Seewölfe Paket 26

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2.

Sabado, der einzige Überlebende von der kleinen Jolle der „San Jacinto“, hockte schnatternd und zähneklappernd auf einer Taurolle vor der Steuerbordverschanzung. Die Kleidung klebte ihm klitschnaß am Körper, sein Entermesser hatte er verloren. Nichts war ihm geblieben als das erbärmliche bißchen Leben. Und selbst das war ihm nicht sicher, denn Julio Acosta, der stiernackige Mann mit dem pechschwarzen Bart und den hart funkelnden Augen, war unberechenbar.

Wie schnell er seine Wut an einem Hilflosen ausließ und ihn kurzerhand ins Jenseits beförderte, hatte er in der jüngsten Vergangenheit mehrfach bewiesen.

Deshalb bibberte Sabado nicht nur vor Kälte, sondern auch vor Angst, wie er jämmerlich auf der Taurolle hockte und den wütend-schweigsamen Acosta im Halbkreis der Gefährten vor sich sah.

Aber da war etwas anderes, was dem Überlebenden auffiel. Seine Kumpane hatten sich irgendwie verändert. Da war etwas in ihren Gesichtern, das er vorher nicht bemerkt hatte. Auch ihre Blicke, die sie dem Schwarzbärtigen von der Seite her zuwarfen, hatten einen veränderten Ausdruck.

Sabado konnte es sich nicht auf Anhieb erklären, aber er sollte innerhalb der nächsten Minuten erfahren, worin diese auffällige Veränderung begründet war.

„Ein Bild des Jammers“, sagte Acosta verächtlich und durch die Mundwinkel gepreßt. „Ein Häufchen Elend bist du, Sabado. Andere Worte kann ich für dich nicht finden, du Jammerlappen. Und wenn du auch noch Mitleid erwartest, dann hättest du nicht erst an Bord zurückkehren sollen. Feiglinge wie du sind an Bord meines Schiffes überflüssig.“

Sabado, der zur ursprünglichen Crew der „Viento Este“ gehörte, zitterte heftiger. Seine Augen begannen zu flackern und richteten sich flehentlich auf Acosta, der ein halbes Dutzend geladene Pistolen unter dem Gurt trug. Der Schwarzbärtige wußte sehr wohl, daß er es zunehmend schwerer hatte, sich durchzusetzen.

Der zitternde und frierende Decksmann begann sich schuldig zu fühlen – dafür, daß er noch am Leben war.

Doch plötzlich erhielt er unerwartete Hilfe.

„Sabado ist kein Feigling“, meldete sich eine rauhe Stimme. Es war Prado, der Bootsmann der „Viento Este“, der sich da laut und vernehmlich Gehör verschaffte. „Er kann nämlich nichts dafür, daß die kleine Jolle versenkt wurde.“

Acosta ruckte herum und fixierte den stämmigen Bootsmann aus zusammengekniffenen Augen.

„Wie willst du das beurteilen können!“ brüllte er. „Die Kerle hatten den eindeutigen Auftrag, am Strand einen Brückenkopf zu bilden. Den Auftrag haben sie nicht ausgeführt. Das ist ein klarer Fall. Sabado gehörte dazu. Also muß er bestraft werden. Die anderen sind für ihre Dämlichkeit ja schon vom Feind bestraft worden.“ Acosta wollte zu einer seiner Pistolen greifen, doch sein Arm erstarrte mitten in der Bewegung.

Prado hatte sich mit einem halben Seitwärtsschritt aus dem Halbkreis gelöst, und seine drohende Haltung war unmißverständlich.

„Hier wird niemand mehr abgeknallt“, sagte er eisig. „Ab sofort reden wir ein Wörtchen mit. Wir sehen nämlich beim besten Willen nicht mehr ein, daß einer nach dem anderen wegen irgendwelcher dämlicher Kleinigkeiten krepieren muß. Wir waren mal zweiundzwanzig Leute. Jetzt sind wir nur noch fünfzehn. Die sieben, die tot sind, könnten noch am Leben sein. Deshalb haben wir jetzt endgültig genug, Acosta.“

Der Schwarzbärtige nickte, grinste jovial und legte die Hände auf den Rücken, als hätte er nie eine andere Bewegung als diese vorgehabt.

