbar übel mitgespielt.

Montbars stieß einen wüsten Fluch aus, nicht auf französisch, sondern in seiner Muttersprache, dem korsischen Dialekt. Dann hob er die Muskete, preßte den Kolben an die Schulter, spannte den Hahn des Steinschlosses und zielte auf den Mann auf der Bootsducht.

Er zögerte nicht lange. Das silbrige Licht des Mondes reichte zum Zielen aus. Montbars hielt ein wenig tiefer – vielleicht war es besser, den Kerl nicht zu töten. Er drückte ab, und es krachte. Der Kolben stieß im Rückstoß gegen eine Schulter, und fauchend fuhr die Ladung aus dem Lauf.

Die Kugel traf das Boot und schlug ein Loch in die Wasserlinie. Luis Carrero fluchte lauthals.

„Ihr verdammten Bastarde!“ zischte er. Er pullte weiter wie besessen, spürte aber, wie ihn Panik ergriff.

Das Wasser drang in die Jolle ein. Er konnte es sprudeln und rauschen hören. Er pullte und pullte, und ihm brach der Schweiß aus. Er spürte die Angst wie eine Faust im Nacken, denn er rechnete sich aus, daß die nächste Kugel ihn treffen würde. Aber er durfte nicht aufhören, sonst war er ihnen völlig ausgeliefert. Jeden Augenblick konnten die Kerle an den Schanzkleidern beider Schiffe auftauchen und ein Salvenfeuer auf ihn eröffnen.

Der nächste Schuß krachte, wieder von Montbars abgegeben. Wieder schlug die Kugel in die Wasserlinie des Bootes, und das Wasser schoß noch schneller herein.

Montbars grinste wölfisch. Er stand an einer Stelle des Schanzkleides der Kuhl, wo neben einem der Geschütze ein halbes Dutzend Musketen schußbereit lagen. Auch dies gehörte zu den allgemeinen Schutz- und Vorsichtsmaßnahmen, die die Männer für den Fall ergriffen hatten, daß ein Gegner unvermittelt vor der Bucht auftauchte und möglicherweise sogar bis in den Felsenkessel vordrang.

Mit raschem Griff packte der Korse die nächste geladene Muskete. Er hob sie, zögerte aber, den Zeigefinger um den Abzug zu krümmen.

Carrero zerrte und ruckste an den Riemen, der Schweiß lief ihm in Bächen über das Gesicht und den Körper. Die Jolle war schwer wie ein Stein geworden und schien sich kaum noch vom Fleck zu rühren. Das Wasser gurgelte durch die Schußlöcher in der Bordwand, es reichte ihm bereits bis über die Fußknöchel und näßte seine Waden.

Montbars konnte das erkennen – die Jolle ging mehr und mehr auf Tiefe. Wie zu erwarten war, sank sie innerhalb der nächsten Minuten ganz, und der Hundesohn von einem Spanier hatte keine Chance mehr, das Ufer zu erreichen. Schwimmend würde er es nicht schaffen. Sie fischten ihn aus dem Wasser, brachten ihn zurück an Bord der „Estrella“ und urteilten ihn ab. Denn das blühte ihm jetzt, das hatte er verdient: Keine Gnade mehr für einen Don, der mit Gewalt aus der Vorpiek ausgebrochen war.

Eben deshalb gab der Korse keinen dritten Schuß mehr ab. Er hätte Carrero töten können, wenn er es gewollt hätte. Aber er wollte ihn lebend, und er wollte ihn an der Rah zappeln sehen, an die er gehörte.

An Bord der „Estrella“ wurde es zunehmend lebendig. Luke Morgan fluchte immer noch und rannte durch den engen Schiffsgang zum Niedergang, stürmte ihn hoch und hastete weiter. Er prallte mit Al Conroy zusammen, und sie stießen gemeinsam die übelsten Verwünschungen aus. Die anderen Männer hatten nun auch das Oberdeck erreicht und stürzten zum Schanzkleid, wo auch Ben, Shane und Araua erschienen.

„Bist du verrückt?“ brüllte Luke Al an.

