Seewölfe Paket 26

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3.

Insgeheim beglückwünschte sich Corda zu dem günstigen Zufall. Die Hände auf den Rücken gelegt, stolzierte er mit würdevoll blasierter Miene im Dienstzimmer des Gefängnisdirektors auf und ab. Jedesmal, wenn er vor einer Wand kehrtmachte, wippte er ungeduldig auf den Zehenspitzen.

Direktor Cámpora war noch nicht aus der mittäglichen Pause zurückgekehrt. Der Stellvertreter, der seine Belange wahrnahm, war ein unbedeutendes Licht.

Nach dem soundsovielten Hin und Her blieb Corda stehen, dem Schreibtisch zugewandt.

„Nun?“ sagte er herrisch und herablassend. „Wie lange werde ich denn wohl noch warten müssen?“

Der Stellvertreter des Direktors, ein dicklicher Mann mit Halbglatze, verbeugte sich erschrocken.

„Es kann sich nur noch um Minuten handeln, Señor Gouverneurssekretär. Nach meiner Einschätzung müßte der Gefangene de Escobedo jeden Moment hier eintreffen.“

Corda verzog unwillig das Gesicht.

„Gewöhnen Sie sich schon mal daran, ihn nicht mehr als Gefangenen zu betrachten.“

„Selbstverständlich, Señor Sekretär“, sagte der Dickliche voller Ehrfurcht. „Verzeihen Sie meine Unaufmerksamkeit. Natürlich werde ich Señor de Escobedo ab sofort mit dem Respekt entgegentreten, der seinem künftigen Amt angemessen ist.“

„Seinem bisherigen und künftigen Amt“, verbesserte Corda. „Halten Sie sich immer vor Augen, daß ich in Vollmacht und laut unverändert gültiger Anweisung von Don Antonio de Quintanilla handle.“

Die beeindruckende Wortwahl des füchsischen kleinen Mannes aus dem Gouverneurspalast veranlaßte den stellvertretenden Gefängnisdirektor, sich erneut ehrfürchtig zu verbeugen.

Er wurde einer Antwort enthoben, denn Schritte näherten sich im Innenkorridor, von den Zellentrakten her. Der Dickliche drehte sich hinter dem Schreibtisch um und begab sich eilfertig zur Tür. Er riß sie auf, und dies war vermutlich das erste Mal in der Geschichte des Stadtgefängnisses von Havanna, daß ein amtierender Direktor einem Gefangenen die Tür öffnete.

Zerlumpt und übelriechend, wie er war, betrat de Escobedo den Raum mit sichtlichem Zögern. Den Aufseher scheuchte der stellvertretende Direktor mit einer Handbewegung weg.

„Du liebe Güte!“ rief Corda in überdrehtem Erschrecken und schlug die dürre Hand vor den Mund. „Mein verehrter Señor de Escobedo, ich muß sagen, Sie sehen zum Erbarmen aus.“

De Escobedo stützte sich auf den Schreibtisch und sah den Sekretär mit verblüfftem Kopfschütteln an. Der stellvertretende Direktor blieb hinter ihm bei der Tür, in einer Art dienerhaften Hab-Acht-Stellung.

„Was, in aller Welt, führt Sie her?“ sagte de Escobedo mit belegter Stimme.

Corda stolzierte mit würdevollen Schritten auf ihn zu, ergriff seine dreckstarrende Rechte und schüttelte sie.

„Exzellenz, ich habe Ihnen etwas Erfreuliches mitzuteilen. Infolge besonderer Ereignisse sind Sie mit sofortiger Wirkung wieder zum kommissarischen Gouverneur ernannt.“

De Escobedos Kinnlade sackte weg. Sein Mund blieb offen, und seine Augen wurden kreisrund. Mehrere Sekunden lang konnte er den Sekretär nur anstarren. Er brachte kein Wort hervor. Erst nach einem angestrengten Räuspern konnte er wieder sprechen.

„Machen Sie keine dummen Scherze mit mir, Corda. Wenn Sie deshalb hier erschienen sind, hat Ihr Besuch seine Wirkung gründlich verfehlt.“

Der Sekretär verzog das Gesicht zu einer süßlichen Grimasse und zupfte wie prüfend an seiner gepuderten Lockenperücke.

