Seewölfe Paket 26

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Die Kerle sahen beeindruckt aus.

Vigo dagegen schüttelte fassungslos den Kopf. Er wechselte einen Blick mit Gilberto, der die Angelegenheit etwas nüchterner zu betrachten schien. Dann wandte sich der Rotbärtige wieder de Escobedo zu.

„Wo sind wir hier, Señor Gouverneur?“ sagte er leise. „Auf einem Kasernenhof? Oder wollen wir alle zusammen ein Ziel erreichen, das wir ins Auge gefaßt haben?“

„Letzteres“, entgegnete de Escobedo mit kaltem Grinsen. „Das bedeutet aber noch lange nicht, daß Soldaten alle Dienst- und Disziplinarvorschriften vergessen, sobald sie das Kasernentor hinter sich lassen.“

„Verdammt, wir sind keine Soldaten!“ schrie Vigo.

„Nein!“ brüllte de Escobedo zurück. „Aber ein bißchen von soldatischen Tugenden täte euch schon gut! Mit einem versoffenen Sauhaufen kann ich kein Gefecht gewinnen. Wenn wir die Residenz erobern wollen, dann schaffen wir es nicht, indem wir uns vorher vollaufen lassen und über unsere Vorgesetzten dämlich grinsen.“

Vigo schnaufte. Er mahlte mit den Zähnen, daß es knirschte. Eine passende Antwort fiel ihm nicht ein, denn er spürte, daß der „Señor Gouverneur“ recht hatte.

„Alkohol ist von Übel“, sagte Gilberto, der Besonnenere. „Wir müssen da wirklich einen Riegel vorschieben.“

De Escobedo nickte grimmig und voller Genugtuung.

„Und noch etwas“, sagte er und senkte die Stimme, damit nur die beiden Unterführer mithören konnten. „Streitigkeiten oder Unstimmigkeiten sollten Vorgesetzte niemals in Anwesenheit von Untergebenen austragen. Das mindert die Autorität, falls ihr begreift, was das bedeutet.“

Vigo verzog das wüste Gesicht.

„Das begreifen wir verdammt gut. Man kann es auch einfacher sagen. Die Kerle hören nicht mehr auf dich, wenn sie erst mal kapiert haben, daß du auch nur ein schwacher Hund bist. Richtig?“

„Richtig“, antwortete de Escobedo mit hoch erhobenem Kopf. „Wie wäre es, wenn wir uns jetzt mit dem Naheliegenden befassen und überlegen, welche nächsten Schritte wir ergreifen?“

„Schritte?“ äffte Vigo ihn nach. „Ich würde mir erst mal einen Überblick verschaffen.“

„Ich bin der gleichen Meinung“, sagte Gilberto, „und schlage vor, daß wir ins Haus gehen und uns ein geeignetes Fenster zum Beobachten suchen.“

De Escobedo wiegte den Kopf von einer Seite zur anderen und tat, als müsse er angestrengt nachdenken und das Für und Wider erwägen. In Wahrheit war er dankbar für den Vorschlag, denn er selbst hatte keine Idee. Sein Kopf war wie ausgehöhlt. Das Debakel mit dem Pulverkarren hatte ihn tief getroffen. Er hoffte, daß sich seine alte Geistesbeweglichkeit rasch wieder einstellte. Er brauchte einen geeigneten Einfall, wie es weitergehen sollte.

Die verdammte Geschichte durfte nicht dahin führen, daß die Kerle das Vertrauen in seine Führung verloren, wieder Alkohol schluckten und letztlich meuterten.

„Einverstanden“, sagte er. „Sämtliche Gruppen sollen sich inzwischen hier im Hinterhof sammeln.“

Gilberto gab den Befehl an den Kerl mit dem geschlossenen Auge weiter. Der sprang auf und rannte los, während de Escobedo und seine beiden Unterführer auf den Hintereingang des Hauses zugingen.