„Natürlich wird Sabado nicht zum Tode verurteilt“, sagte er in gönnerhaftem Ton. „Seine Strafe besteht lediglich in einer ernsten Verwarnung. Durch den Schreck hat er schließlich schon genug gelitten. Wenden wir uns also den vordringlichen Dingen zu.“ Er deutete mit einer knappen Kopfbewegung zum Strand. „Diese verdammten Bastarde haben uns ganz schön hereingelegt. Wenn sie uns nicht die beiden großen Jollen geklaut hätten, säßen wir jetzt nicht in der Klemme.“

„Wenn, wenn, wenn!“ rief Prado angriffslustig. „Es war eben alles falsch.“

Einen Moment hatte es den Anschein, als brause Acosta erneut auf. Doch er beherrschte sich und blieb ruhig.

„Dann machen wir eben ab sofort alles richtig“, sagte er mit einem überlegenen Grinsen. „Ich habe schon alles im Kopf. Es wird folgendermaßen ablaufen …“ Er legte eine bedeutungsschwere Pause ein.

Die Kerle starrten ihn an.

„Wir haben kein einziges Boot mehr. Davon müssen wir ausgehen, das läßt sich nicht ändern. Wir wollen aber zur Insel, weil wir unser Gold zurückholen wollen. Soweit gut?“

Die Kerle nickten – gereizt, jedoch zustimmend.

„Also gut“, sagte Acosta. „Unsere Möglichkeiten sind natürlich begrenzt. Schwimmen scheidet aus, weil wir unser Pulver nicht trockenhalten könnten. Ohne Musketen und Pistolen können wir aber nichts ausrichten, weil die Bastarde da drüben sämtliche Waffen und sämtliche Munitionsvorräte von der ‚Viento Este‘ haben.“

„Genau das ist es“, sagte Prado wütend. „Die schießen uns zusammen, bevor wir das Ufer erreichen. Wenn es nicht so wäre, hätten sie auch die kleine Jolle nicht auf Grund geschickt.“

„Mein neuer Plan hat so ein Risiko nicht“, sagte Acosta prahlerisch. „Es gibt da nämlich eine hervorragende Möglichkeit, auf die man nur kommen muß: Wir bauen Flöße als Ersatz! Holz genug haben wir an Bord. Außerdem hat so ein Floß noch den Vorteil, daß es mit Musketenfeuer nicht versenkt werden kann.“ Beifallheischend blickte er in die Runde.

Prado und die anderen sahen ihn an und kriegten den Mund nicht wieder zu. Selbst Sabado vergaß sein Zittern und Frieren und konnte nur noch ungläubig blinzeln.

Prado gewann seine Fassung als erster wieder.

„Hast du noch alle Mucks im Schapp, Acosta?“ rief er höhnisch. „Fein, wenn Flöße mit Musketenkugeln nicht versenkt werden können. Wirklich fein. Aber es gibt ja wohl einen Haken an der Sache, einen winzigen kleinen Haken – für dich wohl nicht der Rede wert.“

„So?“ schnappte Acosta. „Was für einen Haken?“

Die Kerle starrten ihren Anführer jetzt an, als hätten sie einen Irren vor sich.

„So eine Floßbesatzung“, sagte Prado mit beißendem Spott, „besteht bekanntlich nicht aus Holz und ist daher höchst verwundbar. Selbst wenn wir unser Pulver trocken hinüberbringen, nutzt uns das herzlich wenig, weil sie uns nämlich vorher von dem Floß putzen wie bei einem Vergnügungsschießen für hochwohlgeborene Señores.“

„Was willst du damit sagen?“ fragte Acosta scharf.

Der Bootsmann der „Viento Este“ grinste verächtlich.

„Brauchst du noch eine Extraerklärung? Die Leute auf deinen feinen Flößen hätten keinerlei Deckung und nicht den geringsten Schutz. Ich denke jedenfalls nicht daran, Selbstmord zu begehen. Als Leiche hätte ich nämlich nichts von dem Gold.“

Die Kerle brüllten lauthals Beifall. Selbst Sabado, der vor zwei Minuten noch um sein Leben gefürchtet hatte, stimmte mit ein.

„Das ist Meuterei!“ schrie Acosta.

„Nenne es, wie du willst!“ schrie ein dürrer Kerl zurück, dessen Name Morro war. „Wir spielen jedenfalls nicht mit.“

Der Schwarzbärtige sperrte den Mund auf und schnappte nach Luft. Dabei sah er aus wie ein Fisch auf dem Trockenen. Er brachte keinen Ton mehr hervor.

