Seewölfe Paket 26

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1.

Das Haus erbebte unter den Stößen.

Wie Donner dröhnten die berstenden Schläge aus dem Erdgeschoß durch alle Räume. Bei jedem Rammstoß ächzte das Holz der Türen und der Fensterläden bedrohlich. Von draußen war das Johlen der wilden Horde zu hören. Vereinzelte Schüsse krachten, wenn die Kerle aus purer Wut oder aus verfrühtem Triumph ihre Pistolen in die Luft abfeuerten. Hafendirnen, die die marodierenden Meuten stets begleiteten, schleuderten ihre schrillen Verwünschungen gegen das wuchtige Bürgerhaus.

Längst waren die Fensterscheiben im oberen Stockwerk von Pistolenkugeln und Steinen zertrümmert worden.

Felipe Herrera wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Das Gesicht des stattlich gebauten Mannes war von Schweiß und Schwarzpulver verschmiert. Die rußigen Striemen ließen nicht mehr unterscheiden, was Vollbart und was Haut war. Der schwache, züngelnde Lichtschein, der in das Zimmer im Obergeschoß fiel, stammte von den Fackeln, die die Galgenstricke unten auf der Straße angezündet hatten.

Wieder und wieder donnerten die Rammstöße durch das Haus.

Herrera richtete sich blitzschnell am Fenster auf. Im selben Moment hatte er die soeben nachgeladene Muskete im Anschlag. Der Schuß krachte ohrenbetäubend. Pulverrauch wölkte fett und schwarz in den Raum und legte sich beißend auf die Atemwege der fünf Menschen, die hier ausharrten.

Ein gellender Schrei auf der Straße war der Beweis für Herreras Zielsicherheit. Er wich vom Fenster zurück. Wütendes Gebrüll ertönte. Pistolenschüsse krachten in rascher Folge, die Kugeln prasselten in das Mauerwerk rings um das Fenster, an dem der Handelsmann eben noch gestanden hatte.

„Einen von den Strolchen habe ich erledigt“, sagte er triumphierend und reichte die Muskete mit dem noch warmen Lauf den beiden jungen Frauen, die im hinteren Winkel des Raumes mit Pulverflaschen, Schußpflastern, Kugeln und Ladestöcken hantierten.

Ricarda und Amata waren Hausgehilfinnen der Familie Herrera, und sie hatten sich freiwillig bereit erklärt, bei ihrem Dienstherrn zu bleiben – ebenso wie Ernesto und Ugo, die beiden Diener.

Mit geschickten Händen arbeiteten Richarda und Amata in nahezu völliger Dunkelheit. Kerzen- oder Lampenlicht war im Umgang mit Pulver zu gefährlich. In den möglichen Wirren des Geschehens konnte man sich allzu leicht selbst in die Luft jagen.

Ein erneuter Rammstoß erschütterte das Haus. Diesmal blieb es nicht beim Dröhnen und Erbeben des Mauerwerks. Holz splitterte. Ein kurzes Klirren von Scherben war zu hören. Die Kerle waren im Begriff, einen der Fensterläden und die dahinter befindliche Bohlensicherung zu zerstören.

Entsetzt verharrten die fünf Menschen im Obergeschoß. Dies konnte das beginnende Ende sein und bedeuten, daß das Warten auf Hilfe vergeblich war. Ricarda und Amata bekreuzigten sich, alle dachten an die Frau und die Kinder des Handelsherrn.

Señora Herrera hatte sich an der Verteidigung des Hauses beteiligen wollen, aber ihr Ehemann hatte sie überzeugen können, daß sie die Kinder beaufsichtigen mußte, mit denen sie sich hoch oben – in der Dachkammer – halbwegs in Sicherheit befand.

Felipe Herrera gab sich einen Ruck. Der nächste Rammstoß würde in wenigen Sekunden erfolgen. Es mußte etwas geschehen.

„Ernesto“, sagte er rauh, „wir müssen unten nach dem Rechten sehen. Bist du bereit?“

„Si, Señor“, erwiderte der Diener sofort, ein untersetzter Mann mit rundem Gesicht, das ebenso pulververschmiert war wie das seines Dienstherrn.

„Beeilen wir uns!“ rief Herrera. „Ugo, du versuchst, die Kerle mit der Muskete zurückzuhalten!“

Der zweite Diener, ein sehniger Mann, hatte sich bereits mit einer Langwaffe versorgt und näherte sich geduckt dem Fenster, von dem aus Felipe Herrera gefeuert hatte.

