Seewölfe Paket 26

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Ein weiteres wesentliches Hindernis war Gefängnisdirektor José Cámpora selbst. Alonzo de Escobedo kannte ihn als einen harten Knochen, der im Umgang mit Gesindel aller Art seine Erfahrungen hatte. Zweifellos würde er nicht vor diesem Haufen kapitulieren, der da vor dem Haupttor seiner Gefängnisfestung Aufstellung genommen hatte.

Früher, als de Escobedo ebenfalls noch auf der Seite von Recht und Ordnung gestanden hatte, war Cámpora in seinen Augen ein pflichtgetreuer Mann mit einem gesunden Rechtsempfinden gewesen. Alles andere als ein Folterknecht, dieser Cámpora. Aber dennoch war er nie zimperlich gewesen. Aufsässige Gefangene hatten von ihm gelernt, was Zucht und Ordnung bedeuteten.

Wie erwartet, hielt Cámpora die Stellung.

Keine Frage, daß es unmöglich gewesen wäre, auch die Gefängnisinsassen in die Residenz zu evakuieren. Zum einen war dort die erforderliche Sicherheit nicht gewährleistet, und zum anderen war die Residenz ohnehin bereits überfüllt.

So war der Gefängnisdirektor Cámpora mehr oder weniger gezwungen, in seinem Bau auszuharren. Bei sich hatte er an die fünfzehn Aufseher, die man auch nicht gerade Waschlappen nennen konnte.

Die Zahl der Gefangenen betrug ungefähr fünfzig. De Escobedo kannte sie zur Genüge. Das war die Hefe aus dem Gossenviertel am Hafen – Langfinger, Trunkenbolde, Herumstreuner, Buschklepper bis hin zu zwei Raubmördern. Mit einigen von ihnen hatte de Escobedo seine eigenen unliebsamen Erfahrungen gemacht.

Seit Ende Mai hatte er in dem verfluchten Bau gesessen, und er war schon so weit gewesen, mit seinem Leben abzuschließen. Seine Mitgefangenen hatten ihn gepeinigt und ihm das Leben zur Hölle werden lassen. Deshalb wußte er nur zu gut, welche Sorte von schrägen Vögeln er jetzt für seine Pläne rekrutieren wollte. Aber er war auf sie angewiesen. Er brauchte ihre Rücksichtslosigkeit und ihre Gier nach Beute. Alles andere zählte im Augenblick nicht.

Alonzo de Escobedo verständigte sich durch ein Nicken mit seinen Leuten und ging auf das Gefängnistor zu.

Der Bedeutsamkeit seines Tuns war er sich bewußt. Hunderte von Augenpaaren beobachteten ihn aus den Gassen heraus. Und er war der unerschrockene, hoch aufgerichtet gehende Mann, der sich in größte Gefahr begab, um sein Ziel zu erreichen.

Er, Alonzo de Escobedo, trat mutterseelenallein auf das Gefängnistor mit den beiden flankierenden Türmen zu. Dabei wußte er, daß dort oben auf den Wehrgängen und hinter den Turmzinnen Gefängniswärter mit schußbereiten Waffen in Stellung gegangen waren. Wenn sie wollten, brauchten sie nur abzudrücken, um ihn zu töten.

Es würde sich in Windeseile herumsprechen, was für ein Kerl er war.

Einem zukünftigen Gouverneur stand es gut zu Gesicht, daß man Geschichten über seine Heldentaten erzählte. Später würde es seine Autorität kräftigen.

Breitbeinig und herausfordernd blieb er stehen. Er stemmte die Fäuste in die Hüften und legte den Kopf in den Nacken.

„Cámpora!“ brüllte er. „Gefängnisdirektor Cámpora! Hören Sie mich?“

Hinter den Zinnen des rechten Turms bewegte sich etwas. Gleich darauf erschien die breitschultrige Statur Cámporas. Sein kantiges Gesicht war auf die Entfernung und in dem trüben Tageslicht nur undeutlich zu erkennen.

„Ergeben Sie sich!“ fuhr de Escobedo fort und strengte sich dabei an, seine Stimme donnernd klingen zu lassen. Es mußte seine „Truppe“ und die Neugierigen beeindrucken. „Öffnen Sie das Tor und übergeben Sie das gesamte Gefängnis meiner Gewalt! Ich bin der rechtmäßige kommissarische Gouverneur von Kuba. Wenn Sie sich meiner Anordnung widersetzen, werde ich den Bau stürmen lassen!“

Alonzo de Escobedo blieb stehen und wartete auf die Wirkung seiner Worte. Täuschte er sich, oder bildete sich da ein verächtliches Lächeln in Cámporas harten Gesichtszügen?