„Hochverehrte Exzellenz, Sie sollten mich besser kennen. Ich würde mich niemals erdreisten, in einer so wichtigen Angelegenheit zu scherzen. Ich muß allerdings gestehen, daß es mir ein gewisses Vergnügen bereitet hat, Sie zu – hm – überraschen.“

De Escobedo schüttelte heftig den Kopf.

„Zum Teufel, halten Sie mich nicht zum Narren! De Campos ist amtierender Gouverneur. Schließlich habe ich ihm zu verdanken, daß ich in diesem elenden Rattenloch sitze.“

Corda lächelte, hob die rechte Hand mit senkrecht ausgestrecktem Zeigefinger und bewegte ihn hin und her.

„Sehen Sie, ich habe noch nicht zu Ende gesprochen, Exzellenz. Don Diego de Campos war Gouverneur.“

De Escobedo starrte ihn verblüfft an.

„Was heißt das?“ stieß er hervor.

„Er ist tot“, sagte Corda rundheraus. „Im Kampf gegen englische Piraten gefallen. Sie wissen, daß er diesen Britenbastard Lobo del Mar gejagt hat. De Campos wurde bei einem Angriff auf Santiago de Cuba getötet. Diese Nachricht haben mir soeben reitende Boten überbracht. Damit gilt wieder die Anweisung Don Antonio de Quintanillas, der Sie zum kommissarischen Verwalter des Gouverneurs bestimmt hatte.“

„Aber“, setzte de Escobedo an und verstummte gleich darauf. Einen Moment sah er sein Gegenüber schweigend an, dann verzog sich sein Gesicht zu einem Grinsen. „Wo kein Kläger ist, da ist kein …“

„Wir haben uns nicht um die Vergangenheit zu kümmern“, fiel ihm Corda ins Wort. Der Stellvertreter Cámporas mußte nicht unbedingt die entscheidenden Einzelheiten mitkriegen. „Es geht jetzt nur noch um die Zukunft Havannas, um die Zukunft Kubas, Exzellenz. Werden Sie sich der Aufgabe stellen?“

„Selbstverständlich“, erwiderte de Escobedo und warf sich in die Brust. „Ich weiß, wie groß die Verantwortung ist, aber ich schrecke nicht davor zurück.“

Corda dachte sich seinen Teil, während er den stellvertretenden Direktor mit einer herrischen Handbewegung aufforderte, ihm die Entlassungsurkunde zu reichen. Natürlich reizte den durchtriebenen Halunken nicht in erster Linie die Verantwortung, sondern der mögliche Nebenverdienst des Gouverneurs. Corda nahm sich vor, seine Marionette nicht zu schlau werden zu lassen. Dieser Mann mußte wissen, wo seine Grenzen waren.

Corda beugte sich über den Schreibtisch, griff nach der Feder des Direktors, tunkte sie behutsam ins Tintenfaß und unterschrieb die Entlassungsurkunde mit seinem Namen und dem Zusatz „kommissarischer Verwalter der Gouverneursresidenz zu Havanna.“

Er überprüfte die Richtigkeit des Datums und die persönlichen Angaben über den Exgefangenen. Dann gab er die Urkunde zurück und ließ sich den Passierschein für das Haupttor aushändigen.

Außerdem erhielt de Escobedo eine vom stellvertretenden Direktor beglaubigte Zweitschrift der Entlassungsurkunde, damit er die Rechtmäßigkeit seiner Freiheit etwaigen Zweiflern gegenüber belegen konnte. Corda hielt das für eine notwendige Sicherheitsmaßnahme, da es in den einflußreichen Kreisen Havannas doch einige Señores gab, die dem erneuten kommissarischen Gouverneur nicht unbedingt wohlgesonnen waren.

Mit einer herablassenden Handbewegung gab der Sekretär dem stellvertretenden Direktor zu verstehen, daß man seine Dienste nicht mehr benötige. Der Dickliche betätigte eine Klingel, und ein Aufseher erschien, der den Auftrag erhielt, seine Exzellenz, den Gouverneur, und den Sekretär des hochverehrten Gouverneurs zum Haupttor zu geleiten.

Der Aufseher stand wie vom Donner gerührt und reagierte nicht sofort. Da er Corda kannte und wußte, daß dieser nicht der Gouverneur war, konnte der stellvertretende Direktor nur den zerlumpten Gefangenen meinen.