Der Hausherr nahm unterdessen eine Pistole vom Tisch und eilte voran. Ernesto schob zwei Kurzwaffen unter den Hosenbund und folgte dem Inhaber des Handelshauses. Im Erdgeschoß befanden sich ausschließlich die Kontore der Compañia Herrera y Castillo.

Herrera hatte die Mehrheit des Geschäftskapitals, sein Teilhaber Castillo fungierte als eingeschränkt weisungsberechtigter Geschäftsführer. Das Nachbarhaus, in dem er mit seiner Familie gewohnt hatte, war längst ausgeplündert worden. Nach Ausbruch der Unruhen hatte sich Castillo der Mehrheit der Bürger angeschlossen und sich in die Residenz evakuieren lassen.

Herreras Haus war wie eine Insel im Meer von Gewalt. Er gehörte zu den wenigen, die sich dem Aufruhr des Pöbels widersetzten. Lediglich von dem deutschen Handelsherrn Arne von Manteuffel wußte er, daß dieser ebenfalls noch den Angriffen trotzte. Von den restlichen Widerstandsnestern im Stadtgebiet hatte Herrera in dieser Nacht auf den 9. Juli Anno 1595 schon seit Stunden nichts mehr gehört.

Es war das große Kontor in der vorderen linken Gebäudehälfte, in dem das Fenster nachzugeben drohte.

Ein abermaliger Rammstoß dröhnte den beiden Männern entgegen, als sie den von Balkenverstrebungen durchkreuzten Raum betraten. Wieder splitterte Holz.

Ernesto hatte eine Laterne aus dem oberen Korridor mitgebracht. Furchtlos begann er, die Querbalken und die Stützbalken jenes Fensters abzuleuchten, durch dessen entstehende Ritzen der Fackelschein von außen drang.

Im Obergeschoß krachte die Muskete. Wutgebrüll der Kerle und schrilles Kreischen der Hafenweiber waren die Antwort. Gleich darauf erfolgte ein wildes Geknatter von Pistolenschüssen. Ein Schmerzensschrei innerhalb des Hauses ertönte, dann folgte der dumpfe Laut eines hinschlagenden Körpers. Gleich darauf waren wieder Schreie zu hören – die Stimmen Ricardas und Amatas, voller Entsetzen.

Draußen wechselte das Gebrüll von Wut zu Triumph.

Einen Atemzug lang sah Ernesto seinen Herrn erschrocken an. Das Licht, das durch die Ritzen der inneren Balkenlage des zerstörten Fensters drang, warf schmale rötliche Streifen auf sein Gesicht.

„Señor“, sagte der Diener heiser, „würden Sie die Laterne halten?“

Felipe Herrera nickte nur, folgte der Aufforderung und beobachtete Ernesto, wie er einen schweren Hammer vom Fußboden aufhob und die Stützbalken fester schlug. Das Gebrüll der Plünderer steigerte sich. Der nächste donnernde Rammstoß übertönte es, schien es auszulöschen. Das Donnern setzte sich in einem Prasseln und Krachen fort. Die oberen Balken hinter dem getroffenen Fenster flogen weg wie morsche Hölzer.

Ohne einen Laut stürzte Ernesto zu Boden, von zwei oder drei Balken gleichzeitig getroffen. Nur noch der untere Teil der Balkenverstrebungen hielt stand.

Mit weit aufgerissenen Augen sah Felipe Herrera, was geschah. Noch immer hielt er die Laterne, und er stand wie erstarrt.

Sein Diener rührte sich nicht mehr. Über ihm flutete Fackelschein durch die entstandene Öffnung. Ein Viertel des Baumstammes, den die Kerle als Ramme benutzt hatten, ragte herein. Beinahe andächtig war die draußen einkehrende Stille.

Gesichter bewegten sich rund um den Stamm. Dreckstarrende, stoppelbärtige Gesichter mit gierigen Augen. Wüste Visagen voller Siegesgewißheit. Sie schienen eine Weile zu brauchen, um ihren Erfolg zu begreifen.

Mit starrem Blick, wie in Trance, löschte Herrera die Laterne und stellte sie auf den Boden. Dann hob er die Pistole und feuerte in die Fensteröffnung. Das Krachen des Schusses, innerhalb der vier Wände um ein Vielfaches verstärkt, ließ seine Ohren schmerzen. Aber das Ergebnis glich alles aus. Es war, als hätte der Mündungsblitz die Schreckensfratzen aus dem Fensterloch weggefegt.

