Seewölfe Paket 26

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8.

In der Cherokee-Bucht herrschte der übliche Alltagsbetrieb. Außerhalb und innerhalb der bereits fertigen und auch der halbfertigen Hütten sowie auf den Schiffen wurde gehämmert, gesägt und sonstwie gearbeitet, daß es eine nie abreißende Geräuschkulisse ergab. Je mehr man ausbesserte, verbesserte und ergänzte, so schien es, desto mehr fand man zusätzliche Arbeiten, die noch erledigt werden wollten.

Gotlinde Njal hatte sich an diesem Morgen des 9. Juli gewohnheitsgemäß um die Tauben gekümmert und begab sich nun zu dem abseits gelegenen Teil des Strandes ganz in der Nähe der Taubenschläge.

Sie hatte sich nicht getäuscht.

Am Rand des Palmenhains blieb sie stehen und schüttelte mißbilligend den Kopf.

Doch die Gestalt, die da im seichten Uferwasser kauerte und Wäschestücke auf ein wacklig zurechtgezimmertes Holzgestell klatschte, nahm offenbar nichts von ihrer Umgebung wahr. Erst als Gotlinde, die Ehefrau des Wikingers, sich vernehmlich räusperte, hob Mary O’Flynn, geborene Snugglemouse, den Kopf und sah sich um. Mit dem Handrücken der Rechten wischte sie sich über die schweißnasse Stirn.

„Du bist es!“ rief sie unwillig. „Wie lange stehst du schon da und belauerst mich?“

Die Ehefrau des Wikingers ging den Strand hinunter. Drei Schritte vor Mary blieb sie stehen und stemmte zornig die Fäuste in die Hüften.

„Hast du dir das Griesgrämige von deinem Alten angewöhnt, oder was soll der Unsinn?“ fauchte Gotlinde.

Mary O’Flynn richtete sich ächzend auf, und es wurde deutlich erkennbar, welch eine beträchtliche Last sie da bereits in Bauchform mit sich herumschleppte. Abermals wischte sie sich über die Stirn und ließ das Wäschestück fallen, das sie noch in der Linken gehalten hatte.

„Ich kann’s nun mal nicht haben, wenn mich jemand von hinten beobachtet“, sagte sie mürrisch.

„Du weißt genau, daß ich so etwas nie tun würde“, entgegnete Gotlinde. „Was ist los mit dir? Ich meine, ich kann mir vorstellen, wie du dich im großen und ganzen fühlst. Aber da ist etwas anderes. Du bist schon seit einigen Tagen verdammt merkwürdig. So, als ob wir dir alle nur Böses wollten.“

Mary winkte ab und senkte den Kopf.

„Ach, es ist nichts. Überhaupt nichts.“

Gotlinde trat weiter auf sie zu und erfaßte ihre Schultern.

„Mary“, sagte sie eindringlich, „rede dir von der Seele, was dich bedrückt. Das hilft, glaub mir.“

Einen Moment schien es, als wolle sich Mary herumwerfen und davonlaufen. Dieses seltsame Fluchtbestreben war ihr deutlich anzumerken. Doch dann war es Gotlindes mitfühlende Art, die die Oberhand gewann. Tränen standen in den Augen von Mary O’Flynn, als sie zu der hochgewachsenen Ehefrau Thorfin Njals aufblickte.

„Es ist – wegen Donegal“, sagte Mary mit mühsam bezwungenem Schluchzen. „Ich habe den Verdacht, daß sich dieser verdammte Mistkerl mal wieder um alles drücken will. Ein Dach über dem Kopf haben wir nicht, und die Geburt seines Nachwuchses will er bestimmt auch absichtlich verpassen. Ich kenne doch seinen Dickschädel. Wenn sich da drin was festgesetzt hat, dann ist es kaum noch rauszukriegen. Ich sage dir, Gotlinde, der Kerl ist nach Andros gesegelt und hat ganz genau gewußt, was er vorhat. Dort läßt er sich jetzt von hübschen Indianerinnen umturteln, und im September taucht er dann scheinheilig wieder auf und fragt so ganz nebenbei, wie’s mir denn geht.“

Gotlinde lächelte. Es lag auf der Hand: Ende August waren Marys Mutterfreuden fällig, und sie sorgte sich um ihren alten Dickschädel. Nicht Eifersucht war es und ebensowenig Ärger. Was da nun endlich herausgeplatzt war, bedeutete nichts anderes als Sorge um das Wohlergehen von Old Donegal, der leider oft genug mit seinem reichlich kantig geratenen Schädel in Schwierigkeiten geraten war.