Dieser Dreckskerl sollte wieder Gouverneur sein? Der Aufseher zuckte mit den Schultern, hütete sich jedoch, eine Bemerkung von sich zu geben, und führte den Befehl aus.

Auf dem Weg durch die Korridore und über den Gefängnishof bis zum Haupttor genoß Corda seine geheime diebische Freude. Es war glatter gelaufen, als er gedacht hatte. In erster Linie war das natürlich jenem glücklichen Zufall zu verdanken, daß der Gefängnisdirektor selbst noch nicht anwesend war.

Wenn er später am Nachmittag erschien, würde er vor vollendete Tatsachen gestellt werden. Dann hatte de Escobedo bereits die Palastwache und die Stadtgarde hinter sich und konnte demzufolge sein neugewonnenes Amt verteidigen.

Minuten später, als sie das Gefängnis verlassen hatten und die Gouverneurskalesche besteigen wollten, war es mit Cordas geheimer Freude jäh vorbei.

Der stämmige, breitschultrige Mann, der da mit energischen Schritten auf sie zumarschierte, war kein anderer als Gefängnisdirektor José Cámpora.

„Was geht hier vor?“ fuhr er die beiden Männer mit harter Stimme an. Breitbeinig blieb er stehen und stemmte die Fäuste in die Hüften.

De Escobedo erinnerte sich daran, wie er mit den Leuten während seiner ersten Gouverneurs-Amtsperiode umgesprungen war. Er brauchte nur da anzuknüpfen, wo er aufgehört hatte.

„Etwas mehr Respekt“, sagte er näselnd und voller Geringschätzung. „Sie sprechen mit dem Gouverneur dieses Landes, Cámpora.“

Der Gefängnisdirektor, ein Mann mit kantigen Gesichtszügen, die von Entschlossenheit und Durchsetzungskraft zeugten, konnte nicht anders: er sperrte entgeistert den Mund auf.

Corda nutzte die Gelegenheit, sich Gehör zu verschaffen.

„Ich darf dies ausdrücklich bestätigen, Señor Cámpora. Ich habe vor einer Stunde die Nachricht erhalten, daß Gouverneur de Campos in Santiago de Cuba im Kampf gegen Piraten gefallen ist. Aufgrund dieser Tatsache, verbunden mit der immer noch geltenden Anweisung von seiner Exzellenz Don Antonio Quintanilla, habe ich die Entlassung Señor de Escobedos und seine sofortige Ernennung zum amtierenden Gouverneur veranlaßt.“

José Cámpora hatte seine Verblüffung überwunden. Seine steinharte Miene zeigte, daß er nicht im geringsten beeindruckt war.

„Ich teile keineswegs Ihre Meinung, Señor Corda“, sagte er energisch. „Ich spreche Ihnen schlicht das Recht ab, über eine Neubesetzung des Gouverneursamtes zu befinden – noch dazu durch eine Person, die unter schwerem Verdacht steht. Unter dem Verdacht nämlich, gemordet, das Amt mißbraucht und den König geschädigt zu haben.“

 

„Ihre Meinung interessiert mich nicht!“ rief Corda erbost. „Was nehmen Sie sich heraus, Mann! Verschwinden Sie! An Ihren Arbeitsplatz!“

„Sehr richtig“, sagte de Escobedo mit wutverzerrtem Gesicht. „Es könnte Ihnen sonst passieren, mein lieber Direktor, daß ich Sie wegen Vernachlässigung Ihrer Pflichten Ihres Amtes enthebe.“

Die ersten Passanten blieben auf der Straße vor dem Gefängnis stehen. Der erregte Wortwechsel kündigte einen handfesten Streit an. Das dürre Männchen mit den Puderlocken sah wichtig aus, der zerlumpte Gefangene kam den meisten bekannt vor, und ebenso viele wußten, daß Direktor Cámpora ein ganzer Kerl war, den niemand so leicht für dumm verkaufen konnte.

„Halten Sie den Mund, de Escobedo!“ rief Cámpora schnaubend. „Oder ich nehme Sie eigenhändig wieder fest. Verlassen Sie sich darauf.“

De Escobedo schluckte, wollte aufbegehren, besann sich aber. Dieser Cámpora war ein kräftiger Kerl, dem er körperlich alles andere als gewachsen war – noch dazu in seinem jetzigen Zustand.