Doch im nächsten Augenblick setzte das Geheul ein. Ihre Stimmen hatten jetzt fast nichts Menschliches mehr. Sie waren wie Wölfe, die im Rudel das sichere Opfer umkreisten und sich gegenseitig zerfleischten, ehe sie zum letzten, alles entscheidenden Angriff übergingen.

Der Pistolenschuß hatte ihre Blutgier nur noch mehr erregt.

Herrera beugte sich todesmutig über seinen Diener, obwohl das entstandene Loch zum Greifen nahe war. Er tastete nach dem Herzschlag Ernestos, aber da war nur noch Reglosigkeit. Im nächsten Moment sah Herrera die gebrochenen Augen des treuen Gefährten, und ihn überfiel ein unbändiger Zorn. Er riß die beiden Pistolen unter Ernestos Gurt hervor.

Die erste Kugel jagte er in eine von rotem Haarwust umrahmte Visage, die – vom Geschrei der Meute angefeuert – in der Öffnung auftauchte. Ein gellender Todesschrei war die Folge. Die Visage verschwand, und für Augenblicke wurde es still.

Felipe Herrera ließ die leergeschossene Pistole fallen und wich mit der noch geladenen Waffe vom Fenster weg.

Die Hölle brach los.

Die brüllenden und kreischenden Stimmen wuchsen zu einem Orkan der Wut an. Der Rammbock wurde zurückgerissen, und Schüsse krachten. Herrera reagierte nicht schnell genug auf die Mündungsblitze, die in den Raum zuckten. Jäher Schmerz durchstach ihn von der Körpermitte her. Erschrocken starrte er auf das Blut, das aus einer Wunde über der rechten Hüfte sickerte und seine Kleidung tränkte.

Der Schmerz wich seiner neu aufflackernden Entschlossenheit. Er ließ sich fallen, feuerte im Liegen und schaffte es noch einmal, die herandrängende Horde zurückzuschlagen.

Doch sofort darauf krachten abermals Schüsse, und er war gezwungen, vor den hereinrasenden Kugeln in den Korridor zurückzuweichen. Er ließ die Pistole liegen. Die Schüsse verebbten, ihnen folgte das Gebrüll, das sich erneut steigerte.

 

Herrera schaffte es, sich aufzurichten. Der Schmerz, auf den er wartete, setzte noch nicht wieder ein. Er begann, die Treppenstufen hochzusteigen.

Im Kontor reckten sich gierige Hände und Arme durch die Fensteröffnung und rissen die noch vorhandenen Stützbalken weg. Herrera sah nicht, wie sich das Loch vergrößerte, doch er hörte das Poltern der fallenden Balken. Das Geschrei erfaßte das Innere des Hauses. Wie eine alles verschlingende Brandung strömten die wüsten Stimmen in das Haus und ergriffen von ihm Besitz, noch bevor es von seinem Eigentümer vollends aufgegeben war.

Felipe Herrera wußte, daß es vorbei war.

Eine seltsame Gefühllosigkeit erfaßte seine Beine. Er bewegte sich schwer und mühsam, als er das obere Stockwerk erreichte. Die beiden jungen Frauen standen da, regungslos, mit Pistolen in den Händen. Ugo lag auf dem Boden beim Fenster, blutüberströmt.

„Nach oben!“ befahl Herrera. „Schnell! Gebt mir eine Waffe!“

Ricarda und Amata gehorchten, gaben ihm eine geladene Pistole in die Hand und stützten ihn auf dem Weg zur Dachkammer. Der Lärm der grölenden und kreischenden Stimmen hatte das Erdgeschoß überflutet, der Nachhall umhüllte die Fliehenden, die doch wußten, daß es kein Entrinnen gab.

Stützbalken und Möbel polterten. Wertvolles Geschirr zerschellte, silbernes Besteck klirrte aus herausgerissenen Schubladen. Felipe Herrera sah vor seinem geistigen Auge, wie sie die Ölgemälde von den Wänden rissen und zerfetzten, wie sie mit ihren Dolchen und Säbeln die Polster der Sessel und Sofas zerschlitzten.