Der Bewußtlose stöhnte und krümmte sich. In wenigen Augenblicken würde er in die Wirklichkeit zurückkehren und für eine Weile von aufsässigen Gedanken geheilt sein. Blieb nur zu hoffen, daß sich das abschreckende Beispiel herumsprach und seine Wirkung auf die anderen nicht verfehlte.

Das dreigeschossige Haus hatte offenbar einem der Bürger aus den mittleren Einkommensschichten gehört. De Escobedo bemerkte es an den herumliegenden Einrichtungsgegenständen und Möbelstücken, die der Mob aus Mangel an Interesse nicht mitgenommen hatte.

Die Räume sahen aus wie ein einziger Trümmerhaufen. Nichts war an seinem Platz belassen worden, Bilder von den Wänden gerissen und aufgeschlitzt, Teppiche zerfetzt, Stühle mutwillig zertrümmert und Fenstervorhänge heruntergezerrt.

Mit der gebotenen Vorsicht gingen de Escobedo und die Unterführer hinter zerborstenen Fenstern an der dem Gefängnis zugewandten Seite im Erdgeschoß in Stellung. Bei Cámpora, das hatte sich inzwischen gezeigt, mußte man mit allem rechnen. Der Hundesohn brachte es fertig und ließ auch auf die kleinste Bewegung hinter den Fenstern feuern.

Doch es blieb ruhig.

Alonzo de Escobedo erschrak, als er einen ersten vorsichtigen Blick über die Straße riskierte.

Da drüben lagen sie, die reglosen Gestalten. Am Fuß der Umfassungsmauer hatte es sie erwischt, und sie schienen ausnahmslos von gehacktem Blei oder Eisenstücken getroffen worden zu sein.

„Acht Tote“, sagte Gilberto, der ebenfalls hinübergespäht hatte.

Seinen Worten folgte minutenlange Stille.

„Acht Tote“, wiederholte Vigo dann und wandte sich dem „Vorgesetzten“ mit flammendem Blick zu. „Nicht, daß mir besonders viel an den Kerlen gelegen hätte. Die sind mir völlig egal. Aber die Tatsache zählt. Acht Tote, Señor Gouverneur! Halte dir das mal richtig vor Augen!“

De Escobedo schluckte. Er wußte, was Vigo sagen wollte. Sie hatten nur noch zweiundzwanzig Leute.

Es schien, als hätte der Rotbärtige seine Gedanken gelesen.

„Und vom Rest“, sagte er, „sind mehr als die Hälfte verwundet. Gut, sie sind alle noch kampffähig, aber mit einer Wunde ist man irgendwie nicht der Alte, oder?“

De Escobedo nickte und gab sich keine Mühe, seine niedergeschmetterte Stimmung zu verbergen. Guter Rat war hier wirklich teuer. Seine Gedanken bewegten sich bereits in eine bestimmte Richtung.

Aber noch störten ihn die unterschwelligen Vorwürfe der beiden Unterführer. Sie lasteten ihm die Verluste an, obwohl es der Señor Gefängnisdirektor Cámpora war, der mit seiner sturen Unnachgiebigkeit all dies heraufbeschworen hatte.

Warum, zum Teufel, hatte dieser halsstarrige Kerl nicht gleich zu Anfang eingesehen, daß es sinnlos war, Widerstand zu leisten?

„Wir werden es schaffen“, sagte de Escobedo und gab sich einen Ruck. „Wir wissen jetzt, womit wir zu rechnen haben. Fehler, die wir zu Anfang begangen haben, werden wir nicht noch einmal wiederholen.“

„Das hört sich gut an“, entgegnete Vigo. „Aber wie willst du so was in die Tat umsetzen?“

De Escobedo grinste. Er hatte seine alte Überheblichkeit zurückgewonnen. In der Tat war es nicht einfach nur dahergeredet, was er gesagt hatte. Es entsprang den sich konkretisierenden Gedanken, die sich in seinem Kopf formten.