„He, ich wollte doch nur sehen, was mit dir los ist!“

„Nichts ist los!“

„Wo ist Carrero?“

„Abgehauen!“ brüllte Luke, und zusammen rasten sie zum Niedergang.

Paddy Rogers stolperte derweil über den reglosen Körper seines besten Freundes Jack Finnegan. Wie vom Donner gerührt verharrte er, bückte sich und ließ sich neben dem wie tot daliegenden Jack nieder.

„Mann, mach keinen Scheiß“, sagte er erschüttert. „Jack – he! Komm zu dir!“

Montbars hatte eine schlechte Entscheidung getroffen, wie sich jetzt herausstellte. Zwar drang immer mehr Wasser in die Jolle, aber der Spanier schaffte es doch – wider Erwarten und allen Berechnungen zum Trotz –, sie an das westliche Ufer der Bucht zu pullen, bevor sie auf Tiefe ging.

Knirschend schob sich der Bug auf den schmalen Sandstreifen. Carrero raffte die erbeuteten Waffen zusammen, sprang an Land und begann zu laufen. Er malte sich aus, daß sie wieder mit Musketen auf ihn feuern würden, doch er irrte sich. Kein Schuß peitschte.

Er befand sich außerhalb der Reichweite der Handfeuerwaffen. Zwar war es an Bord der „Estrella de Málaga“ Al Conroy, der mit einem gebrüllten Fluch an eine der Drehbassen sprang, doch bevor er das Schwenkgeschütz justiert hatte und Hasard junior ein Becken mit glühender Holzkohle zum Entfachen der Lunte brachte, war Luis Carrero verschwunden.

Er tauchte zwischen den Steilfelsen unter und war nicht mehr zu sehen. Seine Augen waren zusammengekniffen, er gab sich Mühe, alle Unebenheiten des Geländes zu erkennen, um nicht zu stürzen. Keuchend begann er mit dem Aufstieg.

Er schwitzte immer noch, aber es kümmerte ihn nicht. Seine Atemzüge gingen immer heftiger, die Steigung setzte ihm zu. Aber auch das war nebensächlich. Die Hauptsache war, daß er diesem Pack entgangen war, wie er geplant hatte. Er kletterte höher und blickte sich nicht um. Jede Sekunde war kostbar. Je mehr Distanz er zwischen sich und die Bastarde legte, desto größer wurde auch die Aussicht, etwaigen Verfolgern zu entgehen.

Carrero triumphierte schon jetzt. Er hatte schließlich die Waffen. Wenn es diesen Hunden wirklich einfiel, ihn zu verfolgen, konnte er sie aus dem Hinterhalt niederknallen.

Es würde genügen, ein oder zwei von ihnen abzuservieren, dann zogen die anderen sich zurück. Sie spielten sich auf die Kerle, die vor nichts zurückschreckten, aber wenn es ihnen wirklich an den Kragen ging – so dachte er –, steckten sie sehr schnell zurück und entpuppten sich als Feiglinge.

Diesen einen Punkt überdachte er nicht richtig, und seine Wertung war völlig falsch. Aber in seiner Siegeseuphorie konnte er nicht anders denken. Er arbeitete sich in den Felsen hoch, einem Labyrinth, in dem er schwerlich wiederzufinden war.

6.

An Bord der „Estrella de Málaga“ und der „San Lorenzo“ war inzwischen der Teufel los. Ben Brighton kochte vor Zorn über, trotz seiner sonst so ruhigen und beherrschten Art. Er hatte allen Grund zu toben. Wenn es Luis Carrero gelingen sollte, sich nach Arica durchzuschlagen, dann war Hasards Trupp mit Sicherheit verloren. Die Spanier in Arica würden unverzüglich Potosi alarmieren, durch berittene Boten oder vielleicht auch durch Fuß-Melder, das spielte keine Rolle. Es gab nicht den geringsten Zweifel daran, daß Potosi daraufhin hermetisch abgeriegelt werden würde.