Die Meute bedachte die Worte des Dürren mit grimmig geäußerter Zustimmung. Prado nickte ihm aufmunternd zu.

„Im übrigen“, fuhr Morro fort, nachdem die anderen ruhiger geworden waren, „lassen wir unserem sehr verehrten Kapitän beim Landen herzlich gern den Vortritt. Ich habe mal von Kapitänen und Offizieren gehört, die von ihren Leuten nichts verlangen, was sie ihnen nicht selbst vorexerziert haben. Aber wir haben ja so ein Musterexemplar von Kapitän, das es vorzieht, an Bord zu bleiben und die Crew loszuschicken, damit sie für ihn die Kastanien aus dem Feuer holt.“

„Sehr richtig!“ grölte einer aus dem Halbkreis.

Sofort setzte erneuter gejohlter Beifall ein.

Morro brachte die Kerle mit einer Handbewegung zur Ruhe, sah Acostas Fassungslosigkeit und war nun erst richtig in seinem Element.

„Und wem diese Prozedur nicht paßt“, schrie er, „dem jagt unser sehr verehrter Kapitän eine Kugel in den Bauch und schickt ihn zu den Fischen! Allerdings schneidet er sich ins eigene Fleisch, dieser blitzgescheite Capitán. Wenn er nämlich einen nach dem anderen von uns abschießt“, der Dürre hielt inne und kicherte höhnisch, „dann ist schon jetzt der Zeitpunkt absehbar, an dem er überhaupt keine Mannschaft mehr hat. Und was tut er dann, unser schlauer Kapitän? Ja, dann wird er wohl allein zusehen müssen, wie er sich das Gold holt.“

Abermals johlte die Horde lautstark Beifall.

Morro sorgte erneut mit einer energischen Handbewegung für Ruhe. Dann wandte er sich wieder dem Schwarzbärtigen zu.

„So geht das also beim besten Willen nicht, Acosta“, sagte er gelassen. „Als Kapitän mußt du dir schon was anderes einfallen lassen, als bloß deine Crew zu verheizen. Wohin das führt, mußt du wohl langsam einsehen.“

Julio Acosta schluckte, und sein Adamsapfel ruckte dabei heftig auf und ab. Er mußte begreifen, daß er dieses Mal rein gar nichts tun konnte, obwohl es ihm mächtig in den Fingern juckte. Aber es hatte keinen Sinn. Denn die Strolche waren samt und sonders bewaffnet. Und sie lauerten nur darauf, daß er seine Pistole herausriß.

Sicherlich hätte er sich Geltung verschaffen können, indem er beispielsweise Prado über den Haufen knallte.

Oder etwa nicht?

Er sah die Kerle an, und Zweifel keimten in ihm auf. Verdammt, ja, sie warteten nur darauf, daß er ihnen einen Grund gab, ihre Waffen zu ziehen. Prado und Morro, diese Aufwiegler, hatten ihren einfältigen Hirnen den richtigen Weg gewiesen. Wenn sie ihn töteten, dann war es eben einer weniger, mit dem sie das Gold teilen mußten. Von der Seite konnte man die Sache zweifellos auch betrachten.

 

Acosta sah die grinsenden Gesichter von Prado und Morro und hatte das Gefühl, an seiner Wut ersticken zu müssen. Er wußte jedoch, daß er innerhalb von Sekunden ein toter Mann sein würde, wenn er jetzt falsch reagierte. Deshalb beschloß er, einzulenken, wenngleich es ihm höllisch schwerfiel.

„Vielleicht haben die Herren Klugscheißer Prado und Morro ja einen besseren Vorschlag“, sagte er ruhig und in der Gewißheit, daß es praktisch keinen besseren Vorschlag gab als den seinen. Er wußte allerdings, daß insbesondere Morro zu den wenigen zählte, die sich durch ein wenig Grips von den anderen abhoben. Man durfte ihn und den Bootsmann also auch nicht unterschätzen.