Sie erreichten die Dachkammer, wo Mercedes Herrera und die beiden kleinen Töchter auf die Knie gesunken waren und beteten. Felipe Herrera ging zu seiner Frau und den Kindern und nahm sie in die Arme. Mit der Rechten hielt er die Pistole. Auch Ricarda und Amata schmiegten sich eng an die Kinder, die sie seit ihrer Geburt liebgewonnen hatten.

Die Brandung der Gewalt brüllte durch das Haus.

Drei Pistolenschüsse aus der Dachkammer klangen dünn und unbedeutend und vermochten diese Brandung nicht zurückzuwerfen.

Im Morgengrauen des 9. Juli bestand das Haus der Familie Herrera nur noch aus Mauern, Fußböden und dem Dach. Es gab nichts, was die Plünderer zurückgelassen hatten. Nur die Toten blieben. Der neue Tag sah Havanna als eine Stadt des Todes. Die wüsten Horden zogen sich bei Licht in ihre Rattenlöcher zurück, um den Rausch von Alkohol und Blut- und Beutegier auszuschlafen.

Havanna war an diesem Tag endgültig zu einer Geisterstadt geworden.

Für den Mob hatte mit einkehrender Helligkeit die Schlafenszeit begonnen, und so lastete fast völlige Stille in den Straßen und Gassen zwischen Hafen und Residenz. Alle Ordnungskräfte hatten sich endgültig zurückgezogen.

Die Überlebenden aus den Reihen von Miliz und Stadtgarde befanden sich bei den evakuierten Bürgern in der Gouverneursresidenz. Capitán Marcelo litt noch immer an den Folgen seiner Verwundung, war häufig bewußtlos und somit kaum in der Lage, die Befehlsgewalt voll auszuüben.

Der Primer Teniente Echeverria, einer seiner Stellvertreter, hatte diese Funktion übernommen und war damit beschäftigt, den Verteidigungszustand der Residenz zu verbessern. Die übrigen, ausschließlich jungen Offiziere unterstützten ihn, so gut es ging. Aber man wagte nicht mehr, Patrouillen oder Streifen in die Stadt zu schicken.

Es gab eine Art Niemandsland – jenes Stadtgebiet zwischen Hafen und Residenz, das die Marodeure zwar ausgeplündert hatten, aber nicht besetzt hielten. Tagsüber zogen sie sich aus den Gebieten zurück, die zu normalen Zeiten die vornehmeren Wohngegenden waren. Refugium des Pöbels waren der Hafen und das angrenzende Gebiet der winkligen Gassen mit den vielen Bodegas, Cantinas und sonstigen Kaschemmen.

Nur noch drei Widerstandsnester gab es außer der Residenz und dem Stadtgefängnis. Gehalten wurden nach wie vor die beiden Forts am Hafeneingang – Castillo de la Punta im Westen und Castillo del Morro im Osten. Und erfolgreichen Widerstand leisteten nach wie vor auch die Bewohner des Handelshauses von Manteuffel unmittelbar am Hafen.

Von diesem letzteren Umstand wußte in der Residenz niemand. Keine Patrouille drang mehr bis in die Hafengegend vor. Das Stadtgebiet war zum Feindesland geworden. Niemand aus den Reihen der Bürger, aber auch keiner der Soldaten oder Gardisten nahm das Wagnis auf sich, zu einer Erkundung der Lage aufzubrechen. Man rechnete stündlich mit dem ersten Angriff des entfesselten Pöbels. Hinter den Umfassungsmauern der Residenz waren Waffen und Munition bereitgestellt worden, und die Wachen lösten sich in zweistündigem Wechsel ab.

Nahezu unbeachtet von den vielen Menschen, die jetzt die Residenz bevölkerten, verbrachte ein fuchsgesichtiger kleiner Mann die Tage des Terrors im Bürotrakt des Palasts. Corda, der Sekretär des derzeit nicht existenten Gouverneurs, erschien auch seinen engsten Mitarbeitern völlig verändert, in sich zurückgezogen. Corda hatte begonnen, eine „Chronik des Untergangs der Stadt Havanna“ zu verfassen. Minutiös schilderte er die Geschehnisse seit dem Erscheinen der reitenden Boten aus Santiago de Cuba, die ihm die Nachricht vom Tod des Generalkapitäns de Campos überbracht hatten.