Die zwölf Mann des Trupps, Pater Aloysius mitgerechnet, hatten dann überhaupt keine Chance. Sie ahnten von nichts und liefen in die Falle, die sich für sie öffnete. Man würde sie festnehmen und keine Gnade kennen. Sie konnten noch von Glück sagen, wenn man sie zur Zwangsarbeit in die Minen steckte und in Eisen legte. Aber aller Wahrscheinlichkeit nach würde der Provinzgouverneur sie auf Carreros Drängen hin hängen oder durch ein Peloton erschießen lassen.

Das waren die Aussichten – all die bitteren Aussichten, die sich aus Carreros Flucht ergaben. Ben hatte das Gefühl, das Blut würde ihm in den Adern gefrieren.

Luke Morgan torkelte auf der Kuhl herum. Erst jetzt sahen Al Conroy und die anderen, daß sein Kopf blutüberströmt war.

„O Hölle“, stieß Luke immer wieder hervor. „Wo ist der Kerl? Ich breche ihm sämtliche Knochen, wenn ich ihn erwische!“

Araua eilte zu ihm. „Sei still, Luke. Setz dich erst mal hin“, drängte sie. „Sei vernünftig.“

„Wo ist der Dreckskerl!“

„Zum Ufer entkommen.“

„Wir müssen ihn schnappen, wieder einfangen!“

„Ja, natürlich.“

„Daß dieser Hund mich so ’reingelegt hat! Auf diese Tour!“ Luke stöhnte und hielt sich an einer Kanone fest. „Mann Gottes. Aber das zahle ich ihm heim, verlaß dich drauf.“

Jack Finnegan lag nach wie vor regungslos auf den Planken. Mac Pellew war zur Stelle und kümmerte sich um ihn.

Und Paddy Rogers stammelte immer wieder: „Hölle, was ist denn bloß los? Was ist mit ihm, Mac?“

„Reg dich nicht auf“, brummte Mac. „Er lebt noch.“

„Wie lange noch?“

„Eine Ewigkeit. So schnell stirbt man nicht.“

Das Fatale an der Situation war, daß die Männer der „Estrella“ zur Zeit kein Boot zur Verfügung hatten. Sie konnten also nicht die Verfolgung des Spaniers aufnehmen. Ben ballte die Hände in ohnmächtiger Wut zu Fäusten. Ihm waren die Hände gebunden, er konnte nichts unternehmen. Was nützte es schon, mit den Kanonen zwischen die Felsen zu feuern? Nichts – er vergeudete nur Munition. Und er wußte auch, daß er nicht in Hasards Sinn gehandelt hätte.

 

Jan Ranse hatte drüben, an Bord der „San Lorenzo“, von Montbars erfahren, was sich zugetragen hatte. Alle Mann waren an Deck versammelt, und der Korse stieß einen saftigen Fluch aus.

„Dreck!“ brüllte er. „Ich dachte, er säuft mit der Jolle ab, verflucht noch mal!“

„Wir müssen sofort an Land!“ schrie Baxter. „Dem Hurensohn nach! Wir können ihn noch erwischen!“

„Abentern!“ rief Jan. „Drei Mann mit mir! Piet, George und Montbars! Los! Wir müssen erst zur ‚Estrella‘ rüber und uns mit Ben abstimmen!“

In Windeseile enterten sie in die Jolle ab, die längsseits lag, und griffen zu den Riemen. Jan stieß das Boot von der Bordwand ab, die Männer begannen wie die Irrsinnigen zu pullen.

Rasch glitt die Jolle zur „Estrella“ hinüber und überbrückte die Distanz in kürzester Zeit. Jan stand breitbeinig vor der achteren Ducht und rief den Männern der Karavelle zu: „Ich stelle euch meine Jolle zur Verfügung, Ben!“

„Ja! Danke! Habt ihr gesehen, an welcher Stelle Carrero zwischen den Felsen verschwunden ist?“

„Montbars hat ihn am Westufer landen sehen!“

„Ich auch!“ schrie Al Conroy. „Aber wo genau?“

„Ich weiß, wo die Stelle ist!“ rief Montbars. „Ich finde sie wieder!“

„Shane!“ stieß Ben hervor. „Du kommst mit! Al, Batuti und Blacky, ihr seid auch mit dabei! Los, Beeilung!“