„Du hast recht“, sagte Gotlinde in gespieltem Grimm. „Man sollte deinem alten Donegal die Hammelbeine langziehen. Statt mit Indianerinnen zu scharwenzeln, sollte er lieber das Zuhause für dich und das Baby bauen. Aber daran denkt er wohl überhaupt nicht, was? Himmel, in der Beziehung ist ja sogar mein Thorfin noch mitfühlender.“

Mary runzelte die Stirn.

„Kann ich mir nicht vorstellen“, sagte sie unwirsch und wandte sich wieder ihrer Wäsche zu.

Gotlinde lächelte wieder. Unter der rauhen Schale dieser Mary O’Flynn, geborene Snugglemouse, steckte doch ein butterweicher Kern. Einerseits klopfte sie ihrem alten Zausel, ohne mit der Wimper zu zucken, die Bratpfanne auf den Kopf, andererseits jedoch reagierte sie wie eine Mimose, sobald man in die gleiche Kerbe hieb, was ihr Lamentieren über Old Donegal betraf.

Klar, daß in diesem Fall etwas unternommen werden mußte.

Gotlinde ging schnurstracks zu Hasard, achtete aber darauf, daß Mary es nicht mitkriegte.

Gemeinsam mit Ben Brighton, seinem Ersten Offizier, und Dan O’Flynn, seinem Navigator, zog sich Philip Hasard Killigrew in den Schatten der Palmen zu einer Beratung zurück.

„Gotlinde hat völlig recht“, sagte der Seewolf, „und Mary sorgt sich nicht ohne Grund.“

Auf seinen Wink hin berichtete Dan O’Flynn, was er rasch überschlägig durchgerechnet hatte.

„Für die Fahrt nach Andros kann man einen ganzen Tag rechnen, zurück vielleicht etwas mehr, wenn bei Nordostwinden aufgekreuzt werden muß. Sehr gut gerechnet also eine Reisezeit von drei Tagen hin und zurück. Zählt man noch einen oder zwei Tage Aufenthalt hinzu, hätte die ‚Empress‘ nach fünf Tagen wieder hier sein müssen – bei ganz großzügiger Kalkulation vielleicht nach sechs Tagen.“

Hasard und Ben nickten. Es gab nichts an der Tatsache zu deuteln: Nach mehr als zehn Tagen war Old O’Flynn eindeutig überfällig.

„Da war der Sturm am zweiten Juli“, sagte Ben Brighton und sprach das aus, was auch die beiden Freunde bewegte. „Wie ihr wißt, sind die Ausläufer auch hier an Great Abaco vorbeigezogen.“

„Old Donegals Schiffchen könnte durchaus in den Sturm geraten sein“, sagte Hasard und sah den Navigator an.

Dan nickte.

„Vernünftigerweise müßten sie vor dem Sturm gelenzt haben. Das bedeutet, daß sie mit der ‚Empress‘ westwärts gedriftet sind, vielleicht sogar bis in die Florida-Straße.“

Hasard rollte die Seekarte auseinander, die er mitgebracht hatte, legte sie auf den Boden und beschwerte die Ecken mit Steinen.

„Das hätte ich gern etwas genauer“, sagte er.

Dan ging in die Knie und bestimmte zunächst die Position, die die „Empress“ vermutlich bei Beginn des Sturms gehabt hatte. Er stimmte seine Berechnungen auf den Maßstab der Karte ab und hatte das Ergebnis im Handumdrehen.