„Sicher haben wir einen Vorschlag“, sagte Morro mit kaltem Grinsen. „Das mit dem Floß läßt sich nur dann durchführen, wenn es Feuerschutz erhält. Nur dann kann man einigermaßen sicher landen. Und den Feuerschutz können natürlich nur die Kanonen übernehmen.“

„Verdammter Idiot!“ brüllte Acosta. „Merkst du denn nicht selber, was für einen Unsinn du da verzapfst? Hast du vergessen, was passiert ist?“

„Das haben wir keineswegs vergessen“, sagte Morro mit drohendem Unterton. „Dabei wurde nämlich auf völlig sinnlose Weise ebenfalls einer von uns geopfert. Du hättest wissen müssen, daß die Bronzerohre unserer Kartonen nicht dafür taugen, eine erhöhte Pulvermenge zu verkraften. Zwei Leute wurden außerdem verletzt.“

„Eben drum!“ schrie der Schwarzbärtige. „Ich denke doch nicht daran, so etwas zu wiederholen. Den Vorschlag dieses Idioten kann man doch nicht ernst nehmen!“

Vergeblich suchte er in der Runde Zustimmung.

Morro betastete wie zufällig den Griff seiner Pistole und fixierte Acosta voller Hohn.

„Der Idiot bist du“, sagte der Dürre mit höhnischer Stimme. „Statt die Pulverladung zu erhöhen, gibt es nämlich auch noch die Möglichkeit, die Schußweite zu verringern. Und zwar dadurch, daß man die ‚San Jacinto‘ näher ans Ufer legt.“

„Wir liegen schon nahe genug an den Riffs“, entgegnete Acosta lahm und spürte selbst, wie wenig Gewicht sein Argument hatte.

Morro zerstreute es mit wenigen Worten.

„Selbst in den schlimmsten Riffzonen gibt es für eine Galeone meist noch Möglichkeiten, näher an Land zu verholen. Und zwar dadurch, daß man durch Lotungen feststellt, wo das Wasser tief genug ist.“

Julio Acosta preßte die Lippen aufeinander, daß sie einen blutleeren Strich bildeten. Er wußte nicht mehr, was er entgegnen sollte, und das war ihm bislang höchst selten passiert.

Was, zum Teufel, sollte er sich jetzt einfallen lassen, um den Kerlen zu verklaren, daß noch immer er es war, der den Ton angab?

Ihm fiel nichts ein, buchstäblich nichts.

Unter dem Strich blieb nichts als das Niederschmetternde an der ganzen Geschichte: Auf die im Grunde praktikable Idee hätte er selbst auch kommen müssen. Er hatte diese Idee aber nicht gehabt und mußte sich demzufolge vor versammelter Mannschaft von einem einfachen Decksmann belehren lassen.

Und es brachte das Blut in seinen Adern zum Kochen, das überhebliche Grinsen des Dürren ansehen zu müssen.

„Also gut“, sagte Morro schließlich und nickte zufrieden. „Damit wäre dann alles geklärt. Wir verfahren so, wie ich vorgeschlagen habe. Unser Kapitän hat keine Einwände erhoben.“

Beifallsgebrüll setzte ein. Es fehlte nicht viel, so stellte Acosta zähneknirschend fest, und sie hoben den Dürren auch noch begeistert in die Luft.

„Wenn die Idee schlecht wäre, hätte ich es schon gesagt!“ schrie Acosta. „Außerdem hatte ich selbst natürlich schon vorher daran gedacht. Wollte nur die Galeone nicht zu sehr gefährden.“ Seine Stimme ging im Gebrüll unter, und es achtete ohnehin niemand auf ihn.

„Dann mal los, Freunde!“ rief Morro und reckte die Faust hoch. „An die Arbeit! Habt ihr vergessen, daß da drüben auf der Insel ein Goldschatz auf uns wartet?“

Wieder johlten sie, und voller Begeisterung folgten sie dem Dürren zur vorderen Grätingsluke. Den Schwarzbärtigen, der für sich beanspruchte, ihr Kapitän zu sein, ließen sie einfach stehen. Nur Sabado zögerte, sich von seiner Taurolle zu erheben. Er schnatterte wieder vor Kälte, und seine Furcht, daß Acosta seine Wut an ihm auslassen würde, wenn er vorbeizuschleichen versuchte, rührte schließlich aus schlechten Erfahrungen her.

Doch Prado, der Bootsmann, behielt trotz allen Trubels den Überblick.

„He, Sabado!“ rief er, indem er sich im Pulk der anderen umdrehte. „Auf was wartest du noch? Schwenk deine müden Knochen! Zieh dir was Trockenes an und dann an die Arbeit! Wir brauchen jede Hand.“

„Jawohl, Señor!“ erwiderte Sabado grinsend, sprang auf und flitzte los wie eine Ratte, der man auf den Schwanz getreten hat.