De Escobedo spürte, wie die Wut in ihm zu kochen begann.

5.

„Dieser Kerl ist die Unverschämtheit in Person“, sagte Cámpora gepreßt.

Die beiden Aufseher, die geduckt hinter ihm standen, nickten zustimmend. Auch ihnen war klar, was es bedeutete, wenn dieser Verrückte da unten anfing, seine Drohung in die Tat umzusetzen. Denn daß man das Gefängnis nicht kampflos übergeben würde, stand für jeden einzelnen unter José Cámporas Kommando fest.

„Hören Sie, de Escobedo!“ brüllte der Gefängnisdirektor. „Ich denke nicht daran, auf Ihre Unverfrorenheit einzugehen. Sie werden derjenige sein, der sich ergibt. Ich weise darauf hin, daß Sie nach dem Gesetz immer noch Inhaftierter sind. Sie sind ein Verbrecher, de Escobedo! Ich habe das Recht, Sie auf der Stelle zu erschießen, wenn Sie die Flucht ergreifen sollten!“

Der Mann, der mit aller Macht Gouverneur werden wollte, erbleichte. Vor allem mußte er daran denken, daß die vielen Ohren hinter ihm hörten, was dieser Schwachkopf da oben über ihn faselte. Er ein Inhaftierter! Was für einen Eindruck mußte das auf seine Gefolgeleute machen! Jetzt hieß es erst recht, ihnen zu zeigen, wie man diesen Bau vereinnahmte.

„Sie scheinen nicht ganz richtig im Kopf zu sein, Cámpora!“ De Escobedos Stimme war schrill. „In Havanna bestimmt nur noch einer! Ich! Sie haben noch eine Minute Bedenkzeit. Wenn Sie dann nicht parieren, wird gestürmt!“

José Cámpora konnte nur den Kopf schütteln. Doch er wußte, wie verdammt ernst die Lage werden würde.

„Gebt mir eine Muskete!“ flüsterte er, wandte sich halb um und ließ sich eine Langwaffe in die Hand drücken.

Mit einem Ruck brachte er die Waffe in Anschlag.

„Ergeben Sie sich, de Escobedo!“ brüllte er. „Oder ich schieße!“

Der künftige Gouverneur von eigenen Gnaden zuckte zusammen. Plötzlich wußte er, daß dieser elende Bastard von Gefängnisdirektor es ernst meinte.

De Escobedo warf sich herum und rannte wie von Furien gehetzt.

Die Muskete krachte, und er konnte hören, wie die Bleikugel hinter seinen Hacken auf die Steine knallte und sich zu einem mausgrauen Pfannkuchen abplattete.

Panik befiel ihn. Er lief schneller und schlug Haken wie ein Hase. Er sah die Kerle hinter den Handkarren in Deckung. Einige von ihnen korkten verstohlen Flaschen zu. Sie hatten sich also schon Mut angetrunken.

De Escobedo schaffte es, sich ebenfalls in Deckung zu werfen, bevor Cámpora eine zweite Muskete abfeuern konnte. Die Leute in den Gasseneinmündungen hatten das entwürdigende Schauspiel natürlich beobachtet. Aber sie waren auch um ihre eigene Haut besorgt, hatten sich beim Krachen des Schusses eilends zurückgezogen und harrten jetzt vermutlich in sicherer Entfernung aus.

„Angriff!“ brüllte de Escobedo und schnappte sich eine Muskete vom Karren. „Ausschwärmen und angreifen! Bringt die verfluchten Hurensöhne zur Räson!“

Wider Erwarten gehorchten die Kerle aufs Wort. Noch schienen sie von dem Gedanken beseelt zu sein, daß sie den Bau tatsächlich im Handumdrehen stürmen könnten.

Erste Schüsse krachten aus den Reihen der Angreifer, und de Escobedos ausschwärmende Meute stimmte ein wildes Gejohle an. Es sollte dem Gegner auf den Türmen und Wehrgängen den Mut nehmen.

Cámpora und seine Männer gaben sich indessen keinen Illusionen hin. Sie wußten, um was es ging.

Der Gefängnisdirektor und die Aufseher feuerten gezielt.

Das Gejohle und Gebrüll von der Straße pflanzte sich fort. Im Gefängnis wurden röhrende Stimmen laut. Die Gefangenen hatten begriffen, was sich abspielte, und witterten Morgenluft.