„Und nun zu Ihnen“, wandte sich Cámpora an den zornbebenden Sekretär. „Nehmen Sie zur Kenntnis, daß das Amt des Gouverneurs bis zu einer endgültigen Entscheidung des Königs nur vom ranghöchsten Militär besetzt werden kann. In Übereinstimmung mit dem entsprechenden königlichen Erlaß geschah das übrigens völlig korrekt, als Generalkapitän de Campos das Gouverneursamt übernahm. Wenn de Campos tot ist, wird zwangsläufig der Rangnächste sein kommissarischer Nachfolger.“

„Sind Sie verrückt?“ schrie Corda, auf den Zehenspitzen wippend. „Niemand darf einen Erlaß dazu mißbrauchen, eine unfähige Person in ein Amt zu berufen!“

Natürlich wußte Cámpora, auf was der kleine Fuchs aus dem Gouverneurspalast anspielte. Capitán Don Luis Marcelo, der derzeitige Kommandant der Stadtgarde und besagte Rangnächster nach de Campos, war gewiß keine Leuchte. Aber er war immer noch besser als gar kein Gouverneur oder ausgerechnet der schuldbeladene de Escobedo.

„Keine ungerechtfertigte Kritik“, sagte Cámpora scharf. „Ich weise Sie darauf hin, daß Sie sich an das königliche Dekret zu halten haben. Im übrigen sind Sie auch nicht befugt, einen Gefangenen unter falschem Vorwand aus dem Gefängnis zu holen.“

„Das ist eine Unterstellung!“ schrie der Sekretär schrill.

Die Schaulustigen und Neugierigen rotteten sich zusammen. Auch de Escobedo besann sich wieder auf den in Aussicht gestellten Gouverneursposten und warnte Cámpora lautstark vor Amtsanmaßung. Im Handumdrehen bildete sich eine dichte Menschentraube.

José Cámpora fackelte nicht lange.

„Wache!“ brüllte er zum Haupttor hin und wies mit ausgestrecktem Arm auf den Zerlumpten neben der Gouverneurskalesche. „Dieser Mann ist verhaftet! Sofort abführen!“

De Escobedo war schneller. Das jähe Entsetzen über die womöglich doch wieder zerrinnende Freiheit und der Gedanke an seine Quälgeister von Zellengenossen verliehen ihm ungeahnte Kräfte. Mit einem Wutschrei sprang er auf Cámpora zu und verpaßte ihm zwei gemeine Hiebe. Der Gefängnisdirektor taumelte und versuchte vergeblich, nachzusetzen. Er schaffte es nicht mehr, de Escobedo festzuhalten.

Zwei, drei schnelle Schritte genügten de Escobedo, in der Menge unterzutauchen. In Sekundenschnelle war er von der Bildfläche verschwunden.

Cámpora jagte einen Trupp von vier Aufsehern hinter dem Fliehenden her. Doch er wußte von vornherein, daß die Suche ergebnislos verlaufen würde. Wer die Gassen von Havanna einigermaßen kannte, fand unzählige Versteckmöglichkeiten.

Der Ordnung halber wartete Corda, bis das Suchkommando mit leeren Händen zurückkehrte. Er fühlte sich beileibe nicht mehr wohl in seiner Haut. Die Einsicht, daß sein Vorhaben gründlich daneben gegangen war, schmerzte. Dahin war der Traum von der grauen Eminenz und dem heimlichen Herrscher hinter den Kulissen.

Der kleine, fuchsgesichtige Sekretär war von einer Stunde zur anderen wieder zur Bedeutungslosigkeit geschrumpft.

4.

Mit Beginn der Abenddämmerung füllte sich die Bodega „Cascabel“ sehr rasch. Hatte den ganzen Nachmittag über eine eher schläfrige Stimmung geherrscht, so kündigten sich nun der Trubel und die überschäumende Ausgelassenheit der Nacht an.

Der blecherne Klang der Schelle über dem Eingang war in dieser Stunde des Zwielichts fast ununterbrochen zu hören. Das Glöckchen – Cascabel –, verdeutlichte den Namen der Bodega und wurde durch ein Hebel-Zugwerk in Bewegung gesetzt.

Capitán Don Luis Marcelo liebte diese Zeitspanne, in der er Zeuge eines spürbaren Wechsels wurde. Den ganzen Tag über hatten sich die Menschen von irgendwelchen Zwängen knechten lassen – von der Arbeit oder einfach von der Notwendigkeit, sich bei Licht nicht blicken zu lassen. Die Stadtgardisten hatten die unangenehme Eigenschaft, sich Gesichter, die ihnen einmal aufgefallen waren, genau einzuprägen.