Julio Acosta stand da und ließ die Arme hängen. Er fühlte sich so erschlafft und kraftlos wie einer, der zwölf Stunden in einer Silbermine geschuftet hat. Und er fühlte sich so einsam wie nie zuvor in seinem Leben.

Nicht beachtet zu werden, so fand er in diesem Moment heraus, war schlimmer, als Meuterer in den Griff zu kriegen. Er empfand grenzenlose Hilflosigkeit, während er beobachtete, wie sie mit Feuereifer schufteten. Die Aussicht auf den Goldsegen entfesselte ihre Gier, und die Gier spornte sie zu enormer Leistungskraft an.

Morro und Prado gaben die Anweisungen. Als erstes wurden jene Rundhölzer aus den Laderäumen geholt, die sich für den Fall eines Mastbruches stets als Reserve an Bord befanden. Insgesamt acht Hölzer von durchschnittlich einem Fuß Durchmesser wurden an Deck geschleppt. Die Kerle richteten sie auf den Planken neben der Steuerbordverschanzung aus, bildeten dann im Handumdrehen eine Kette bis hinunter in den Schiffsbauch und holten auf diese Weise in Windeseile ein Dutzend Spieren als Verstrebungen herauf.

Danach wurde das benötigte Werkzeug an Deck geschafft. Sabado erschien in trockener Kleidung. Morro suchte sich die Leute aus, die unter seiner Anleitung mit Hämmern und geschmiedeten Nägeln zu Werke gingen. Prado kümmerte sich mit dem Rest der Leute um Verzurrungen und das Absägen überschüssiger Enden.

Julio Acosta stand immer noch am selben Fleck und verglich sich mit den Spierenenden, die über das entstehende Floß hinausragten und von den scharfen Sägezähnen einfach weggewischt wurden. Er war nicht nur einsam und hilflos, er war auch völlig überflüssig. Er ließ sich von einer Welle des Selbstmitleids überrollen und war drauf und dran, sich in seine Kammer zurückzuziehen, um seinen Kummer in einer Flasche Rotwein zu ertränken.

Doch dann siegte der Rest von Stolz, den er noch in sich hatte. So durften sie nicht ungestraft mit ihm umgehen – so nicht! Den Lohn für ihre Unverschämtheit würden sie eines Tages noch empfangen. Im Augenblick war es geboten, diplomatisch vorzugehen, um nicht zu riskieren, kurzerhand über den Haufen geknallt zu werden.

Er brauchte Minuten, um mit seinem aufwallendem Zorn fertig zuwerden. Er hatte ihnen alles ermöglicht, diesen Hurensöhnen! Wenn sie jetzt so kurz vor dem Ziel standen, dann hatten sie es nur einem zu verdanken – ihm. Als sie mit den Booten der „Viento Este“ mit Kurs auf Floridas Ostküste gesegelt waren, hatte er die Dinge in die Hand genommen und die weitere Marschroute festgelegt. Seine Idee war es gewesen, Capitán Juan de Molina und die restlichen Kerle in den beiden anderen Booten zu beseitigen.

Jawohl, dachte Acosta und straffte seine Haltung, ohne mich hättet ihr Bastarde das alles nicht geschafft. Ihr wärt nicht einmal auf die Idee verfallen. Und dann, in St. Augustine, hatten sein sicheres Auftreten und sein guter Eindruck letzten Endes bewirkt, daß sie die Heuer auf der „San Jacinto“ erhielten. Dieses Schlitzohr von einem Kapitän, Andrés de Llebre, hatte er, Acosta, außer Gefecht gesetzt. Desgleichen den Bootsmann, Pedro Rovira. Verdammt, ja, diese Mistkerle, die da wie besessen an ihrem Floß herumhämmerten und sägten, hatten ihm eigentlich alles zu verdanken …

Rangmäßig hatte es ihm zugestanden, sich beim Vorrücken auf die Insel ein wenig zurückzuhalten. Er konnte seinen wertvollen Körper nicht ständig in vorderster Linie dem Kugelhagel und tödlichen Klingen aussetzen. Nein, sie brauchten seine Führungskraft, diese Narren. Das hatten sie offenbar völlig vergessen.