Cámpora wies seine Männer mit knappen Handbewegungen an, sich zu verteilen. Jeweils zwei Mann hielten die beiden Türme besetzt, die übrigen hatten ohnehin bereits zu beiden Seiten auf den Wehrgängen Stellung bezogen. Sie verstanden die Gesten des Gefängnisdirektors und gingen auf jeweils drei Schritte Abstand voneinander.

Den ersten Ansturm schlugen José Cámpora und seine Gefängniswächter beinahe mühelos zurück. Wenige gezielte Musketenschüsse genügten. Drei, vier Verwundete gab es in den Reihen der Angreifer. Sie schrien wie am Spieß und waren offenbar schlagartig ernüchtert. In Windeseile zogen sich de Escobedo und seine gesamte Meute – einschließlich der Handkarren – in die Gasseneinmündungen zurück.

Deutlich war zu erkennen gewesen, daß etliche von den Kerlen unter Alkoholeinfluß standen. Entweder waren das noch die Auswirkungen der vergangenen Nacht, oder sie hatten sich bereits am Morgen wieder Rum, Wein oder Bier in die Kehlen geschüttet.

José Cámpora wurde in diesen Minuten klar, was die Situation für ihn bedeutete. Er mußte kämpfen. Unter keinen Umständen durfte er kapitulieren. Wenn es dem schurkischen de Escobedo und seinen wüsten Kumpanen gelang, die Gefangenen zu befreien, dann war es nur noch eine Frage der Zeit, bis die Residenz fiel. Was das bedeutete, bedurfte keiner eindringlichen Erläuterungen.

Der Lärm, der aus den Zellen drang, hielt unvermindert an. Die Gefangenen waren praktisch ohne Aufsicht. Schon als ihm das Anrücken der wilden Horde gemeldet worden war, hatte Cámpora alle verfügbaren Wächter auf die Türme und Wehrgänge beordert. Mit seiner Einschätzung der vermutlich entstehenden Lage hatte er sich nicht getäuscht.

Ihm lief ein Schauer über den Rücken, wenn er an die Frauen und Kinder in der Residenz dachte. Um so mehr wurde ihm jedoch die Verantwortung bewußt, die von dieser Stunde an auf seinen Schultern lastete. Wenn die Residenz nicht mehr gehalten werden konnte und der Rest von Miliz und Stadtgarde aufgerieben wurde, dann war die Katastrophe nicht mehr abzuwenden. Dann würde Havanna in einem Meer von Gewalt untergehen.

Cámpora wußte, wie unfähig und unbeholfen Capitán Marcelo gewesen war, wenn er getrunken hatte. Da sich das bei ihm um einen Dauerzustand gehandelt hatte, durfte man wohl keine weitblickenden Entscheidungen erwarten. Nun, da Marcelo nach einem einzigen vernünftigen Einsatz ausgefallen war und auch seine Offiziere anscheinend nicht mehr Herr der Lage waren, konnte man alle Hoffnung aufgeben.

 

Schon längst, so sagte sich der Gefängnisdirektor, hätten Kuriere entsandt werden müssen, um die entfernter liegenden Stützpunkte der spanischen Landtruppen oder auch der Marine zu verständigen. Jene, die sich in Havanna gegen den revoltierenden Pöbel verteidigten, brauchten Hilfe von außen.

Wie aber sollte es diese Hilfe geben, wenn niemand außerhalb der Stadt von den katastrophalen Zuständen wußte?

Cámpora spielte mit dem Gedanken, selbst einen Melder loszuschicken. Aber er verwarf die Idee sofort wieder. Er konnte keinen einzigen Mann entbehren. Absoluten Vorrang hatte die Verteidigung des Gefängnisses.

José Cámpora wog die Lage der Dinge gegeneinander ab.

Die Mehrzahl der schätzungsweise dreißig Angreifer war betrunken oder zumindest angetrunken. Das war eindeutig als Vorteil für die Verteidiger zu werten. Andererseits verdeutlichte es aber, was passieren würde, wenn diese entfesselten Kerle über die Residenz herfielen. Der Mob, der sich ihnen in einem solchen Fall anschloß, würde zweifellos noch schlimmer wüten.

Nein, es gab kein Deuteln an der Einschätzung der Situation.

Das Gefängnis mußte gehalten werden.

Es war vorerst der einzige Weg, um die Kerle zu binden und von der Residenz abzulenken.