„Wenn der Alte westwärts vor dem Sturm hergejagt ist“, sagte er, „dann könnte er auf diese Inselgruppe gestoßen sein.“

Ben Brighton beugte sich vor und entzifferte die Schrift über der Stelle, auf die Dan O’Flynn zeigte.

„Die Biminis“, sagte Ben trocken, richtete sich auf und blickte den Seewolf vielsagend an.

Hasard mußte ebenso grinsen wie seine beiden Freunde.

„Das will überhaupt nichts heißen“, sagte Hasard dennoch.

„Bist du davon überzeugt?“ entgegnete Dan, ohne sein Grinsen einzustellen. „Wahrscheinlich haben wir genau den Punkt erwischt, wo der Hase im Pfeffer liegt – will sagen, der Alte in der Quelle der ewigen Jugend.“

Hasard und Ben mußten lachen.

„Trotzdem kann ich mir das nicht vorstellen“, sagte Ben. „Er weiß, daß er bald Vater wird, und er müßte langsam kribbelig werden, weil er für seine künftige Familie noch immer kein Dach über den drei Köpfen gebaut hat.“

„Gehen wir von zwei Möglichkeiten aus“, sagte Hasard, „entweder hat Old Donegal im Sturm Schiffbruch erlitten, oder wir müssen ihn gewaltsam aus dem Jungbrunnen ziehen. Seht ihr eine andere Möglichkeit?“

„Es passieren Dinge zwischen Himmel und Erde …“, sagte Dan feixend, aber dann schüttelte er doch ebenso den Kopf wie Ben.

Der Seewolf zögerte nicht länger. Er rief sämtliche Mitglieder des Bundes der Korsaren am Strand zusammen und schilderte ihnen die Lage.

„Mein Vorschlag“, sagte Hasard, „wir brechen mit der ‚Isabella‘ und der ‚Le Griffon II.‘ gleich morgen früh auf. Und zwar segeln wir westwärts mit Kurs auf die Biminis und beginnen dort mit der Suche. Hat jemand etwas dagegen einzuwenden?“

Mary O’Flynn war die einzige, die sich meldete.

„Nichts einzuwenden“, sagte sie, als Hasard ihr auffordernd zunickte. „Nur eine zusätzliche Bitte. Tretet dem Alten bitte in meinem Namen kräftig in den Hintern. Und wenn er nicht schiffbrüchig auf einer Insel hockt, sondern in seinem komischen Jungbrunnen badet, dann hat er zwei Tritte verdient.“

Das Gelächter der Frauen und Männer vom Bund der Korsaren hallte weit auf die Bucht hinaus. Doch dann wurden sie rasch wieder ernst.

Die Mannschaften der „Isabella“ und der „Le Griffon II.“ begannen unverzüglich mit der Ausrüstung der Schiffe.

Mitten in diese Vorbereitungen platzte am Nachmittag ein vernehmliches Klingeln aus dem Bereich der Taubenschläge.

Wenig später erschien Gotlinde am Strand, Hasard, eben im Begriff, mit einer der Jollen zur „Isabella“ überzusetzen, sprang wieder an Land. Von allen Seiten eilten die Mitglieder des Bundes herbei. Innerhalb von Minuten hatte sich ein großer, erwartungsvoll schweigender Menschenkreis gebildet.

Hasard zog den Zettel aus dem Röhrchen, rollte ihn auseinander und las die Nachricht seines Vetters Arne vor.

„Acht Uhr, 9. Juli. Chaotische Zustände in H., da keine Führung. Aufruhr durch Mob und Diebesbanden – Plünderungen – verteidige Filiale – muß allerdings mit Aufgabe und Flucht rechnen – Hafen frei, da Miliz und Polizei Verteidigungsstellung im Gouverneurspalast bezogen haben. Habe Flucht-Schaluppe bereit, um mich mit Gruppe gegebenenfalls abzusetzen – dann Kurs Florida-Straße. Versuche jedoch, Stellung zu halten. Könnte Unterstützung durch B.d.K. brauchen – Arne.“

 

Alle am Strand standen wie vom Donner gerührt.