„Sir“, sagte Hasard junior, der mit seinem Bruder herandrängte. „Wir sollten auch Plymmie mitnehmen. Du weißt doch, was für einen guten Spürsinn sie hat. Sie findet ihn bestimmt – besser als wir.“

„Das ist eine gute Idee“, sagte Ben Brighton sofort. „Los, holt Plymmie!“

„Sie ist schon hier“, meldete Araua. Sie hielt Plymmie an der Leine fest. Die Hündin schien zu spüren, was geschehen war, sie knurrte und zerrte an der Leine.

„Herrgott, warum hat sie nicht schon eher was bemerkt?“ fragte Bob Grey. „Dann wäre diese Schweinerei nicht passiert.“

„Sie hat auch geschlafen“, verteidigte Philip Plymmie. „Und sie kann schließlich nicht alles wittern. Carrero hat sich wohl auch sehr leise bewegt.“

„Das stimmt“, sagte Jack Finnegan, der eben wieder zu sich gekommen war und mit verzerrtem Gesicht den Hinterkopf betastete. „Er hatte bestimmt keine Stiefel an.“

„Dann müssen die noch in der Vorpiek sein“, sagte Ben. „Jeff, sieh mal nach!“

„Die Stiefel sind unten“, sagte Luke. „Ich habe sie selbst gesehen, zur Hölle noch mal!“

Jeff Bowie eilte nach unten. Ben gab unterdessen weitere Anweisungen.

„Von deiner Crew nehmen wir Montbars, Piet Straaten und George Baxter mit“, sagte er zu Jan Ranse, der von der Jolle zu ihm aufblickte. „Damit ist der Trupp komplett.“

„Aye, Sir“, sagten die Männer.

„Und jetzt hört gut zu. Wir müssen verhindern, daß Carrero Arica erreicht. Um jeden Preis.“

„Koste es, was es wolle!“ rief Shane. „Und wenn er doch Arica erreicht, schlagen wir ihn dort in den Gassen tot!“

Mac Pellew stieß plötzlich einen dumpfen Laut aus. Paddy Rogers stöhnte entsetzt auf. Jack Finnegan hatte die Augen verdreht und sank wieder in sich zusammen.

„Ben“, sagte Mac. „Beim Henker, was machen wir jetzt?“

„Tu doch was, Mac“, drängte ihn Paddy.

Ben lief zu ihnen und beugte sich ebenfalls über den Besinnungslosen. Jack war von dem Belegnagel mindestens genauso hart getroffen worden wie Luke, vielleicht hatte es ihn noch ein bißchen unglücklicher erwischt. Aber – konnte ein Mann von einem einzigen Knüppelhieb sterben?

Ben wußte, daß es möglich war. „Rück mal das Licht näher ran“, sagte er rauh zu Mac Pellew.

Mac bewegte die Öllampe, die sie auf die Planken gestellt hatten, näher auf Jack zu. Ben untersuchte vorsichtig die Platzwunde, die Jack am Hinterkopf hatte, und betrachtete das viele Blut, das ihm übers Gesicht gelaufen war. Schlimm sah das aus.

Luke Morgan hatte sich ebenfalls zu ihnen gesellt.

„So ein verdammter Mist“, sagte er immer wieder. „Das ist alles meine Schuld. So ein Mist.“

„Sei still“, sagte Ben, „und hör auf, solchen Quatsch daherzureden.“

Jeff Bowie hatte sich unterdessen in der Vorpiek umgesehen und griff nach den Stiefeln. Er eilte zurück zum Niedergang und kehrte mit polternden Schritten an Oberdeck zurück.

„Hier sind die Dinger!“ rief er.

„Aha“, sagte Shane. „Der Kerl ist also gewissermaßen barfuß. Dann können wir noch hoffen. Bei dem scharfen Felsgestein wird er sich die Füße blutig laufen.“

„Das wünsche ich ihm“, sagte Bob grimmig.