Der erste Ansturm war absolut unüberlegt gewesen. Das mußte sich de Escobedo jetzt eingestehen, nachdem er die Wartezeit in einem Hauseingang an jener Gassenmündung verbracht hatte, die dem Gefängnisportal gegenüberlag.

Er hatte die Hälfte der Kerle losgeschickt, damit sie Leitern und Taue mit Enterhaken beschafften. Die andere Hälfte, die in Eingängen oder Torwegen in Deckung lag, hatte die Verwundeten verbunden und die Waffen nachgeladen.

De Escobedo hatte in kurzen Abständen zum Gefängnis gespäht. Da waren geschäftige Bewegungen hinter den Turmzinnen und auf den Wehrgängen zu erkennen gewesen. Wahrscheinlich hatten sie zusätzliche Waffen herangeschleppt und ihre Munitionsvorräte ergänzt.

De Escobedo bedauerte, daß er als Gefangener nicht in der Lage gewesen war, auszukundschaften, über welche und wie viele Waffen Cámpora verfügte.

Gedämpfte Schritte näherten sich. Gleich darauf huschte eine Gestalt zu de Escobedo in den Hauseingang. Einer seiner kurzfristig ernannten Unterführer, ein Kerl mit wüstem rotem Haarschopf, Vollbart und geröteten blaßblauen Augen. Er nannte sich Vigo. Mehr wußte de Escobedo nicht über ihn.

„Ausrüstung ist vollständig, Señor Gouverneur“, sagte Vigo grinsend und mit einer spöttischen Betonung des letzten Wortes. „Zehn Leitern und ebenso viele Taue mit Enterhaken.“

De Escobedo rümpfte die Nase, da ihm eine Wolke von Alkoholdunst entgegenwehte. Eine scharfe Zurechtweisung lag ihm auf der Zunge, vor allem wegen der Unverschämtheit des Kerls.

Aber er ließ es. Es war sinnlos. Zur Zeit zählte nur der Kampfeswille seiner Leute. Und er durfte sie nicht selbst dadurch demoralisieren, daß er ihnen auseinandersetzte, welchen Ton sie anschlagen durften und welchen nicht.

„Sehr gut“, sagte er daher nur und nickte anerkennend. „Wir gehen in drei Gruppen vor. Ich führe die mittlere, die von dieser Gasse aus angreift. Du übernimmst den rechten Flügel und Gilberto den linken. Vier Leitern für meine Gruppe und je drei für eure beiden.“

„Jawohl, Señor Gouverneur“, sagte Vigo schnarrend, und wieder klang diese widerwärtige Betonung durch.

Alonzo de Escobedo mußte tief durchatmen, um sich zu beherrschen. Seine erzwungene Flucht vor den Musketenkugeln Cámporas hatte seine noch nicht vollends aufgebaute Autorität natürlich erheblich angekratzt. Das spürte man.

Und Kerle wie Vigo hatten eben keinen Respekt, den mußte man ihnen erst noch beibringen. De Escobedo schwor sich, das nachzuholen, sobald erst einmal Ruhe eingekehrt war.

„Dann los“, sagte er energisch. „Und schärft den Männern ein, daß mit hartem Widerstand zu rechnen ist. Cámpora und seine Kerle haben alles Mögliche herangeschleppt.“

Vigo grinste, versuchte ein militärisches Salutieren und rannte dann los.

Fünf Minuten später brüllte de Escobedo den Befehl zum Angriff. Mit einer Muskete bewaffnet, lief er neben zwei Kerlen, die eine Leiter trugen. Aus den Gassen zur Linken und zur Rechten tauchten die Gruppen der beiden Unterführer auf.

Alle dreißig Kerle stimmten ein wildes Gebrüll an. Augenblicklich fingen hinter den Umfassungsmauern die Gefangenen in ihren Zellen an zu grölen. Nachdem sie vorübergehend leiser geworden waren, begriffen sie jetzt, daß ein erneuter Angriff bevorstand.

Die ersten Schüsse krachten aus den Reihen der Angreifer. De Escobedo hatte den Kerlen eingeschärft, daß sie mit ausreichendem zeitlichem Abstand zu feuern hatten, damit die Leiterträger möglichst unbehelligt die Mauer erreichten. Auch er selbst jagte eine Musketenkugel zu den Portaltürmen hinauf.

Tatsächlich gelang es ihnen, die Verteidiger des Gefängnisses in Deckung zu zwingen. So schien es jedenfalls. De Escobedo ließ seine Muskete fallen und zog die Pistole, während er mit seiner Gruppe die letzten Schritte bis zur Mauer unmittelbar beim Tor zurücklegte. Das Gebrüll der wilden Meute steigerte sich zum Triumph, als die ersten Leitern mit harten Lauten an die Mauern geworfen wurden.