Der Einschlag eines 25-Pfünders hätte keine verheerendere Wirkung haben können. Niemand konnte die schlimme Nachricht auf Anhieb verdauen.

Hasard war der erste, der wieder zu Worten fand. Worte, die bedeutungsschwer in die Stille fielen. Jedem einzelnen der Anwesenden wurde dadurch klar, was man sich angesichts der knappen Zeilen Arne von Manteuffels zu denken hatte.

„Wir kommen nicht drum herum“, sagte der Seewolf, „wir müssen uns vor Augen führen, wie diese chaotische Situation in Havanna entstanden ist. Zunächst aber steht fest, daß der B.d.K. – der Bund der Korsaren – Arne und die Freunde nicht im Stich lassen wird. Daran gibt es meines Erachtens nichts zu rütteln.“

„Überhaupt nichts!“ rief der Wikinger dröhnend. „Arne und die anderen werden herausgehauen, und dann können sich die Dons in Havanna gegenseitig an die Gurgeln gehen. Ist doch klar, oder?“ Beifallheischend blickte er in die Runde.

Etliche Männer nickten zustimmend. Auf den ersten Blick war Thorfins Logik in der Tat bestechend.

Siri-Tong wechselte indessen einen Blick mit dem Seewolf, und er spürte, daß sie seine Gedanken erriet.

„So einfach ist das nicht, Thorfin“, sagte sie laut und vernehmlich. „Lassen wir Hasard weitersprechen.“

Der Seewolf nickte ihr zu.

„Wie gesagt“, fuhr er fort, „die Frage heißt: Wie ist diese Situation in Havanna entstanden? Ich bin überzeugt, daß wir vom Bund der Korsaren unser Quentchen dazu beigetragen haben. Vielleicht haben wir sogar den Ausschlag gegeben.“

„Na, fein!“ rief der Wikinger. „Da können wir doch mächtig stolz sein! Was stehen wir noch herum? Arne raushauen, und dann sollten sie …“ Ein strafender Blick von Gotlinde ließ ihn verstummen. Verlegen kratzte er sich am Helm und senkte die Riesenpranke dann wieder auf den Griff des „Messerchens“, das er vor sich in den Sand gestemmt hatte.

„Erinnern wir uns“, sagte Hasard, „Don Diego de Campos, seines Zeichens Generalkapitän, war geradezu besessen von dem Ziel, uns zur Strecke zu bringen. Er ist in den Tod gesegelt, hat also seine verdiente Strafe gefunden. Das ist die eine Seite der Münze, aus unserer Sicht gesehen. Die andere Seite, aus der Sicht der Bevölkerung von Havanna – in diesem Fall einschließlich von Arne und seiner Mannschaft –, muß man etwas anders betrachten. De Campos hatte in der kubanischen Hauptstadt die vollziehende Gewalt übernommen, nachdem Alonzo de Escobedo wegen Mordes und Amtsmißbrauchs verhaftet worden war.“

„Der Strolch müßte noch im Stadtgefängnis sitzen“, sagte Jean Ribault.

Hasard nickte und fuhr fort.

„Nachdem de Campos vor Santiago de Cuba in den Tod gesegelt ist, scheint das Gouverneursamt in Havanna verwaist zu sein. Wahrscheinlich gibt es keinen vorübergehenden Vertreter. Oder es konnte nicht schnell genug reagiert werden. Auf jeden Fall muß ich aus der Nachricht Arnes den Schluß ziehen, daß der Tod des Generalkapitäns indirekt zu den Unruhen in der Stadt geführt hat.“

Eine Hand reckte sich vorsichtig hoch. Hasard sah es, obwohl der Mann, der sich da zu Wort meldete, weiter hinten stand. Und es hatte fast den Anschein, als ob er diese Wortmeldung gleich wieder zurückziehen wollte.