Fest stand, daß er die fünfzig Galgenvögel aus dem Gefängnis brauchte. Ohne sie, das konnte er drehen und wenden, wie er wollte, würde er nie die Macht über Havanna gewinnen. Und der Weg zu dieser Macht führte ausschließlich über die Residenz. Der Gouverneurspalast mußte fallen, so oder so.

Danach waren die beiden Forts an der Reihe, und dann brauchte man sich die Faktorei von Manteuffel nur noch einzuverleiben wie einen reifen Apfel, den man im Vorbeigehen von einem niedrigen Ast pflückt.

Aber der Weg zu diesem Ziel war dornenreicher, als er sich das vorgestellt hatte.

Ihn persönlich interessierte es herzlich wenig, wenn noch mehr Kerle von seinem Haufen draufgingen. Er hatte keinerlei Beziehung zu diesem Pack. Bei Bastida, der mit diesen Leuten Tag für Tag zusammenarbeitete, war das etwas anderes.

Es kostete jedoch zuviel Substanz, wenn man die Verluste durch sinnlose Angriffe hochschraubte. Nein, das hatte keinen Sinn. Es war eine reine Zweckmäßigkeitsrechnung auf der Basis von Soll und Haben anzustellen.

Mit dem geringstmöglichen Aufwand an Kräften, so sagte sich de Escobedo, mußte er den größtmöglichen Nutzen erzielen. Eben diesen Grundsatz, nach dem die Pfeffersäcke von Havanna gearbeitet hatten, mußte auch er anwenden.

Cámpora hatte bislang keinerlei Verluste hinnehmen müssen. Er hatte die bessere Ausgangsposition gehabt, mit seinen Turmzinnen und Wehrgängen. Aber das sollte anders werden, schwor sich de Escobedo. Von diesem Moment an sollte das grundlegend anders werden.

„Wir werden das Gefängnis stürmen“, sagte er daher, „und zwar ohne weitere Verluste. Wir werden aber nicht sofort stürmen. Vorher werden wir Cámpora und seine Bastarde nämlich weichkochen.“

Vigo und Gilberto sahen ihn staunend an.

Allem Anschein nach zauberte er schon wieder etwas Verblüffendes aus dem Ärmel.

7.

Er ließ sie noch zappeln.

„Erst brauchen wir einen genaueren Überblick über die Lage“, sagte er und ging kurzerhand zum Hinterausgang des Hauses, ohne sich um die beiden Kerle zu kümmern.

Sie folgten ihm notgedrungen.

Draußen standen die Kerle in kleinen Gruppen zusammen und redeten murmelnd miteinander. Als sie de Escobedo erblickten, verstummten sie.

Der Untersetzte hatte sich aufgerappelt, trug sein speckiges Barett wieder auf dem Kopf und wich dem Blick des „Señor Gouverneurs“ aus.

„Vollzählig?“ schnauzte de Escobedo und blieb vor der offenen Tür stehen.

Vigo und Gilberto verharrten hinter ihm.

„Da fehlen noch mindestens fünf Leute“, murmelte Vigo.

Der Kerl mit dem geschlossenen Auge meldete sich zu Wort, indem er die Hand hob.

De Escobedo erteilte ihm mit herablassendem Nicken Sprecherlaubnis.

„Es konnten so schnell nicht alle verständigt werden, Señor Gouverneur. Aber sie werden bestimmt in ein paar Minuten hier sein.“

Weil sie gerade damit beschäftigt sind, Wein oder Rum in sich hineinzugießen, dachte de Escobedo. Er wußte nicht, wie er mit dem Alkoholproblem fertig werden sollte. Wenn er den Schnaps konfiszieren ließ, würden die Halunken wahrscheinlich mit Unmut reagieren. Ihr Kampfeswille würde auf den Nullpunkt sinken, oder sie würden gleich von der Fahne gehen.

 

Nein, da war es schon besser, ihnen das kleine Vergnügen zu lassen. Er mußte nur darauf achten, daß sie nicht zu wagemutig und leichtsinnig wurden.

„In Ordnung“, sagte er und drehte sich zu seinen Unterführern um.