Pistolen krachten jetzt. Die ersten Kerle begannen, die Leitern zu erklimmen.

De Escobedo war selber im Begriff, den Aufstieg zu wagen, als es geschah. Er feuerte seine Pistole auf eine schattenhafte Bewegung hinter einer der Turmzinnen ab. Ohne Erfolg. Die Bewegung war zu schnell gewesen. Im nächsten Moment schien die Hölle über die Angreifer hereinzubrechen.

Blitzartig tauchten die Verteidiger hinter den Zinnen am Wehrgang auf.

De Escobedo erschrak bis ins Mark, als er die trichterförmigen Laufmündungen sah. Blunderbusse und Tromblons!

Die breitstreuenden Waffen krachten in rascher Folge.

Markerschütternde Schreie gellten. Das triumphierende Gebrüll war wie abgeschnitten, und auch im Gefängnis wurde es schlagartig still.

Abermals krachten mehrere Schüsse in schneller Abfolge. Die schwirrenden Ladungen gehackten Bleies trieben die Meute auseinander. Gleich darauf blitzten Säbelklingen oberhalb der Mauerkrone. Die wenigen Kerle, die es auf ihren Leitern bis oben geschafft hatten, wurden mit fürchterlichen Hieben zurückgeworfen. Die Schmerzensschreie schienen kein Ende nehmen zu wollen.

De Escobedo sprang von der Leiter.

„Rückzug!“ brüllte er, obwohl es ihn höllische Anstrengung kostete, das Wort über die Lippen zu bringen. Schon wieder ein Fehlschlag, dachte er, als er losrannte. Er mußte an Vigo und seine spöttische Betonung des Wortes Gouverneur denken.

Die Schüsse von den Wehrgängen und Zinnen verklangen.

Keuchend erreichten de Escobedo und seine Horde die Deckungen im Bereich der Gasseneinmündungen. Auch aus den Gefängniszellen war jetzt kein Laut mehr zu hören.

Vigo und Gilberto, ein drahtiger Mann mit aschblondem Haar und pockennarbigem Gesicht, rannten in den Torweg, den sich de Escobedo diesmal ausgesucht hatte.

Vigo blutete aus einer leichten Säbelwunde an der linken Wange.

„Einige hat es schlimmer erwischt“, sagte er bissig.

„Und es hat die ersten Toten gegeben“, fügte Gilberto hinzu. „Warum hast du uns verschwiegen, daß die Hundesöhne Blunderbusse und Tromblons haben, Señor Gouverneur?“

Alonzo de Escobedo biß die Zähne zusammen und ballte die Hände zu Fäusten, ohne daß die beiden Unterführer es sehen konnten. Auch Gilberto machte sich über ihn lustig, indem er ihn als Gouverneur anredete – in haargenau dem gleichen Tonfall, zu dem auch Vigo sich erdreistete.

Es gelang ihm noch einmal, sich zu beherrschen.

„Wie sollte ich das wohl wissen?“ sagte er fauchend. „Der sehr ehrenwerte Gefängnisdirektor Cámpora geruht nicht, seine Zelleninsassen darüber zu informieren, wie es in seiner Waffenkammer aussieht. Klar?“

Vigo und Gilberto wechselten einen Blick.

„Klar“, sagte der Rotbärtige dann. „Da bin ich mal gespannt, mit welchen Überraschungen wir noch zu rechnen haben.“

„Ein Spaziergang ist die ganze Sache jedenfalls schon nicht mehr“, sagte Gilberto erbost.

De Escobedo platzte der Kragen.

„Wer hat gesagt, daß dies ein Spaziergang wird?“ schrie er.

„Bastida“, entgegnete der Aschblonde trocken.

„Und er hat gesagt, daß du es gesagt hättest, Señor Gouverneur“, fügte Vigo mit einem Grinsen hinzu, das seine Säbelwunde auf furchterregende Weise verzerrte.

„Wie kommt er dazu!“ rief de Escobedo empört. „Er hat von militärischer Taktik nicht die leiseste Ahnung und behauptet so einen Blödsinn. Außerdem werde ich ihn mir vorknöpfen. Ich lasse mir nicht solchen Unsinn in den Mund legen. Damit das klar ist: Ich habe nie von einem Spaziergang gesprochen.“

„Schon gut, schon gut“, sagte Gilberto abwinkend. „Reg dich nicht künstlich auf, Señor Gouverneur.“

Vigo nickte beipflichtend.