„Natürlich!“ rief der Seewolf. „Wir haben einen Fachmann für die Beurteilung der Verhältnisse in Havanna. Tritt vor, Antonio de Quintanilla, und sag, was dir auf der Zunge liegt.“

Sie bildeten eine Gasse für den früheren Gouverneur von Kuba, der beim Bund der Korsaren eine tiefgreifende persönliche Wandlung durchlaufen hatte. Niemanden fiel es mehr besonders auf, da man ihn fast jeden Tag sah.

Wenn man sich aber in Erinnerung rief, welch ein Koloß er gewesen war, dann konnte man doch nur staunen. Seine äußere Veränderung vollzog sich mit Riesenschritten. Längst war seine teigige Blässe einer gesunden Bräune gewichen, und wenn er auch noch nicht als schlank zu bezeichnen war, so hatte sich sein Körper insgesamt doch wesentlich gestrafft.

Er folgte der Aufforderung des Seewolfs und trat in die vordere Reihe neben Jean Ribault und die Rote Korsarin.

„Ich will mich nicht als Besserwisser aufspielen“, sagte de Quintanilla, „aber ich möchte behaupten, daß eine gewisse Unruhe in Havanna schon eingesetzt haben könnte, als de Campos mit seinen Galeonen die Stadt verließ. Ich selbst habe ja in der Beziehung unrühmliche Beispiele gegeben. Man braucht nur an die Mäuse zu denken, die in Abwesenheit der Katze auf dem Tisch tanzen. Ohne eine straffe Führung funktioniert in Havanna nichts so, wie es funktionieren sollte. Jeder wirtschaftet nach Kräften in die eigene Tasche, wie ich das auch getan habe. Das höhere Ziel wird dabei leider nicht genügend beachtet.“

Die Mitglieder des Bundes wechselten erstaunte Blicke. Es war beeindruckend, wie freimütig de Quintanilla heute über seine Vergangenheit sprach. Man konnte den Eindruck haben, daß er eine schwere Last abgeschüttelt hatte. Dies war nicht mehr der Mann, der ungeheuren Reichtum zusammengerafft und nur das persönliche Wohlergehen im Auge gehabt hatte. Dies war ein neuer Mensch.

„Ich verstehe“, sagte der Seewolf. „Wer müßte nach den geltenden Bestimmungen kommissarischer Verwalter des Gouverneursamtes werden?“

De Quintanilla brauchte nicht lange zu überlegen.

„Der Nächste im Rang, nach dem Generalkapitän. Das wäre Capitán Marcelo, Don Luis Marcelo, der Kommandant der Stadtgarde. In meinen Augen allerdings ein Mann, der für das Amt absolut ungeeignet ist. Er gilt als heruntergekommener Säufer, der neben dem Alkohol nur Weiber im Sinn hat.“

„Das bedeutet praktisch“, entgegnete Hasard, „daß der Gouverneurssessel so oder so verwaist ist – ob mit Marcelo oder ohne ihn. Hätte de Escobedo eine Chance, die Macht wieder an sich zu reißen, einmal angenommen, der Mob würde ihn aus dem Gefängnis befreien?“

De Quintanilla zog die Schultern hoch.

„Die Frage kann ich nicht eindeutig beantworten. Dabei spielen zu viele Faktoren eine Rolle. Ich traue de Escobedo aber zu, daß er jede Chance nutzt, die sich ihm bietet. Je nach den Umständen wird man also mit ihm rechnen müssen.“

Hasard bedankte sich mit einer Handbewegung bei dem ehemaligen Gouverneur. Antonio de Quintanilla senkte den Kopf und zog sich wieder an seinen ursprünglichen Platz in den hinteren Reihen zurück.

Für den Seewolf war es nun eindeutig, wie sich die Dinge in Havanna entwickelt hatten. Wo keine vollziehende Gewalt die Macht ausübte, fing es in der Gosse stets an zu brodeln. Das geschah in Havanna nicht zum ersten Male. Da wurden Elemente freigesetzt, die die Gunst der Stunde zu nutzen gedachten und nichts anderes mehr in ihren Köpfen hatten als die Gier nach Beute. Mittels des Faustrechts ging man an das große Abräumen, die persönliche Bereicherung war das alleinige Ziel.