Ob seine Chronik jemals gelesen werden würde, war für den füchsischen Sekretär alles andere als sicher. Im Hintergrund seiner Überlegungen stand jedoch nach wie vor jenes Ziel, das er nach der Todesnachricht zu erreichen versucht hatte. In seinen schriftlichen Schilderungen war der zu jenem Zeitpunkt im Gefängnis einsitzende Alonzo de Escobedo rechtmäßiger kommissarischer Gouverneur von Havanna.

Er, Corda, hatte versucht, de Escobedo zu diesem Amt zu verhelfen. Seinen Aufzeichnungen zufolge war er von Gefängnisdirektor Cámpora daran gehindert worden, und de Escobedo hatte keine andere Wahl gehabt, als unterzutauchen, um sich dem Zugriff des verbohrten Cámpora zu entziehen, der ihn nach wie vor als rechtmäßig inhaftiert betrachtete.

Für Corda war es keineswegs ausgeschlossen, daß de Escobedo nicht doch noch die Macht in Havanna übernahm. Unter der Herrschaft des Pöbels war die Stadt in der Tat dem Untergang geweiht. Wenn aber der starke Mann erschien, der die Lage in den Griff bekam, würde er dankbar sein für einen vermeintlichen treuen Vasallen. Unter diesem starken Mann stellte sich Corda niemanden anders als de Escobedo vor, der bestimmt nur vorübergehend in der Versenkung verschwunden war.

Wenn er sich aber eines Tages zum Stadtoberhaupt und letztlich zum Gouverneur aufschwingen würde, dann würde Corda ihm in besagter Treue zur Seite stehen. Und der gute de Escobedo würde in seinem Machtrausch überhaupt nicht merken, daß er weiter nichts als eine Marionette war.

Mit jeder Zeile, die er zu Papier brachte, war Corda fester davon überzeugt, daß er eines schönen Tages doch noch die Rolle der grauen Eminenz spielen würde, von der er so sehr geträumt hatte.

Dann würde jener Traum wahr werden, in dem er der wahre Herrscher über Havanna und Kuba war – hinter den Kulissen.

2.

Es war ein feuchtkaltes Gewölbe, in dem sich vier Menschen seit nicht mehr gezählten Tagen verborgen hielten. Während der ganzen Zeit hatten sie nur flüsternd miteinander gesprochen, denn sie wußten, daß ein lautes Wort wie Donner aus dem angrenzenden unterirdischen Gang zurückhallte.

„Unsere Vorgesetzten in Santiago werden uns für Deserteure halten“, sagte Raimundo Tejero.

Sein Kamerad lachte kaum hörbar.

„Und leider sind wir nicht wichtig genug“, murmelte Jorge Vero, „daß sie wegen uns einen Suchtrupp in Richtung Havanna losschicken.“

„Und das alles haben wir euch eingebrockt“, hauchte Cisca Duarte, die sich eng an Jorge schmiegte.

Graciela Bonardo nickte bekräftigend.

„Wenn wir darauf bestanden hätten, abends rechtzeitig nach Hause gebracht zu werden, wären wir von dem Pöbel nicht überrascht worden.“

„Unsinn“, sagte Raimundo leise und dennoch energisch. „Das Haus eurer Dienstherrin dürfte nur noch als Ruine bestehen. Und wir sollten alle vier froh sein, daß wir noch am Leben sind.“

„Fragt sich nur“, fügte Jorge bitter hinzu, „wie lange das noch so bleibt. Oder hast du eine Ahnung, wie wir aus unserem selbstgewählten Verlies freikommen wollen?“

Sein Gefährte sah ihn an. Das züngelnde Licht warf fließende Schatten auf die Gesichter der beiden Männer. Seit von oben, aus der Kirche, keine Geräusche mehr zu hören waren, hatten sie es riskiert, die Fackeln in den schmiedeeisernen Halterungen anzuzünden.

Raimundo Tejero deutete auf den gut mannshohen Gang, der von dem Kellergewölbe abzweigte.

„Wenn ich die Orientierung nicht verloren habe, führt dieser Gang nach Süden. Und die Kirche befindet sich in der Nähe des südlichen Stadtrandes.“

„Das stimmt!“ sagte Graciela und nickte.

„Ein geheimer Fluchtweg?“ fragte Jorge Vero.