Acosta beschloß, seinen Führungsanspruch wieder zu untermauern. Sicheres Auftreten war dazu eine unabdingbare – und die beste – Voraussetzung. Er gab sich einen Ruck und stelzte auf die Schuftenden zu, die Hände gravitätisch auf den Rücken gelegt.

Er umrundete den Schauplatz hektischer Arbeit, enterte über den Niedergang zur Back auf und stützte sich auf die Balustrade. Mit gönnerhafter Miene beobachtete er das Geschehen.

Die meisten der Kerle beachteten ihn noch immer nicht. Aber er sah, wie sich Prado und auch Morro ein paarmal verstohlen umwandten, um zu sehen, was er tat. Immerhin trug er sechs Pistolen im Gurt, eine davon eine Doppelläufige, und sie hielten ihn für unberechenbar. Gut so.

Noch hatte er die Möglichkeit, die Macht mit Gewalt wieder an sich zu reißen. Aber das wäre unklug gewesen. Mit einer noch mehr dezimierten Crew sank die Chance, die verfluchten Goldräuber auf der Insel zu überwältigen.

Nein, er mußte seine geistige Überlegenheit ausspielen. Immerhin hatte er mehr Grips als diese fünfzehn Einfaltspinsel zusammen.

„Mal herhören“, sagte er in freundlichem Ton. „Kurze Pause!“

Sechs oder sieben Kerle, denen der Schweiß in Strömen über das Gesicht rann, ließen aus purer Gewohnheit Hämmer und Sägen sinken und richteten sich auf – dankbar für die Möglichkeit zum Verschnaufen. Die anderen folgten ihrem Beispiel. Prado und Morro registrierten es mit sichtlichem Unwillen.

„Trinkwasser austeilen!“ befahl Acosta energisch. In übertrieben gespieltem Unmut schüttelte er den Kopf. „Himmel noch mal, muß man euch denn alles vorbeten? Seine Arbeitskraft erhält man sich nicht durch unsinnige Schinderei. Seinen Körper darf man bei allem Eifer nicht vernachlässigen. Klar?“ Prado und Morro starrten mit offenem Mund zu ihm hin. „Sabado“, sagte Acosta und brachte sogar ein Lächeln zustande, „nun hol schon Trinkwasser aus der Kombüse!“

Der Überlebende der kleinen Jolle erkannte das Versöhnungsangebot, das aus Acostas Worten klang, und sofort rannte er los. Eine Minute später umringten die Kerle die Pütz, die Sabado geholt hatte, und auch Prado und Morro griffen bereitwillig zu, als die Muck mit dem erfrischenden Naß die Runde machte.

„Seht ihr“, sagte der Schwarzbärtige aus seiner erhöhten Position, „gleich geht es schon viel besser. Und dann werden die verdammten Bastarde da drüben am Strand ihr blaues Wunder erleben, das schwöre ich euch. Wir müssen es nur klug genug anstellen.“

Prado richtete den Blick zu Acosta hinauf.

„Was soll das schon wieder heißen? Glaubst du, wir wissen nicht, was wir zu tun haben?“

Der Schwarzbärtige zog die Schultern hoch.

„Nun gut, wie stark gedenkt ihr denn euer Floß zu bemannen? Das ist nur eine Frage, aus reinem Interesse.“

„Mit allem, was wir haben“, erwiderte Prado gereizt. „Wie denn sonst?“

Acosta lächelte mild.

„Das habe ich mir gedacht. Ihr würdet wertvolle Zeit verschwenden, weil ihr nämlich erst mal mitsamt Pulver und Waffen absaufen würdet. Dieses sonst gut gebaute Floß“, er deutete auf das fast fertige Wasserfahrzeug, „trägt nicht mehr als vier Mann und ein bißchen Ausrüstung.“

Die Decksleute starrten ihn an.

„Woher willst du denn das wissen?“ zischte Morro.

„So was kann ich ausrechnen“, behauptete Acosta. „Aus der Länge und dem Durchmesser der Hölzer, malgenommen mit der Gesamtzahl von acht, ergibt sich die Tragfähigkeit. Ihr könnt es ausprobieren, und ihr werdet sehen, daß ich recht habe.“

Ehrfurcht zeichnete sich in den meisten der Gesichter ab. Nur Prado und Morro blieben verächtlich.

„Weitermachen“, sagte Prado.