Die Zwillinge führten Plymmie heran und ließen sie an den Stiefeln riechen. Die Hündin senkte den Kopf und schnupperte. Sofort sträubten sich ihre Nackenhaare, und sie begann laut zu knurren und fletschte die Zähne.

„Es wirkt“, sagte Philip junior. „Sie hat die Witterung aufgenommen.“

Plymmie zerrte an ihrer Leine und wollte zum Schanzkleid. Sie zog Philip und Hasard, die jetzt beide zupackten, hinter sich her und schien immense Kräfte zu entwickeln. Sie strebte genau auf die Stelle zu, an der die Jakobsleiter hing – und Luis Carrero von Bord verschwunden war.

„Los geht’s“, sagte Big Old Shane, aber er wandte sich noch einmal Ben und den anderen zu, die bei dem ohnmächtigen Jack Finnegan knieten. „Ben, du bleibst am besten hier.“

Ben tauschte einen Blick mit ihm und nickte. „Einverstanden. Aber denk daran: Ihr müßt Carrero erwischen.“

„Ich denke an nichts anderes.“

„Du weißt, welche Konsequenzen sich ergeben, wenn er es bis nach Arica schafft.“

„Ja. Dann sind Hasard und die Männer des Trupps verloren.“

„Schießt den Spanier von mir aus nieder wie einen tollen Hund“, sagte Ben. „Sonst sehen wir Hasard und unsere Männer nie wieder.“

Al Conroy, Batuti, Blacky und die Zwillinge enterten in die Jolle ab. Batuti hatte sich Plymmie über die Schulter gepackt und hangelte mit ihr nach unten. Shane folgte ihnen und rutschte fast an der Jakobsleiter nach unten, so eilig hatte er es.

„Kommst du mit?“ fragte er Jan Ranse. „Oder sollen wir dich zum Schiff übersetzen?“

„Um noch mehr Zeit zu verlieren?“ Jan schüttelte den Kopf. „Ich bleibe hier. Mal sehen, ob ich irgendwie was für euren Jack Finnegan tun kann. Und für Luke Morgan.“ Mit diesen Worten schwang er sich bereits auf die Sprossen der Jakobsleiter.

Die Jolle legte ab, und die Männer pullten, als säßen ihnen sämtliche Teufel der Hölle im Nacken.

Das Bild, das sich Jan Ranse an Bord der „Estrella de Málaga“ bot, war schockierend. Luke Morgan taumelte blutüberströmt herum, Jack Finnegan lag – ebenfalls blutend – mit halb geöffnetem Mund wie tot auf den Planken der Kuhl. Ben, Mac und Paddy knieten bei Jack, und auch die anderen Männer näherten sich jetzt und bildeten einen Kreis um sie.

Jan kratzte sich am Kinn. Er wußte nicht, was er tun sollte. Ben war selbst ratlos. Er wünschte sich den Kutscher herbei, aber der war oben im Tacna-Tal und damit für ihn unerreichbar. Was konnten sie unternehmen, um Jack zu retten?

Wo war Araua? Jan Ranse blickte sich nach ihr um, konnte sie aber nirgends entdecken. Plötzlich erschien sie im offenen Schott des Achterkastells. Sie hielt etwas in den Händen – nasse Tücher. Damit eilte sie zu den Männern und verlangte mit leiser Stimme danach, durchgelassen zu werden.

Sie traten zur Seite, und Araua kniete sich neben Ben, Mac und Paddy.

Mac sah die Tücher und sagte: „Nutzt das was? Ich hab’ ihm doch schon ein paarmal das Blut abgewischt und Kampferpulver auf die Wunde gestreut. Was soll ich sonst noch tun?“

Araua antwortete nicht. Sie legte Jack ein nasses Tuch auf die Stirn und schob ihm ein zweites unter den Nacken.

„Nur abwarten“, sagte sie dann mit gedämpfter Stimme. „Und er darf nicht bewegt werden.“

Mac fühlte immer wieder den Puls des bewußtlosen Mannes. „Schwach, aber normal“, sagte er.