„Wir sollten nicht zuviel erhoffen“, erwiderte Cisca. „Bestimmt stammt der Geheimgang noch aus der Zeit, als Havanna entstand. Damals war die Stadt klein. Vielleicht endet der Gang heute unter irgendeinem Haus – zugeschüttet oder verrammelt.“

„Wie auch immer“, sagte Raimundo lächelnd, „wir werden es nicht herausfinden, indem wir langatmig darüber reden. Nur durch Taten kommen wir weiter.“

„Das ist ein Wort“, sagte Jorge. „Ich hatte eigentlich nicht vor, ausgerechnet in dieser schönen Stadt begraben zu werden. Geht einer allein, oder gehen alle gemeinsam?“

„Kein Zeitverlust“, sagte Raimundo und blickte die jungen Frauen fragend an.

Cisca und Graciela nickten. Die beiden Männer nahmen je eine Fackel aus den Eisenringen. Raimundo ging voran, sein Gefährte blieb am Schluß. Beide Männer verfügten über ihre Säbel und Pistolen sowie über Pulverflasche und Kugelbeutel, die sie am Gurt trugen.

Mit Cisca und Graciela verband sie längst mehr als jene anfängliche lockere Beziehung, die im gemeinsamen Spaziergang durch das abendliche Havanna bestanden hatte. Sie hatten sich öfter getroffen, und Raimundo und Jorge hatten ihre Rückkehr nach Santiago de Cuba hinausgezögert. Dann waren sie zu viert in die Wirren des Aufstands geraten und hatten vor der Übermacht des Pöbels fliehen müssen.

Mit knapper Not hatten sie sich in die kleine Kirche gerettet, die von dem Geistlichen offenbar bereits aufgegeben worden war. Hinter dem Altar hatten sie die rettende Luke gefunden. Wie durch ein Wunder war die Kirche von den Plünderern bisher weitgehend verschont geblieben.

Zwar waren von Zeit zu Zeit lärmende Horden in das Gotteshaus gestürmt und hatten offenbar nach Gold, Silber und Edelsteinen Ausschau gehalten. Ihre Beute konnte jedoch nicht groß gewesen sein, da es sich nicht um eine der großen, reich ausgestatteten Kirchen von Havanna handelte.

Seit Stunden war von draußen nichts mehr zu hören gewesen. Es mußte folglich Tag geworden sein. Die beiden Gardisten aus Santiago de Cuba hatten längst festgestellt, daß sich der Pöbel tagsüber zur Ruhe begab, nachdem die Nacht mit Plünderungen und wüsten Ausschweifungen verbracht worden war. Wenn es keine Chance gab, durch den unterirdischen Gang in die Freiheit zu gelangen, blieb nur die Möglichkeit, es durch die Kirche zu versuchen.

Was das bedeutete, war den beiden Männern klar. Obwohl sie tagelang im Verborgenen gelebt hatten, konnten sie sich doch sehr gut vorstellen, wie es in der Stadt aussah. Allein hätten sie es eher riskiert, sich durchzuschlagen. Doch für Cisca und Graciela war die Gefahr zu groß. Die Kirche zu verlassen und durch die Stadt zu fliehen, würde der allerletzte Ausweg sein.

Der Gang, dessen Quadersteine vor Feuchtigkeit glitzerten, verlief schnurgerade. Mehrere Male gab Raimundo Tejero das Zeichen zum Verharren. Dann verdeckte er die Fackel, um nach einem fernen Punkt von Tageslicht Ausschau zu halten. Doch nichts dergleichen war zu erkennen. Entweder war der Gang zugeschüttet, oder sie hatten sich in der Zeit geirrt. Vielleicht herrschte noch Dunkelheit, und die wilden Horden hatten sich lediglich früher zur Ruhe begeben als nach den vorherigen Nächten, die mit Mord und Plünderungen ausgefüllt gewesen waren.

Behutsam setzten sie einen Fuß vor den anderen. Trotzdem ließ es sich nicht vermeiden, daß sie gelegentlich Poltergeräusche verursachten, wenn sie gegen Steinbrocken stießen. Ohnehin hatten sie den Eindruck, daß ihre Schritte in dem Gang regelrecht dröhnten. Immer wieder blieben sie stehen, um nach fremden Geräuschen zu lauschen.

Ihre Befürchtungen erwiesen sich als überflüssig. Unvermittelt beschrieb der Gang eine scharfe Biegung nach rechts, und da war der lang ersehnte Lichtpunkt erkennbar.

 

Neue Hoffnung beflügelte die vier Menschen. Sie spürten die frische Luft, die ihnen entgegenwehte und den Modergeruch des Ganges zerstreute. Nach einer knappen Stunde, die ihnen wie eine Ewigkeit erschienen war, konnten sie wieder frei atmen.