„Sag uns lieber, wie es jetzt weitergehen soll. Welche militärische Taktik wendet der Fachmann jetzt an?“

De Escobedo schätzte sich glücklich, so ganz nebenbei schon eine Idee geboren zu haben. Daher klang es für die beiden Unterführer so, als brauche er die Einfälle nur aus dem Ärmel zu schütteln.

„Mit einem Angriff auf herkömmliche Weise funktioniert es nicht“, sagte er. „Deshalb müssen wir es anders versuchen. Wir werden das Gefängnistor sprengen.“

Die beiden Unterführer starrten ihn verblüfft an.

„Wie sollen wir denn das anstellen?“ Tief Gilberto. „Bevor wir am Tor sind, haben die uns mit ihren verfluchten gehackten Ladungen längst erledigt.“

„Unmöglich“, sagte Vigo überzeugt.

Diesmal war es de Escobedo, der spöttisch grinste und auch einen entsprechend herablassenden Ton anschlug.

„Keiner von uns wird die Pulverladungen einfach in die Hand nehmen und damit zum Tor marschieren. Ein paar Kleinigkeiten muß man sich schon einfallen lassen.“ Mit kurzen Sätzen schilderte er den beiden Kerlen, wie er sich den Plan dachte, und er genoß es, daß sie immer andächtiger zuhörten.

Ihre Verblüffung schlug in glattes Staunen um.

6.

José Cámpora hatte unterdessen längst bemerkt, daß die Angreifer etwas Neues ausheckten. Und wenig später, als er sah, wie sie einen ihrer Handkarren in der Gasse präparierten, wußte er Bescheid.

Er gab Befehl, die Drehbassen heranzuschaffen. Zehn Mann wurden dafür abkommandiert, während die übrigen auf den Wehrgängen die Stellung hielten.

Jeweils fünf Mann reichten eben aus, um eins der Hinterladergeschütze zu transportieren. Mittels eines Ladebaums wurden zunächst die stativartigen schweren Drehbeine aus Eisen auf die Portaltürme gehievt. Anschließend wurden Rohre und Munition heraufbefördert.

Im Gegensatz zu jenen Drehbassen, die an Bord der Schiffe meist in schwenkbaren Halterungen an den Verschanzungen fixiert wurden, hatten die im Gefängnis verfügbaren Hinterlader ihre besonderen Vorteile dadurch, daß sie an nahezu jeden beliebigen Ort getragen werden konnten. Ihre Gabel für Höhen- und Seitenschwenkung ruhte mit dem Zapfen auf dem Stativ, das gewichtsmäßig so bemessen war, daß es beim Schuß nicht umkippen konnte.

Innerhalb von wenigen Minuten waren beide Geschütze einsatzbereit.

José Cámpora harrte auf seinem ursprünglichen Platz auf dem Turm aus und beobachtete voller Spannung, was sich da in der Gasse gegenüber anbahnte.

Der Karren setzte sich in Bewegung, und schon nach den ersten Schritten der beiden Kerle, die ihn schoben, wurde die Absicht deutlich.

Vorn auf dem Karren befanden sich fünf Pulverfässer mit glimmenden Lunten. Unmittelbar dahinter waren Sandsäcke aufgeschichtet. Damit sollten die Kerle geschützt werden, die den „Kampfwagen“ schoben.

Cámpora setzte ein grimmiges Lächeln auf. Die Drehbassen hatten sich in der Waffenkammer befunden, damit sie notfalls bei einem Gefangenenaufruhr eingesetzt werden konnten. Daß sie sich jetzt für einen völlig anderen Zweck bewähren sollten, hätte er niemals für möglich gehalten.

Er begnügte sich mit der Drehbasse, die auf seinem Turm stand, und ließ es sich nicht nehmen, sie eigenhändig auszurichten.

 

Er ließ die Kerle mit dem Pulverkarren fünf Schritte zurücklegen. Damit hatten sie noch nicht einmal die Straßenmitte vor dem Gefängnistor erreicht, und sie hatten ebenfalls noch keine Gelegenheit gehabt, überhaupt zu erkennen, was ihnen blühte.

Der Aufbau der Drehbassen war unauffällig genug vonstatten gegangen.

Cámpora stieß die Lunte ins Zündloch. Das Kraut zischte.

Im nächsten Atemzug donnerte der Hinterlader los. Eine yardlange Mündungsflamme leckte aus dem Rohr. Die Ladung aus gehacktem Blei und scharfkantigen Eisenstücken raste gebündelt auf die Pulverfässer zu.