Nun aber, in der Stunde zwischen Tag und Abend, fanden die Leute endlich zu sich selbst. Jetzt zeigten sie sich so, wie sie wirklich waren – redselig, ausgelassen und lärmend, aber auch bösartig, hinterhältig und handgreiflich. Stimmengewirr erfüllte den Schankraum unter den mächtigen Deckenbalken. Der Geruch von Rotwein, Rum und Bier breitete sich aus. Ein paar Leute rauchten Tabak aus tönernen Pfeifen, wie man es den indianischen Ureinwohnern Neu-Spaniens abgeschaut hatte.

Und immer noch bimmelte die Schelle über der Eingangstür.

Capitán Don Luis Marcelo lugte durch die Streben der hohen Balustrade, die seine Nische im hintersten Winkel vom übrigen Schankraum abteilte. Er genoß es, den weichen und anschmiegsamen Körper der kleinen Halbindianerin zu spüren. Federleicht war sie auf seinem Schoß.

Sie umschnurrte ihn wie ein Kätzchen und las ihm wahrhaft jeden Wunsch von den Augen ab. Sie galten als besonders feurig, diese weiblichen Wesen, in denen sich das Temperament des alten Spaniens mit dem Geheimnisvollen der noch unerforschten Welt verband.

„Bald geht es hoch her“, sagte Marcelo, und seine Zunge war noch nicht übermäßig schwer.

Er wandte sich wieder dem Mädchen zu. Ein weiterer Vorteil dieser frühen Abendstunde war für ihn, daß er noch halbwegs klar und deutlich wahrnahm, was sich um ihn herum abspielte. Die Stimmung beflügelte ihn, und er konnte auch die körperlichen Reize der Halbindianerin voll auskosten.

Später, wenn er genug Rotwein getrunken hatte, war das Vergnügen anderer Art. Dann lag es eher an diesem süßen Schwebezustand, in dem er das ganze Leben durch einen rosaroten Schleier sah.

Meist sorgte Vallejo, der Schankwirt, dafür, daß er sicher nach Hause gebracht wurde. Nach Hause! Ein karges Zimmer in der Garnison. Gewiß, er hatte alle Annehmlichkeiten, die ein Capitán beanspruchen konnte. Den Rotwein brachte ihm die Ordonnanz, und die Stiefel putzte ihm einer der jungen Gardisten. Trotzdem war das außerdienstliche Leben so langweilig wie das Amt des Kommandanten der Stadtgarde.

Wie heute, so meldete sich Marcelo fast jeden Tag schon in den Nachmittagsstunden zu einem „Kontrollgang“ ab. Vallejo und die meisten anderen Schankwirte waren auf diese „Kontrollen“ eingerichtet, und sie kannten die besonderen Wünsche und Vorlieben des Señor Comandante.

Das Mädchen beugte sich dem Tisch zu, füllte das Glas erneut und reichte es ihm. Er staunte über die Biegsamkeit ihres Körpers und das lange jettschwarze Haar, das im trüben Lampenlicht wie kostbare Seide schimmerte. Ihre Augen waren wie rätselhafte vulkanische Glut, als sie ihm das Glas vor die Lippen hielt. Sein Blick wanderte zu dem funkelnden Rubinrot des Weines.

„Du kannst einem den Verstand rauben, Chica“, sagte er heiser. „Wie heißt du eigentlich?“

„Consuela, Señor.“

Er nahm einen ausgiebigen Schluck und ließ sie das Glas wegstellen.

„Und weiter?“

„Das ist alles, Señor. Ich habe nur den einen Namen. Stört Sie das?“

Für einen Augenblick sah er sie verdutzt an. Dann lachte er schallend.

„Stören? Himmel, Chica, warum sollte mich das stören? Von mir aus brauchtest du überhaupt keinen Namen zu haben. Hauptsache, du hast die richtigen Sachen am richtigen Fleck.“

Sie kicherte und schmiegte sich ein wenig fester an ihn. Er hatte das Gefühl, daß ihm gleich schwindlig werden müßte. Selten hatte er ein solches Mädchen gehabt. Ein Glücksgriff. Vallejo, der alte Hundesohn, verdiente eine kleine Belohnung. Man mußte die Leute schließlich bei Laune halten.