Gewiß mußte der Bund der Korsaren diese Entwicklung letztlich begrüßen. Vielleicht konnte man es sogar als einen gewollten Effekt bezeichnen. Denn alles, was Spanien schadete, war ein Erfolg für den Bund. Die Knechtung der Menschen in der Neuen Welt und die rücksichtslose Ausbeutung ihres Landes durch die Spanier rechtfertigte eine Menge Mittel im Kampf gegen sie.

Aber im Gegensatz zu bisherigen Geschehnissen in Havanna hatte Arne von Manteuffel diesmal einen eindringlichen Notruf geschickt.

Die Faktorei und die vier Menschen, die sie betrieben, waren ernsthafter denn je gefährdet. Hinzu kam eine Tatsache, die bei den derzeitigen Geschehnissen besondere Bedeutung hatte: Für die anarchistischen Küstenwölfe, die Hafenhyänen und die sonstigen Galgenstricke war Arne genau das, was er nach außen hin glaubhaft zu spielen hatte – nämlich ein Kaufmann, ein offenbar wohlhabender Pfeffersack, den es nach Kräften auszunehmen galt.

Sicher, gefahrvoll war Arnes Position in Havanna von Anfang an gewesen. Das Risiko hatte für ihn aber eher darin bestanden, möglicherweise von den Spaniern als Spion enttarnt zu werden. Der Beitrag, den er als Mitglied des Bundes der Korsaren geleistet hatte, um den Spaniern Schaden zuzufügen, war beträchtlich. Die meisten erfolgreichen Beutezüge waren auf Arnes Informationen, durch Jussufs Brieftauben übermittelt, zurückzuführen.

Daß aber ausgerechnet verbrecherische Elemente Arne von Manteuffel einmal in Lebensgefahr bringen würden, war bisher nicht denkbar gewesen. Jedenfalls nicht in dieser Form.

Genaugenommen, war es beinahe Ironie, daß Arne, Jörgen Bruhn, Jussuf und Isabella Fuentes jetzt die Faktorei verteidigten und damit in gewissem Sinne auf der Seite der spanischen Bürgerschaft von Havanna gegen das Lumpenpack kämpften – oder zumindest für die Interessen jener Bürgerschaft. Denn es war kaum anzunehmen, daß die wirklichen Pfeffersäcke von Havanna tatkräftigen Widerstand gegen den Aufruhr leisteten. So oder so war es eine Verkehrung der eigenen Ziele.

Diese Erkenntnis ließ Hasard betroffen werden.

Da waren auch Aberhunderte von anständigen Spaniern – Frauen und Kindern zumal – in Havanna, die jetzt der Willkür eines entfesselten Mobs ausgeliefert waren.

Nein, das konnte und durfte nicht Ziel des Bundes der Korsaren sein!

Einmal mehr mußte Hasard erkennen, wie sich Dinge ins Gegenteil verkehren konnten, die er selbst in Bewegung gebracht hatte. Wenn auch die Motivation anders gewesen war, so konnte man sich hinterher nicht damit herausreden, eben ein solches Ergebnis habe man nicht gewollt.

„Wir holen Arne und die anderen heraus“, sagte er in die Stille hinein, und er wußte dabei, daß seine engsten Freunde genau verstanden, was er meinte.

Diese wirklichen Gedanken konnte er nicht laut aussprechen. Denn sie lauteten: Wir kämpfen auch für Havanna. Hätte er das verkündet, wäre der Wikinger auf der Stelle wie ein Vulkan explodiert. Und ein interner Zwist war in der augenblicklichen Situation das Letzte, was man sich leisten konnte.

Siri-Tong meldete sich mit einem Handzeichen, und Hasard nickte ihr zu. Der Wikinger stand noch sinnierend da, und man konnte sich ungefähr vorstellen, in welche Richtung sich seine Gedanken bewegten.