„Was jetzt?“ fragte Vigo drängend.

De Escobedo grinste hintergründig. Er spürte, wie der Rotbart darauf brannte, zu erfahren, wie seine nächsten Pläne waren. Aber er würde ihn und Gilberto weiter zappeln lassen. Das ließ sie gefügiger, klein und ahnungslos werden.

„Nehmen wir erst einmal das Gebäude in Augenschein“, sagte er ausweichend. „Davon hängt meine Taktik sehr maßgeblich ab.“

„Wieso?“ entgegnete Vigo. „Wir waren doch schon drin. Was ist an dem Kasten so besonders?“

„Wir waren nur in den unteren Räumen“, sagte Gilberto.

„Sehr richtig“, sagte de Escobedo lobend. „Und um die oberen Stockwerke geht es mir, meine Freunde. Also los, verschwenden wir nicht noch mehr Zeit!“

Wieder übernahm er die Führung.

Zum Glück hatten die Plünderer die Treppen nicht mit Äxten zu Feuerholz zerhackt. Wenn die Stufen auch mit Trümmern übersät waren, konnte man doch einigermaßen zügig in die oberen Stockwerke gelangen.

De Escobedo warf einen kurzen Blick durch eins der zerschlagenen Fenster in der ersten Etage und winkte ab.

„Nicht das Geeignete.“

Kurz darauf wollte er eine der Zimmertüren im nächsten Stockwerk öffnen. Doch die Tür gab nicht nach. De Escobedo sah die Unterführer erstaunt an.

Mit einem entschlossenen Ruck zog er seine Pistole und wich einen Schritt zur Seite. Er mußte Entschlossenheit zeigen, Willensstärke. Das beeindruckte letztlich auch Burschen wie Vigo und Gilberto.

„Ist da jemand?“ brüllte er.

Alle drei horchten.

Doch kein Laut war aus dem Zimmer zu hören.

„Wer immer da drin ist!“ fuhr de Escobedo mit unverminderter Lautstärke fort. „Ich fordere den Betreffenden jetzt zum letzten Male auf, die Tür zu öffnen! Verdammt noch mal, es passiert Ihnen nichts! Wir haben andere Sachen im Kopf.“

Vigo und Gilberto nickten zustimmend. Mittlerweile waren sie wieder mit dem Handeln ihres „Señor Gouverneur“ voll einverstanden.

Aber noch immer rührte sich in dem abgeschlossenen Raum nichts.

„Aufbrechen“, befahl de Escobedo kurzerhand und trat noch einen Schritt weiter zur Seite.

Vigo nickte und grinste. Klar, daß er diese Aufgabe übernehmen würde, denn er war der Stämmigste. Gilberto zog gleichfalls seine Pistole, während der Rotbärtige vom Treppenabsatz aus Anlauf nahm.

Schon beim ersten Rammstoß mit der Schulter gab die Tür berstend und splitternd nach. Unter der Wucht seines Anpralls flog Vigo mit den weißen Holzfasern der Tür in den Raum.

Sofort war Gilberto mit einem federnden Satz zur Stelle, brachte die Pistole mit beiden Fäusten hoch und zielte durch den nun offenen Türrahmen.

Drinnen war Vigo zu hören, wie er sich mit Getöse aufrappelte.

Noch bevor de Escobedo zur Stelle war, ließ Gilberto die Pistole wieder sinken. Fassungslosigkeit malte sich in sein Gesicht.

Stirnrunzelnd trat der zukünftige Gouverneur von eigenen Gnaden neben ihn.

Das Wesen kauerte in der entferntesten Ecke des Raumes, rechts unterhalb der Fenster.

Ein Wesen?

De Escobedo schüttelte den Kopf und blinzelte irritiert. Wie Gilberto brauchte auch er einen Moment, um sich von seiner Verblüffung zu erholen. Sogar Vigo Stand da wie vom Donner gerührt.