Undeutlich hörte Marcelo durch das Stimmengewirr von draußen aus der Gasse Hufgetrappel und das mahlende Geräusch von eisenbeschlagenen Rädern. Beides endete, gleich darauf ließ sich das Türglöckchen scheppernd vernehmen. Im nächsten Moment senkten sich die Stimmen im Schankraum zu respektvollem Flüstern. Harte Stiefelschritte hallten von der niedrigen Decke wider.

Capitán Marcelo bemerkte von all dem nichts, da er sich intensiv mit Consuela und der Glut ihrer Lippen befaßte.

Eine militärisch klingende Stimme riß ihn aus den wohligen Wolken seines traumartigen Zustands.

„Capitán, mit Verlaub, ich muß Sie dringend sprechen!“

Marcelo blinzelte unwillig, schob das Mädchen ein Stück von sich und starrte die höchst unwillkommenen Besucher an. Beide waren ihm hinlänglich bekannt. Primer Teniente Echeverria, einer seiner Stellvertreter, und Teniente Denaro, einer der besonders diensteifrigen jungen Offiziere.

Burschen dieser Art waren Marcelo stets ein Dorn im Auge, da sie ihn als älteren Offizier meist indirekt dazu zwangen, ein Vorbild zu sein.

„Echeverria!“ sagte er ärgerlich. „Was fällt Ihnen ein, verdammt noch mal! Mich hier und jetzt zu stören! Haben Sie schon mal etwas von Anstand gehört?“

Im Schankraum war es mittlerweile mucksmäuschenstill geworden.

Der Primer Teniente rümpfte die Nase, da ihm eine Wolke von Rotweindunst entgegenwehte. Das Mädchen auf Marcelos Knien beeindruckte weder ihn noch seinen jüngeren Kameraden.

„Ich bin aus dienstlichem Anlaß hier, Señor Capitán“, sagte Echeverria hoch aufgerichtet. „Man hat Sie überall in der Stadt gesucht.“

Marcelo hieb mit der Faust auf den Tisch.

„Na und?“ brüllte er. „Bin ich irgend jemandem Rechenschaft schuldig? Bin ich Kommandant der Stadtgarde oder nicht?“

„Ja, Señor Capitán, aber …“

„Kein Aber!“ Marcelo ereiferte sich in unverminderter Lautstärke. „Ihr beiden Diensteifrigen würdet es fertigbringen, mich aus dem Schlafzimmer einer feinen Señora zu holen, stimmt’s? Und es wäre euch verdammt egal, ob alle Welt mitkriegt, daß dem armen Ehemann Hörner aufgesetzt wurden, habe ich recht?“

Einige der Leute in der Bodega lachten leise hinter vorgehaltener Hand. Consuela nutzte die Gelegenheit, aus der Reichweite des erbosten Kommandanten zu huschen.

Echeverria und Denaro wechselten einen pikierten Blick. Es wurde ihnen von Sekunde zu Sekunde unangenehmer, auf diese Weise in aller Öffentlichkeit kundtun zu müssen, was für einen Kommandanten die Stadtgarde hatte.

„Señor Capitán“, erwiderte Echeverria steif. „Ich darf sachlich bleiben, wenn Sie erlauben. Teniente Denaro und ich haben den Auftrag, Ihnen mitzuteilen, daß Sie mit sofortiger Wirkung zum kommissarischen Gouverneur ernannt worden sind. Generalkapitän de Campos ist tot. Sie sind sein rechtmäßiger Nachfolger. Gouverneurssekretär Corda und Gefängnisdirektor Cámpora als höchste Beamte unserer Stadt bitten Sie einvernehmlich, Ihre Aufgaben als Gouverneur unverzüglich wahrzunehmen.“

Marcelo blieb stumm. Er stierte die beiden Offiziere an, als habe er zwei fremdartige Wesen vor sich. Er riß die Augen weit auf, kniff sie zu und öffnete sie wieder. Nichts änderte sich. Echeverria und Denaro, die da vor ihm standen, als hätten sie Besenstiele verschluckt, waren Wirklichkeit. Folglich mußte das, was sie soeben von sich gegeben hatten, auch Wirklichkeit sein.

„Ich bin was?“ ächzte Marcelo dennoch.

„Sie sind Gouverneur, Señor Capitán“, sagte der Primer Teniente langsam und deutlich.