„Also stirbt er nicht, oder?“ fragte Paddy.

„Halt den Mund“, sagte Ben ungewohnt grob. „Das wissen wir noch nicht. Klar?“

„Aye, Sir“, murmelte Paddy betroffen.

Jan war nähergetreten. „Wie wär’s, wenn wir ihm was zu trinken geben würden? Brandy zum Beispiel.“

Araua sah nicht zu ihm auf, sagte aber: „Das wäre völlig falsch. Wir müssen nur warten.“ Ihre Lippen bewegten sich auch weiterhin, aber keiner verstand, was sie murmelte. Es waren Wörter ihrer Muttersprache, ein leises Gebet, an den Schlangengott gerichtet.

Jan Ranse mußte etwas unternehmen, er konnte nicht einfach nur so dastehen. Er packte Luke Morgan beim Arm und führte ihn zum Backbordniedergang, der die Kuhl mit der Back verband.

„So, setz dich da erst mal hin“, sagte er. „Du bist wohl verrückt, hier so rumzulaufen.“

„Ich bin verrückt, Jan.“

„Du verschlimmerst deinen Zustand nur noch, wenn du …“

„Es ist alles meine Schuld, kapierst du das?“ Lukes Gesicht hatte die Farbe alten, abgestandenen Talges. „Ich habe mich auf die ganz blöde Tour von diesem Hund ’reinlegen lassen.“

„Das kann jedem passieren.“

„Nein.“

„Wie hat er denn seine Fesseln überhaupt aufgekriegt?“ fragte Jan.

„Das weiß ich nicht.“

„Und womit hat er zugeschlagen?“

„Mit ’nem Koffeynagel, glaube ich“, entgegnete Luke. „Der Teufel weiß, woher er sich den besorgt hat.“

Jan blickte im matten Schein der Öllampen zur Nagelbank des Großmastes.

„Da fehlt einer“, sagte er ganz sachlich. „Siehst du das?“

„Ja!“ entfuhr es Luke. „Und – Mann, daß das keiner bemerkt hat.“

„Du hast also nicht allein die Schuld.“

„Du willst es mir ausreden.“

„Ich will nur, daß du wieder Vernunft annimmst“, sagte Jan.

„Wenn Jack tot ist, schieß’ ich mir eine Kugel in den Kopf.“

„Weißt du, was ich glaube? Du hast wirklich einen Dachschaden.“

„Denk, was du willst“, sagte Luke finster.

Unterdessen hatte sich Jack Finnegan wieder ein bißchen bewegt. Er brummelte irgend etwas, was keiner verstand, dann schlug er plötzlich die Augen auf.

„Kreuzdonnerwetternochmal“, murmelte er. „Wo bin ich hier?“

„An Bord der ‚Estrella de Málaga‘, Sir“, antwortete Mac mit dem Versuch eines Grinsens. Leider wirkte es so, als wolle er jeden Augenblick losheulen.

„Und wieso glotzt ihr mich so an?“

„Ach, nur so“, erwiderte Will Thorne. „Wir hatten gerade nichts Besseres zu tun, da dachten wir, na, schauen wir uns den Jack mal an.“

Jack hob die Hand und tippte sich mit dem Finger gegen die Stirn. „Total verrückt. Habt ihr den Don schon wieder eingefangen?“

„Nein“, antwortete Ben. „Aber Shane und ein Trupp sind mit der Jolle unterwegs.“

„Ich will mit“, sagte Jack und traf Anstalten, sich von den Planken zu erheben.

Ben drückte ihn sanft, aber bestimmt, zurück. „Du bleibst liegen, mein Freund. Weißt du eigentlich, daß du ein Loch im Kopf hast?“

„Klar, tut auch lausig weh.“

„Ist dir schlecht?“ fragte Araua.