„Ich schlage vor, daß Jean mit der ‚Golden Hen‘ zusätzlich ankerauf geht“, sagte die Rote Korsarin. „Mehr ist dann aber auf keinen Fall möglich, denn wir dürfen nicht den Fehler begehen, den Stützpunkt zu sehr zu entblößen.“

Jean Ribault hieb in die Kerbe.

„Völlig richtig! Ich möchte zusätzlich vorschlagen, daß Thorfin mit dem Schwarzen Segler als kampfstärkster Einheit die Führung der Verteidigung übernimmt.“

Hasard bedankte sich mit einem kaum merklichen Augenzwinkern bei Jean.

„Einverstanden, Thorfin?“ fragte er.

Der Wikinger kratzte sich erneut am Helm, erntete dafür einen mißbilligenden Blick von Gotlinde und rang sich dazu durch, zustimmend zu brummen.

„In Ordnung“, sagte der Seewolf. „Wir müssen außerdem eine Brieftaube mit einer Nachricht für Arne losschicken. Wie sieht es damit aus, Gotlinde?“

„Dafür nehmen wir den Täuberich Izmir“, erwiderte die Frau des Wikingers. „In Havanna erwartet ihn seine Partnerin Kiymet.“

Am Spätnachmittag des 9. Juli gingen die „Isabella“, die „Le Griffon II.“ und die „Golden Hen“ in See. Der Täuberich Izmir stieg mit der Nachricht auf, daß Hasard, Jean Ribault und Edmund Bayeux zur selben Stunde mit Kurs Havanna ausgelaufen seien.

Verabredet war überdies, daß man über die Biminis segelte, um gleichzeitig nach der „Empress“ zu forschen. Falls man damit nicht auf Anhieb Erfolg haben sollte, würde Edmond Bayeux mit der „Le Griffon“ zurückbleiben und die Suche nach Old Donegal und seinen Männern fortsetzen.

In der Wichtigkeit rangierten beide Fälle – die ausgebliebene „Empress“ und Arnes gefährliche Lage in Havanna – an gleicher Stelle. Darüber gab es für die Männer an Bord der drei Schiffe nicht den geringsten Zweifel.

Zwei Tage später, am Nachmittag des 11. Juli, stand unvermittelt fest, daß die „Le Griffon II.“ bei dem kleinen Verband des Bundes bleiben würde.

Dan O’Flynn, der sich auch als Navigator gern auf die Tatsache verließ, daß er von allen Mitgliedern des Bundes der Korsaren noch immer die schärfsten Augen hatte, war in den Großmars aufgeentert und brüllte ein begeistertes: „Mastspitzen Backbord voraus!“

Daß es sich bei den Mastspitzen um jene der „Empress of Sea“ handelte, hatte Dan ebenfalls bereits erkannt, als sie nur erst über der westlichen Kimm zu sehen waren. Die kleine Karavelle des alten O’Flynn hatte soeben die Bimini-Inseln gerundet.

 

Wenig später gab es eine lautstarke und freudige Begrüßung, als die Schiffe vor Treibanker gegangen waren. Hasard, Jean Ribault und Edmond Bayeux enterten auf die „Empress“ über, und mit knappen Worten wurden die Neuigkeiten ausgetauscht. Es blieb indessen keine Zeit, über den von den „Empress“-Mannen geborgenen Goldschatz groß ins Staunen zu geraten. Die Dinge in Havanna hatten jetzt absoluten Vorrang.

Sofort stand fest, daß die „Empress“ mit nach Havanna segeln würde. Ed Carberry, der Kutscher und Stenmark wechselten auf die „Isabella“ über, die Zwillinge und Plymmie blieben indessen an Bord bei ihrem „Granddad“.

Die Treibanker wurden aufgehievt, und der Wind füllte die Segel der vier Schiffe, deren Ziel die kubanische Hauptstadt war. Nur eine Frage bewegte die Männer nun noch:

Würden sie noch rechtzeitig in Havanna eintreffen?

ENDE