Die beiden Kerle hinter den Sandsäcken brachten nicht einmal mehr einen Entsetzensschrei heraus.

Eine haushohe Stichflamme zuckte senkrecht aus den auseinanderwirbelnden Trümmerteilen der Pulverfässer. Das Brüllen der Detonation hallte wie Donner von der Gefängnismauer wider und pflanzte sich rollend durch die Gassen fort. Fast hatte es den Anschein, als würden die Häuser in unmittelbarer Umgebung erbeben oder gar einstürzen.

Die beiden Karrenschieber waren zu Boden geschleudert worden, hatten es aber einigermaßen heil überstanden. Schreiend rappelten sie sich auf und flohen zurück in die Gasse.

De Escobedo schrie Verwünschungen, hämmerte mit den Fäusten gegen die Hausmauer und wünschte sich ein Loch im Erdboden, in das er versinken konnte.

Im Hinterhof, in den der Torweg mündete, harrten die Kerle aus, die zu seiner Gruppe gehörten. Erstaunt blickten sie herüber, als sie das Wutgeschrei ihres Anführers hörten. Einige grinsten unverhohlen.

De Escobedo bemerkte, daß ihn auch Vigo und Gilberto geringschätzig anstarrten. In ihren Mienen las er jedoch noch etwas anderes. Es war Zorn, Zorn auf ihn.

Er verstummte, denn er begriff, daß sie sich allesamt über ihn mokierten. Diese Meute war eben nicht mit Soldaten oder Gardisten zu vergleichen, die gelernt hatten, was Disziplin war. Hier konnte man nicht einfach aufgrund seines Ranges darauf pochen, daß man mit dem gebotenen Respekt behandelt wurde. Hier mußte man sich jeden Tag, ja, jede Stunde von neuem durchsetzen.

Er stieß sich von der Mauer ab, ließ die beiden Unterführer einfach stehen und ging mit wenigen schnellen Schritten auf die Kerle im Hinterhof zu. Acht Mann. Seine Gruppe war bereits kleiner geworden, mußte er feststellen. Er ließ sich jedoch sein Erschrecken darüber nicht anmerken.

Die Kerle hockten auf dem Boden, einige auf leeren Kisten. In der Mitte ihres lockeren Kreises standen Rumflaschen. Ihre Gesichter veränderten sich und wechselten von Spott und Geringschätzung in ein offenes Fragezeichen über.

Auf der kurzen Distanz prägte er sich jenen Kerl genau ein, der am unverschämtesten gegrinst hatte. Ein untersetzter Bursche mit einem speckigen Barett auf dem Kopf und einem dreckverschmierten Gesicht voller Bartstoppeln.

Breitbeinig blieb de Escobedo stehen. Er verschränkte die Arme vor der Brust und blickte herrisch auf seine Gruppe hinunter.

Ihre Gesichter spiegelten auf einmal Unsicherheit, gemischte Gefühle zumindest. Innerlich grinste er. Natürlich konnten sie sich keinen Vers darauf bilden, was seine plötzliche selbstsichere Anführerpose bedeutete.

Hinter sich hörte er die Schritte von Vigo und Gilberto, die sich langsam näherten.

Durch die Gasse hallten die Schritte der beiden Pulverkarrenschieber, die in panischer Hast in einem der gegenüberliegenden Hauseingänge verschwanden.

„Ich sehe, ihr nutzt die Zeit, um ein bißchen zu trinken“, sagte de Escobedo mit sachlich klingender Stimme. Nicht im geringsten war herauszuhören, ob er die Tatsache mißbilligte, ob sie ihm einerlei war, oder ob er darüber gleich in einen Wutausbruch verfallen würde.

Die Unsicherheit der Kerle wuchs.

„Auf den Schreck brauchten wir einen kleinen Schluck“, sagte einer, ein hagerer Bursche mit strähnig herabhängendem Haar. Sein linkes Auge war geschlossen, was von einer Messernarbe herrührte, die sich von der Stirn schräg über das Auge hinweg bis zum Unterkiefer hinzog.

„Auf welchen Schreck?“ entgegnete de Escobedo scheinbar begriffsstutzig.

Die Kerle runzelten die Stirn.