In der Tat, auf den ersten Blick hatte man den Eindruck, es mit einem sonderbaren Wesen zu tun zu haben. Denn es war in eine schmutziggraue Decke gehüllt, und wie es da in der Ecke kauerte, konnte man nur seine Augen sehen. Zwei große, angstgeweitete Augen, die sich auf die Eindringlinge hefteten.

De Escobedo betrat den Raum und schob seine Pistole unter den Gurt. Gilberto folgte seinem Beispiel.

„Wer sind Sie?“ fragte de Escobedo und bemühte sich, seiner Stimme einen freundlichen Klang zu geben. Jetzt, bei näherem Hinsehen, stellte sich doch heraus, daß das Wesen menschliche Konturen hatte. War es jemand aus einer wohlhabenden Bürgerfamilie, konnte man vielleicht ein Lösegeld herausholen.

Oder mehr!

Der verlockende Gedanke durchzuckte de Escobedo plötzlich. Wenn er den Namen dieses Häufchens Elend kannte, konnte er es möglicherweise als Geisel einsetzen. Beispielsweise konnte er dann den sauberen Gefängnisdirektor zur Aufgabe zwingen. Dann würde ihm der Bau mit fünfzig Mann Verstärkung wie der besagte reife Apfel in den Schoß fallen.

Er trat noch einen Schritt auf das kauernde Etwas zu und setzte ein Lächeln auf.

„Wir tun Ihnen nichts“, sagte er lockend. „Wir sind keine Plünderer, und wir werden Ihnen hier heraushelfen. Wir bringen Sie sogar zu Ihrer Familie zurück.“

Die Angst wich nicht aus den großen Augen. Statt dessen kam ein Flackern hinzu, etwas wie ein Ausdruck von aufwallender Panik.

„Sprechen Sie unsere Sprache nicht?“ fragte de Escobedo. Immerhin lebten eine Menge Nicht-Spanier in Havanna – Portugiesen, Italiener, Franzosen, Araber.

Abermals erfolgte keine Reaktion.

„Laß mich mal ran“, sagte Vigo grimmig-entschlossen.

Bevor de Escobedo oder Gilberto es verhindern konnten, war der Rotbärtige mit zwei schnellen Schritten bei dem kauernden Bündel Mensch und riß die Decke weg.

Ein hilfloses Wimmern war die Folge.

Vigo stieß einen überraschten Pfiff aus. Achtlos ließ er die Decke fallen. Ungläubig starrte er auf das, was er da enthüllt hatte.

De Escobedo und Gilberto waren nicht minder überrascht.

Es war eine junge Frau, die dort hockte. Dunkelhaarig, gut gebaut, eine ausgesprochene Schönheit. Ihr an vielen Stellen zerrissenes Kleid sagte aus, was sie erduldet haben mußte.

„Sieh mal einer an!“ rief Vigo mit süßlicher Stimme und drehte sich halb zu den beiden anderen um. „Ist das nicht ein Prachtstück, das wir da aufgegabelt haben?“

Gilberto konnte nur staunend nicken.

„Mir wäre lieber, wenn wir wüßten, wie sie heißt“, sagte de Escobedo.

„Kriegen wir raus!“ entgegnete Vigo großspurig und winkte ab. „Laßt mich nur machen, Amigos. Ich habe da meine besonderen Fähigkeiten.“

Gilbertos Kinn ruckte vor.

„Kommt nicht in Frage!“ rief er scharf. „Du faßt die Frau nicht an!“

„He, he, he!“ rief Vigo. „Was ist in dich gefahren? Was soll das? Willst du hier auf einmal den Moralapostel spielen?“

De Escobedo schnitt mit einer Handbewegung durch die Luft.

„Moral oder nicht Moral“, sagte er schroff, „die junge Señora könnte uns von Nutzen sein. Ich will nicht, daß ihr ein Haar gekrümmt wird. Verstanden?“

„Tue ich auch nicht“, sagte Vigo. „Ich werde mich ganz liebevoll mit ihr beschäftigen.“

De Escobedo schüttelte den Kopf.