Gebüsch tarnte die Öffnung des Geheimganges, die sich in einem bewaldeten Hang befand. Unten am Hang verlief ein Weg, der von Pferdehufen und Radspuren zerfurcht war. Daran angrenzend erstreckten sich in südlicher Richtung Felder, Wiesen und Waldstücke, so weit das Auge reichte.

Das trübe Licht ließ die Landschaft dennoch nicht freundlich erscheinen. Seit Wochen hatte sich kein Sonnenstrahl mehr über Havanna gezeigt. Cisca schmiegte sich erleichtert an Jorge, und Graciela ließ sich von ihrem Gefährten in die Arme nehmen.

In der südlich gelegenen Landschaft war nirgendwo auch nur eine Menschenseele zu erkennen. Kein Bauer, kein Knecht, keine Magd, die auf den Feldern oder vor einem der kleinen Bauernhäuser arbeiteten. Die Häuser wirkten verlassen. Die Unruhen in Havanna mußten sich auch bis hierher ausgewirkt haben. Viele waren geflohen – mit gutem Grund. Wenn der Pöbel in der Stadt nicht mehr genug zu essen fand, würde er über das umliegende Land herfallen.

Raimundo deutete mit einer Kopfbewegung nach oben, zur Nordseite des Hanges.

„Ich werde mal dort nach dem Rechten sehen“, sagte er. „Wirst du es schaffen, beide Damen zu bewachen?“

Jorge nickte und lachte.

„Ich werde mich bemühen“, sagte er augenzwinkernd. „Obwohl ich natürlich weiß, daß es leichter ist, einen Sack Flöhe zu hüten.“

Cisca und Graciela wollten lautstark protestieren, aber Jorge ermahnte sie zur Ruhe, indem er gebieterisch den Zeigefinger hob.

„Das ist sehr einfach!“ flüsterte Cisca mit gespieltem Vorwurf. „Erst behauptet man etwas Unverschämtes, und dann verbietet man dem anderen einfach das Wort.“

„Unsereiner kann das noch“, sagte Raimundo mit einem leisen Lachen. „Aber wie viele geknechtete Ehemänner würden uns darum beneiden!“

Er beeilte sich, aus dem Bereich der Gangöffnung zu verschwinden, denn die beiden jungen Frauen sahen nun wirklich aus, als wollten sie sich auf ihn stürzen, um ihm die Augen auszukratzen.

Er stieg den Hang hoch und hielt dabei die Säbelscheide fest, um kein verräterisches Geräusch hervorzurufen. Wie angebracht diese Vorsichtsmaßnahme war, zeigte sich wenig später.

Oberhalb des Hanges befand sich eine gerodete Waldfläche, auf der Baumstämme in noch ungeordnetem Durcheinander lagen. Nördlich davon, höchstens eine halbe Meile entfernt, begann das Häusermeer von Havanna. Raimundo staunte im ersten Moment, daß nirgendwo eine Rauchsäule zu erkennen war. Bei ähnlichen Ausschreitungen hatte er erlebt, daß der Mob den verhaßten Bürgern den roten Hahn aufs Dach setzte. Hier, in Havanna, schienen sie bei allem Chaos zielstrebiger vorzugehen.

Sie wollten Beute. Und die erhielt man nicht, wenn man alles verbrannte.

Er tat einen Schritt vorwärts und erstarrte im selben Augenblick. Vor seiner rechten Stiefelspitze war ein menschliches Bein, auf das er um ein Haar getreten wäre. Das Bein lugte hinter einem Baumstamm hervor und war von zerlumptem, dreckstarrendem Tuch umhüllt.

Vorsichtig bewegte sich der Gardist zur Seite, dann lautlos vorwärts, so daß er hinter den Baumstamm blicken konnte.

Seine Augen weiteten sich. Regungslos verharrte er.

Fünf Kerle lagen dort, in trautem Beieinander, im Windschutz des gefällten Baumes. Sie hatten sich in Decken gehüllt. Weinkrüge lagen umgekippt neben den Resten eines Feuers. In der Asche waren angekohlte Geflügelknochen zu erkennen.

Beute schienen die Kerle nicht bei sich zu haben. Möglicherweise hatten sie ihr Diebesgut irgendwo vergraben. In Zeiten des totalen Chaos mußten die zweibeinigen Hyänen darauf bedacht sein, sich das einmal Gestohlene nicht von ihresgleichen wieder entreißen zu lassen.