In der Bodega wäre nach diesen Worten das Fallen einer Stecknadel als lautes Klirren zu hören gewesen.

Capitán Don Luis Marcelo zerknirschte einen Fluch auf den Zähnen. Er konnte sich eben noch beherrschen, seinen Ärger nicht hinauszubrüllen.

Nicht genug, daß ihm diese beiden Offiziersaffen den so vielversprechend begonnenen Abend verdarben. Nein, sie mußten ihm auch noch eine solche Hiobsbotschaft überbringen!

 

Gouverneur!

Das bedeutete Verantwortung, Arbeit, Entscheidungen treffen, repräsentieren, im Licht der Öffentlichkeit stehen …

Marcelo duckte sich unwillkürlich unter der schweren Last, die er da auf sich zurücken sah.

Doch andererseits …

Gouverneur sein, bedeutete auch, in feinste Kreise vorzudringen. Was er da vom Schlafzimmer einer feinen Señora dahergeredet hatte, blieb dann nicht einmal abwegig.

Teufel auch, er hatte schon oft davon gehört, wie zügellos es in der vornehmen Gesellschaft zugehen sollte, wenn sie sich hinter verschlossenen Türen zurückzog. Warum sollte er daran nicht auch ein wenig teilhaben?

„Señor Capitán“, sagte Echeverria leise und eindringlich.

Marcelo nickte. Entschlossen klatschte er mit der flachen Hand auf den Tisch und stemmte sich hoch. Er schwankte etwas, als er auf beiden Beinen stand.

„Also gut, Señores“, sagte er brummend. „Ich nehme an, ich wohne jetzt im Gouverneurspalast. Richtig?“

„Selbstverständlich, Capitán“, antwortete Echeverria mit einer knapp bemessenen Verbeugung.

„Gut, gut.“ Marcelo wedelte energisch mit der Rechten. „Dann sorgen Sie nach der Rückkehr in die Garnison als erstes dafür, daß meine persönlichen Sachen in die Residenz gebracht werden. Denaro, Sie überwachen den Transport persönlich. Noch heute abend.“

„Jawohl, Señor Capitán.“ Der Teniente salutierte wohl oder übel.

„Fein“, sagte Marcelo mit zufriedenem Nicken. „Dann wollen wir mal. Folgen Sie mir, Señores.“

Capitán Marcelo hatte von sich selbst den Eindruck, daß er seinen beiden Untergebenen würdevoll voranschritt. Jeder in der Bodega, auch Echeverria und Denaro, konnte indessen sehen, daß sich der neue Gouverneur auf höchst unsicheren Beinen ins Freie begab.

Als das Glöckchen gebimmelt hatte und die Tür zugefallen war, setzte zunächst ein Raunen ein. Sehr rasch steigerte es sich zu einem lautstarken Durcheinander von Stimmen.

Die beiden Mädchen von der Plaza der Residenz erwiesen sich als sachkundige Führerinnen. Sie waren imstande, den schmucken Gardisten aus Santiago jede Frage über Havannas bedeutende Bauwerke und Plätze zu beantworten. Cisca und Graciela hatten sich bei ihren „Eroberungen“ untergehakt, und es behagte ihnen, ihrerseits als „Eroberungen“ betrachtet zu werden.

Mit so eindrucksvoller Begleitung hatten sie jedenfalls keine Angst, zur beginnenden Abendstunde noch durch die Gassen zu streifen.

„Jetzt zeigt ihr uns aber die Hafenschenken“, sagte Ciscas Begleiter, jener hochgewachsene junge Mann, der die Nachricht aus seiner Heimatstadt in den Gouverneurspalast von Havanna gebracht hatte.

„Ihr habt es versprochen“, fügte sein Gefährte hinzu, an dessen Seite Graciela beschwingt dahinschritt.

„Und was haben wir davon?“ entgegnete Cisca verschmitzt. „Wir haben ausdrücklich gesagt, daß wir solche Lokalitäten nicht betreten dürfen.“

Graciela wandte sich zu ihrer Freundin um.

„Das werden diese beiden raffinierten Burschen auch nicht von uns verlangen. Sie lassen sich die Schenken zeigen, bringen uns nach Hause und wissen dann genau, wohin sie müssen.“

Die beiden Männer protestierten mit übertriebener Empörung, wie sie dem scherzhaften Vorwurf angemessen war. Mit heiterem Wortgeplänkel schlenderten die beiden Pärchen dahin, bogen um eine Ecke und wurden erst nach etlichen Schritten auf die Szene aufmerksam, die sich vor ihren Augen abspielte.