„Nichts da“, sagte er in herrischem Befehlston. „Die Frau wird nicht angerührt.“

Vigos bartgerändertes Gesicht verzerrte sich vor Wut. Mit einem jähen Ruck riß er die Pistole unter dem Gurt hervor und legte sie auf de Escobedo an.

„Die Süße gehört mir“, sagte er drohend. „Ich habe die Tür aufgebrochen und sie als erster gesehen. Sie gehört mir, verstanden? Wer mich daran hindern will, dem jage ich eine Kugel in den Wanst. Auch dir, Señor Gouverneur. Und dich warne ich, Gilberto. Du kriegst notfalls mein Messer zu spüren, wenn die Pistole leer ist.“

De Escobedo erbleichte. Er mußte begreifen, daß es mit seiner neu gewonnenen Autorität nicht weit her war. Diese Meute, mit der er sich eingelassen hatte, war unberechenbar und nicht mit normalen Maßstäben zu messen. In Extremsituationen reagierten Burschen wie Vigo schlimmer als Tiere.

Und die Frau hockte zitternd da und sagte noch immer nichts. Ob sie nicht mehr sprechen konnte? De Escobedo hatte davon gehört, daß es so etwas gab. Auswirkungen eines Schocks. Ja, vielleicht hatte sie so etwas wie einen Schock erlitten. Wenn sie nicht redete und ihre Erinnerung auch nicht wieder einsetzte, dann mußte man sie eben so als Geisel präsentieren.

Vielleicht stammte sie aus einer bekannten Familie und war unter Umständen sogar die Frau eines Pfeffersacks.

Nichtsdestoweniger sah de Escobedo ein, daß sich Gilberto und er der Gewalt beugen mußten. Vielleicht war Gilberto auch nur ein stilles Wasser, das sich gern selber mit der leichten weiblichen Beute befaßt hätte und nur aus Unsicherheit so tat, als ob er der Gerechtigkeit den Vorzug gäbe.

„Also gut“, sagte de Escobedo einlenkend, „du sollst dein Vergnügen haben, Vigo.“

„Ich bin von deiner Gnade nicht abhängig!“ schrie der Rotbärtige. „Was ich haben will, das nehme ich mir!“

De Escobedo nickte geduldig.

„Auch das, auch das. Ich möchte aber, daß sie unversehrt bleibt und wir nach Möglichkeit ihren Namen erfahren.“

Vigo grinste jetzt.

„Klar doch. Bei mir hat noch keine Señora Schaden genommen. Ich habe sogar schon Dankesbriefe erhalten. Wirklich!“

De Escobedo nickte abermals und setzte dazu eine Miene auf, als glaube er dem Rotbart.

Die Frau wimmerte nur, als Vigo sie aufhob und in ein Nebenzimmer trug, dessen Tür sich noch verschließen ließ. Offenbar war sie nicht in der Lage, sich zur Wehr zu setzen. Völlig entkräftet mußte sie sein. Oder der Schock hatte sie zu einem willenlosen Etwas werden lassen.

De Escobedo und Gilberto begaben sich in das obere Stockwerk. Da war eine Treppe, die vom Korridor aus zum Dachboden führte. An mehreren Stellen waren Schindeln herausgebrochen worden, und man hatte freien Blick auf die Straße – vor allem auf das gegenüberliegende Gefängnis. Auch aus den Fenstern im zweiten Stockwerk war der Blick ähnlich gut.

„Siehst du jetzt, was ich meine?“ sagte de Escobedo und deutete mit einer Kopfbewegung auf den Wehrgang, wo die Aufseher patrouillierten.

Cámpora hatte ihre Zahl auf die Hälfte verringert. Keine Frage, daß er die verfügbaren Kräfte schonen wollte. Er wußte, daß ihm das Schlimmste noch bevorstand. Und er tat gut daran, sich darauf vorzubereiten. De Escobedo rieb sich innerlich hohnlachend die Hände.

„Ich fange an, zu begreifen“, sagte Gilberto gedehnt. „Von hier oben können wir sie ziemlich einfach aufs Korn nehmen.“

De Escobedo klopfte ihm auf die Schulter.