„Eins würde ich euch noch empfehlen!“ rief Acosta. „Rundet die Hölzer vorn und achtern ein wenig ab! Dann erreicht ihr bei dem plumpen Ding immerhin etwas mehr Schiffigkeit.“

Wieder hatte Acosta Land gewonnen, denn Prado und Morro konnten diesem Vorschlag nur zustimmen, dagegen gab es beim besten Willen nichts einzuwenden.

Die Äxte wirbelten mit blitzenden Klingen, und sehr bald hatte das Floß vorn und achtern sauber gerundete Hölzer. Mittschiffs achtern wurde eine Dolle zum Wriggen mit einem Riemen angebracht. Danach stand dem Fieren mittels der Großrah nichts mehr im Wege. Voller Stolz beobachteten die Kerle, wie ihr Bauwerk längsseits unter der Jakobsleiter dümpelte.

 

„Jetzt die Belastungsprobe!“ rief Prado. „Erst mal zehn Mann!“

„Doch vorsichtig geworden?“ sagte Acosta grinsend, als die Kerle schon zur Pforte im Schanzkleid liefen. „Ich behaupte, das Ding geht trotzdem unter. Vielleicht wäre es besser, deine sogenannte Belastungsprobe an Backbord durchzuführen, wo’s die Kerle vom Strand aus nicht sehen. Möglich, daß sie sich sonst totlachen.“

Prado wischte mit einer ärgerlichen Handbewegung durch die Luft. Morro knurrte nur unwillig, und gemeinsam mit den drei anderen, die noch an Bord geblieben waren, beugten sie sich über die Verschanzung und spähten nach unten, wo einer nach dem anderen das Floß betrat.

Auch Acosta verfolgte das Geschehen und sah voller Genugtuung, daß sich die obere Hälfte der Rundhölzer schon beim fünften und sechsten Mann bedrohlich der Wasserlinie näherte. Als sich der siebente auf das Floß wagte, standen sie gleich darauf bereits bis zu den Knöcheln im Wasser.

„Ihr müßt euch besser verteilen!“ brüllte Prado. „Dann klappt es auch!“

„Irrtum“, sagte Acosta triumphierend. „Vier Mann, wie ich berechnet habe. Das ist die beste Auslastung für euer feines Floß.“

Prado und Morro mußten zähneknirschend einsehen, daß der Schwarzbärtige recht behielt. Auch die Gewichtsverlagerung nutzte nichts. Mit vier Mann war die Tragfähigkeit gerade so weit ausgenutzt, daß sich das Floß noch gefahrlos manövrieren ließ.

Acosta übernahm wieder das Kommando, und der Bootsmann und der Dürre hatten nichts mehr einzuwenden. Wenn Acosta nicht verrückt spielte, war er immer noch ein verdammt brauchbarer Bursche. Den vier Kerlen, die gleich nach der „Belastungsprobe“ das Floß bemannten, erteilte der Schwarzbärtige genau festgelegte Aufgaben. Einer begab sich zum Loten nach vorn, zwei Musketenschützen postierten sich mittschiffs, und der vierte Mann übernahm achtern den Wriggriemen.

Er legte den Kopf in den Nacken und blickte fragend zur Verschanzung der Galeone hoch.

„Welchen Kurs?“

Es war nun wieder selbstverständlich, daß Acosta antwortete und damit den Befehl erteilte.

„Nach Süden!“ tönte die energische Stimme des Schwarzbärtigen, und die Männer auf dem Floß warteten nicht erst ab, ob Prado und Morro dazu noch etwas zu bemerken hatten.

Der Mann am Wriggriemen brachte das Floß in Fahrt, nachdem die drei anderen mitgeholfen hatten, es von der Bordwand der „San Jacinto“ abzustoßen. Der Ankerplatz der Galeone befand sich etwa in der Mitte vor der Westseite der langgestreckten Insel, die in Nordsüdrichtung verlief.

Die Ostseite der Insel war wegen der geringen Wassertiefe für Schiffe des Galeonen-Typs nicht erreichbar. Dort erwies sich die Große Bahama Bank als alles beeinflussendes Hindernis. Dagegen lag die Cat Cays mit ihrer Westseite fast unmittelbar an der tiefen Florida-Straße. Nur von Westen her konnte man sich also der Inselgruppe nähern, und dabei galt es, die vorgelagerten Riffs genau zu beachten.