Raimundo Tejero wollte sich abwenden, um die anderen zu warnen. Wenn man sich leise genug verhielt, konnte man sich unentdeckt entfernen. Fünf Galgenstricke aus dem Schlaf zu reißen, war alles andere als ratsam.

Einer der Kerle erwachte, ohne daß der Gardist sich bewußt war, ein lautes Geräusch verursacht zu haben. Ein struppiges Bartgesicht fuhr halb hoch, verzog sich zu einer Grimasse, und mißtrauische Augen blinzelten.

Im nächsten Moment entdeckte der Kerl den hochgewachsenen Gardisten. Ein Warnschrei entrang sich der Kehle des Struppigen.

Raimundo Tejero zog den Säbel. Das metallische Geräusch beendete den Schrei des Kerls.

Er fuhr hoch, schleuderte die Decke von sich und brachte ein Entermesser zum Vorschein.

„Jorge!“ brüllte Tejero und drang im selben Atemzug auf den Kerl ein.

Mit zwei blitzschnellen Hieben fegte er dem Galgenstrick das Entermesser aus der Hand, und er tötete den Mann, ohne ihn erst einen Angstschrei ausstoßen zu lassen.

Die anderen erwachten in dieser Sekunde. Knurrende Laute waren zu hören. Einer versuchte, nach den Stiefeln des Gardisten zu greifen und ihn zu Fall zu bringen. Rechtzeitig, mit einem federnden Satz, wich Tejero aus.

Sein Gefährte stürmte den Hang herauf, den Säbel bereits gezogen. Beiden Männern war klar, daß sie einen Schuß und auch möglichst jedes sonstige Geräusch verhindern mußten.

Gnade war nicht angebracht.

Raimundo und Jorge erinnerten sich nur zu gut an das, was sie zu Beginn des Aufruhrs erfahren und mit eigenen Augen gesehen hatten. Die Marodeure waren gegen Bürger, Gardisten und Soldaten mit List und Tücke vorgegangen, hatten sie in Hinterhalte gelockt oder sie mit Schüssen in den Rücken getötet. Maßstäbe von Ritterlichkeit waren hier nicht anzuwenden, sie kosteten nur das eigene Leben.

Einen Kerl mit vom Alkohol geröteten Gesicht brachte Tejero mit einem Fußtritt von den Beinen, als der Bursche gerade aufgesprungen war und erstaunlich schnell ein Tromblon hochriß, das er neben sich liegen gehabt hatte. Tejero tötete ihn, bevor er sich herumwerfen und die Waffe im Liegen in Anschlag bringen konnte.

Jetzt aber waren die übrigen drei hochgeschnellt.

Zwei wandten sich dem heranstürmenden Jorge Vero zu.

Der dritte ging mit einem Säbel auf Raimundo Tejero los.

Den ersten Angriff ließ der Gardist mühelos an seiner Parade abprallen. Hell singend klirrten die Klingen aufeinander. Die Sekunde, in der sein Gegner noch über den Mißerfolg fluchte und knurrte, nutzte Tejero und griff jäh an. Der Marodeur schaffte es nicht mehr rechtzeitig, in die Defensive zu gehen. Tejero setzte ihn außer Gefecht – rechtzeitig genug, um seinem Gefährten noch zu Hilfe zu eilen.

Nur für einen kurzen Moment war Jorge in Bedrängnis geraten. Im Handumdrehen schafften die beiden Männer es nun, die Schnapphähne niederzustrecken. Es war kein einziger Schuß abgefeuert worden.

„Verschwinden wir schleunigst!“ sagte Raimundo Tejero dennoch. „Wer weiß, wieviel von dem Pack noch in der Nähe schnarcht.“

Sie eilten zu den beiden jungen Frauen, und gemeinsam nahmen sie den Weg nach Süden, wobei sie stets den Schutz von Gebüsch und kleinen Waldstücken nutzten. Längst waren sie sich über ihr Ziel einig. In Santiago de Cuba wollten auch Graciela und Cisca ihre glückliche Zukunft finden – an der Seite der beiden Männer, die sie zu schätzen gelernt hatten. Sie zweifelten nicht an ihrem Glück, dessen Grundlage die gelungene Flucht aus den tödlichen Wirren des Aufstandes in Havanna war.