„Scharfschützen! Das ist es. Du bist der erste, der es erfährt. Wir werden hier oben Scharfschützennester einrichten und Cámpora und seine Bastarde den ganzen Tag über auf Trab halten. In der Nacht setzen wir dann endgültig zum Sturm an. Vigos Pech, daß er das nun erst später erfahren wird – da er doch so gespannt darauf war.“

Gilberto grinste.

„Ich glaube nicht, daß er es für Pech hält. Wenn seine Gier durchschlägt, kann er sich nicht beherrschen. Dann wird er zur Bestie.“

„Soll er“, sagte de Escobedo gleichgültig. „Ich will nicht darauf bauen, aber vielleicht können wir die Frau als Geisel verwenden – vorausgesetzt, die Familie, aus der sie stammt, ist reich und mächtig genug.“

„Eine hervorragende Idee!“ rief Gilberto begeistert.

De Escobedo nickte gelassen.

„Aber vorher richten wir die Scharfschützennester ein. Auf Mutmaßungen allein will ich mich nämlich nicht verlassen. Haben wir geeignete Leute in dem Haufen da unten?“ Er deutete mit dem Daumen in die Richtung des Hinterhofes.

Gilberto zog die Schultern hoch.

„Weiß ich nicht. Über die verborgenen Fähigkeiten der einzelnen Leute bin ich nicht im Bilde.“

„Also fragen wir sie“, entschied de Escobedo. „Vielleicht ist Vigo inzwischen auch interessiert genug, daß er sich uns anschließt.“

„Glaube ich nicht“, entgegnete Gilberto.

Sie stiegen die Treppe hinunter.

Ein Schuß krachte, als sie sich noch auf den unteren Stufen befanden.

„Das war in Vigos Zimmer!“ rief Gilberto und rannte los.

„Dieser verfluchte Idiot!“ knurrte de Escobedo.

Er folgte dem Unterführer und rechnete insgeheim damit, daß sich der Rotbärtige in einer Art Ekstase versehentlich am Fenster gezeigt hatte und von einem der Gefängniswächter erschossen worden war.

Dann, als Gilberto die Tür aufgestoßen hatte, glaubten beide, ein Trugbild zu sehen.

Vigo stand da. Er hatte notdürftig seine Kleidung hochgezerrt.

Die junge Frau lag am Boden und blutete aus einer Kopfwunde. Ihre gebrochenen Augen zeigten an, daß es keine Hilfe mehr für sie gab. In ihrer erschlafften Rechten lag die noch rauchende Pistole Vigos.

 

Er war kreidebleich im Gesicht, als er sich umwandte.

„Die – die …“, stotterte er, „die Chica hat auf einmal verrückt gespielt. Erst war sie ganz sanft und friedlich, aber dann …“ Er schüttelte den Kopf. „… dann hat sie mir die Pistole rausgezogen, ohne daß ich’s gemerkt habe. Und dann hat sie …“ Er verstummte.

„… sich selbst erschossen“, ergänzte de Escobedo. Damit bestätigte sich, was er vermutet hatte. Die junge Frau war durch die Geschehnisse während der Plünderungen geistig so sehr verwirrt worden, daß sie aus ihrer Schande keinen anderen Ausweg mehr gesehen hatte, als sich selbst zu töten.

De Escobedo bedauerte es nur insoweit, als er sie nun nicht mehr als Geisel benutzen konnte.

„Wir haben jetzt einiges zu tun“, sagte er. „Nimm deine Pistole und komm mit. Die Leiche wird nachher weggeschafft, verstanden?“

„Wir haben einen neuen Plan!“ rief Gilberto begeistert und schilderte, was er von dem künftigen Gouverneur wußte.

Die Begeisterung griff auf den Rotbärtigen über. Schnell hatte er vergessen, was soeben geschehen war. Ohne die Tote noch eines Blickes zu würdigen, folgte er den beiden Männern in den Hinterhof.