Vor dem Eingang einer Bodega stand ein Einspänner, auf dessen Kutschbock ein Stadtgardist saß. Zwei Reitpferde waren am Wagenheck angeleint.

„Offizierspferde“, flüsterte Gracielas Begleiter, als sie stehenblieben. „Solche Prunksättel haben sie bei uns in Santiago auch. Die Señores, die den Ton angeben.“

Viele der – meist männlichen – Passanten waren ebenfalls stehengeblieben. Was sich da unter dem aus schmiedeeisernen Lettern gebildeten Schriftzug „Cascabel“ und dem kleinen Glöckchen anbahnte, konnte zumindest nicht uninteressant sein. Es würde sich also lohnen, ein wenig den Hals zu recken.

Wenig später sahen sie einen schwankenden Offizier, der in die Kutsche kletterte. Zwei weitere Offiziere, mit kerzengerader Haltung, schwangen sich in die Sättel der Pferde. Die Kutsche rollte los, die Reiter folgten und zwei Minuten später war die kleine Formation hinter der nächsten Gassenbiegung verschwunden.

Männer stürmten aus der Bodega.

„Wißt ihr, wer das war?“ rief einer, der offenbar mit einer Gruppe von Neugierigen in der Gasse bekannt war.

„Capitán Marcelo“, ertönte die Antwort. „War mal wieder voll bis obenhin, was? Da mußten sie ihn wieder abtransportieren.“

„Irrtum!“ schrie einer der anderen aus der Bodega „Cascabel“. „Das war Gouverneur Marcelo. Jawohl, ihr habt richtig gehört, Gouverneur Marcelo!“

Einen Moment herrschte Stille. Dann setzte heftiges Stimmengewirr ein.

Die beiden Mädchen wechselten einen Blick. Jetzt erinnerten sie sich an das Gespräch, das Señora Zinguala am späten Nachmittag mit einem Lieferanten geführt hatte. Der Mann hatte einen Vorfall vor dem Stadtgefängnis beobachtet. Dort hatte ein zerlumpter Kerl, offenbar ein Gefangener, behauptet, der neue Gouverneur zu sein.

Der Gefängnisdirektor hätte ihn verhaften lassen wollen, wäre angegriffen worden, und der angebliche Gouverneur hätte die Flucht ergriffen. Ein dürres Männchen mit gepuderter Lockenperücke hätte sich gegenüber dem Gefängnisdirektor mächtig aufgeblasen. Letzterer hätte sich aber wohl damit durchgesetzt, daß nach Generalkapitän de Campos der Rangnächste Gouverneur werden müsse.

„… soll de Campos tot sein!“ war aus der sich rasch vergrößernden Menschentraube vor der Bodega zu hören.

Die beiden Mädchen sahen ihre Begleiter an.

„Jetzt hat eure geheime Nachricht wohl nichts Geheimes mehr“, sagte Cisca.

„Nein“, erwiderte jener Gardist, der am Stand vor dem Palastportal das Gespräch mit Cisca und Graciela begonnen hatte. „Es stimmt Generalkapitän de Campos ist in Santiago gefallen. Wer allerdings sein Nachfolger wird, geht uns nichts an.“

„Dieser Capitán Marcelo hat einen sehr schlechten Ruf“, sagte Graciela, und sie errötete ein wenig, als sie fortfuhr. „Er soll ein Frauenheld und ein Säufer sein. Das weiß jedes Kind in der Stadt. Man wird ihm keinen Respekt entgegenbringen, wenn er tatsächlich Gouverneur sein sollte.“

Aus dem Pulk vor der Bodega lösten sich die ersten Gestalten. Die Neuigkeit von der Witzfigur Marcelo als Gouverneur würde wie ein Lauffeuer durch die Stadt gehen. Dabei stand jetzt schon fest, daß Marcelo in seiner neuen Funktion nur Gelächter ernten würde.

Die Leute nannten ihn einen versoffenen Hurenbock, bei dem nur noch in seltenen lichten Momenten jenes hart durchgreifende Rauhbein zum Vorschein kam, als das er einmal den Rang eines Capitáns und des Kommandanten erworben hatte.