„Nein. Ich habe nur Durst. Auf einen Brandy. Von mir aus kann’s auch Whisky sein.“

„He, sieh mal einer an“, sagte Mac überrascht. „Das Blut sickert nicht mehr so schnell raus.“

„Sicher“, sagte Jack mit dünnem Grinsen. „Denkst du vielleicht, ich laß mein ganzes Blut aus meinem feinen Kopf ’rauslaufen? Ich bin doch nicht bescheuert.“

Araua nickte Ben zu. Er entnahm ihrer Gebärde, daß keine Lebensgefahr für Jack bestand. Bald konnte er wieder auf den Beinen sein.

„Paß auf“, sagte Ben. „Du legst dich jetzt vorsichtig in deine Koje. Will und Bob, ihr begleitet ihn nach unten. Ganz langsam, klar?“

„Aye, Sir“, murmelten sie und hoben Jack, von Mac und Araua unterstützt, behutsam von den Planken auf.

Ben stand auf und blickte zu Jan Ranse und Luke Morgan. „Mac, komm her“, sagte er. „Kümmre dich jetzt um Luke.“

„Ich bin schon wieder in Ordnung“, sagte Luke rauh. „Ich brauche keine Hilfe.“

Ben trat auf ihn zu. „Du sollst keinen Quatsch reden, das habe ich dir eben schon mal gesagt. Das ist ein Befehl, Mister Morgan. Hast du das vergessen?“

„Nein, Sir. Ich nehme auch die Konsequenzen auf mich. Meinetwegen kannst du mich auspeitschen lassen. Oder kielholen, das wäre noch besser.“

„Ich glaube, er hat so eine Art temporären Gedächtnisschwund, oder wie das heißt“, sagte Mac.

„Sein Gedächtnis ist in Ordnung“, sagte Ben. „Luke, erzählt mal genau, wie sich das zugetragen hat. Wie konnte sich Carrero von den Handfesseln befreien? Ihr habt sie doch um Mitternacht überprüft.“

 

„Es ist mir ein Rätsel“, entgegnete Luke. „Vielleicht sollten wir die Vorpiek noch mal untersuchen.“

Das taten sie etwas später – und fanden den Nagel, der aus dem Spant ragte. So klärte sich das Rätsel auf. Luis Carrero hatte sie alle überrumpelt, nicht nur Luke und Jack.

Die Jolle hatte in der Zwischenzeit das westliche Ufer der Bucht erreicht. Plymmie sprang als erste an Land, blieb stehen, duckte sich und knurrte, daß es ihnen fast eine Gänsehaut über den Rücken jagte.

Die Zwillinge stiegen aus, sie hatten beide je einen Stiefel des Spaniers in der Hand. Wieder schnupperte Plymmie daran, und ihre weißen Zähne blinkten im Mondlicht. Wie ein richtiger Wolf sah sie jetzt aus, furchterregend und wild.

„Sie hat schon immer einen Pik auf den Kerl gehabt“, sagte Shane, der zu ihnen trat. „Am liebsten hätte sie ihn ja gleich zerfetzt, als er an Bord kam.“

Das traf zu. Hasard hatte Carreros Bluthund Philipp nicht an Bord gelassen, als dieser in der Bucht des Indio-Dorfes zu ihnen übergesetzt war. Carrero hatte vor Wut fast geschäumt, sich aber fügen müssen. Dann hatte er Plymmie gesehen – und er hatte dem Seewolf vorgeschlagen, Philipp und Plymmie zu einem Kampf antreten zu lassen. Er hatte eine großartige Wette abschließen wollen, aber als er Plymmies haßfunkelnde Lichter und ihre gefletschten Zähne gesehen hatte, war ihm doch eine Gänsehaut über den Rücken gelaufen.

Plymmie nahm am Ufer sofort die Spur des Spaniers auf. Die Männer und die Jungen – allesamt schwer bewaffnet – folgten ihr und kletterten in die Felsen.

Die beschädigte Jolle der „Estrella de Málaga“ ließen sie am Ufer neben dem Boot der „San Lorenzo“ zurück. Sie würden sie später reparieren. Das lief ihnen nicht weg. Carrero hingegen entfernte sich immer weiter von ihnen, und mit jedem Schritt, den er zurücklegte, sank die Chance, ihn wieder zu erwischen – trotz Plymmie.