„Na, darauf, daß sie uns vor der Gefängnismauer fast zusammengeschossen und in Stücke gesäbelt haben“, sagte der mit dem geschlossenen Auge schließlich. Anklagend deutete er auf einen anderen, der ihm gegenübersaß und dessen rechte Schulter von einem dicken Verband umhüllt war. „Sehen Sie sich seine Säbelwunde an, Señor Gouverneur! Und er ist verdammt nicht der einzige.“

„Ach“, sagte de Escobedo sarkastisch, „und das ist ein Grund, sich gleich wieder Schnaps durch den Rachen laufen zu lassen?“

„Einen Grund zum Feiern findet man immer“, sagte eine andere glucksende Stimme.

Es war der Untersetzte mit dem Barett.

De Escobedo bückte sich blitzartig, packte mit krallenartigen Händen zu und riß ihn aus dem renitenten Kreis der Rumtrinker heraus.

Der Mann quiekte wie ein soeben gefangenes Ferkel. Die anderen sahen erschrocken aus, völlig verblüfft.

Es war genau die Wirkung, die de Escobedo beabsichtigt hatte. Er zog den Untersetzten zu sich heran, hielt ihn mit der Linken am Kragen und versetzte ihm zwei Maulschellen, die wie lautes Schmettern klangen. Der Kopf des Kerls flog hin und her. Er wollte die Arme hochreißen, um sich zu schützen.

De Escobedo deutete es absichtlich falsch.

„Was?“ brüllte er. „Du greifst mich auch noch an? Du wagst es, dich einer Maßregelung zu widersetzen?“

Der andere heulte etwas, was aber in den nächsten beiden Ohrfeigen unterging. Das Barett flog davon, und sein fast kahler Schädel erschien.

De Escobedo wußte, daß er gegen den kräftigen Burschen unter normalen Umständen keine Chance gehabt hätte. Aber er mußte das Überraschungsmoment nutzen – und die Tatsache, daß der Strolch doch gewisse Skrupel hatte, sich zur Wehr zu setzen. Alonzo de Escobedo zeigte in diesem Moment, wie er es seinerzeit geschafft hatte, Stadtkommandant zu werden. Tücke, Hinterlist und das Erkennen von Vorteilen – so blitzschnell, daß kein anderer mitkam.

Genau das kriegte der Untersetzte zu spüren. Mit zwei, drei gemeinen Hieben trieb de Escobedo ihn vom Kreis der anderen weg, nach links in den Hinterhof hinein.

Es mußte so schnell gehen, daß sie gar nicht erst zur Besinnung gelangten.

Er stellte es so an, daß keiner der anderen sehen konnte, wohin er schlug. Seine Hiebe erfolgten ohne erkennbaren Bewegungsansatz, und der Untersetzte hatte keine Chance, ihnen auszuweichen, da er bereits ins Wanken geraten war. De Escobedo traf ihn an den empfindlichsten Stellen.

Der Mann schrie immer schmerzerfüllter. Seine Stimme steigerte sich zu einem schrillen Diskant.

„Aufhören!“ brüllte jemand.

Vigo, der Unterführer.

De Escobedo gab dem Schreienden mit einem letzten niederträchtigen Hieb den Rest. Der Untersetzte klappte gurgelnd zusammen, schlug hin, krümmte sich und streckte sich dann, als er das Bewußtsein verlor.

De Escobedo wirbelte herum.

Vigo stand vor ihm. Drohend. Drei Schritte abseits Gilberto. Die Gesichter der Kerle im Kreis waren noch immer starr vor Erschrecken. Ein Grinsen kerbte sich in de Escobedos Mundwinkel, als er sah, daß die Rumflaschen verschwunden waren. Sie befürchteten offenbar, daß er sie ihnen wegnehmen würde. Gut so. Seine Autorität war wieder gewachsen. Er würde sie weiter ausbauen, und zwar mit unnachgiebiger Härte.

„Was soll der Unsinn!“ rief der Rotbärtige scharf. „Einfach einen Mann zusammenschlagen! Wozu?“

De Escobedo antwortete laut und deutlich, so daß vor allem auch die am Boden Hockenden es hörten.

„Der Mann hat soeben eine disziplinarische Strafe erhalten. Er weiß, warum. Er hat sich herausgenommen, einen Vorgesetzten zu verhöhnen.“

„Was für einen Vorgesetzten?“ schrie Vigo begriffsstutzig.

„Mich“, erwiderte de Escobedo knarrend. „Und damit das ein für allemal klar ist! Ich dulde ab sofort keine Unverschämtheiten mehr. Ein Untergebener hat sich über seinen Vorgesetzten nicht lustig zu machen, verstanden? Jeder Verstoß gegen diese Vorschrift wird mit unnachgiebiger Härte geahndet.“