Seewölfe Paket 26

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8.

Vier Kerle meldeten sich als Scharfschützen. Unter ihnen war der mit dem geschlossenen linken Auge. Das Zielen über Kimme und Korn kostete ihn naturgemäß wenig Anstrengung.

De Escobedo hatte sich auf die oberste der drei Steinstufen gestellt, die von der Tür aus in den Hinterhof führte. Vigo und Gilberto standen wie Leibwächter unten vor ihm, und die ganze Meute hatte sich andächtig im Halbkreis versammelt.

„Scharfschützen links raustreten!“ befahl der Escobedo.

Die vier Kerle befolgten den Befehl mit stolz geschwellter Brust.

„Folgendermaßen geht es weiter“, fuhr de Escobedo fort, „die Scharfschützen tun ab sofort nichts mehr. Keinen Handschlag, verstanden? Das ist nicht etwa deshalb, weil sie was Besseres sind, sondern?“ Er warf es als Frage vor sie hin.

„Wir brauchen eine ruhige Hand“, erwiderte der mit dem geschlossenen Auge. „Körperliche Arbeit würde uns nur zittrige Finger bescheren.“

„Sehr richtig“, sagte de Escobedo mit anerkennendem Nicken. „Von euch wird es nämlich abhängen, wie erfolgreich wir unsere nächste Mission für die Nacht vorbereiten. Cámpora und seine Aufseherbastarde müssen bis zur Dunkelheit ständig in Trab gehalten werden. Also: Die Scharfschützen befassen sich ab sofort in aller Ruhe mit den Musketen, die sie einsetzen werden. Sucht euch die besten Waffen aus und bereitet eure Munition vor. Eine Bedingung gibt es für euch allerdings noch …“ Er legte eine wohlbedachte Pause ein und genoß, wie die Blicke an seinen Lippen hingen.

„Als Scharfschützen dürft ihr natürlich keinen Tropfen Alkohol anrühren!“

Der mit dem geschlossenen Auge und seine drei „Kollegen“ zogen lange Gesichter. Die anderen lachten meckernd. Es war genau das, was de Escobedo beabsichtigt hatte – ein Ausgleich der Schadenfreude, beliebtes und bewährtes Mittel von Vorgesetzten, um das Fußvolk bei Laune zu halten.

De Escobedo erteilte Vigo mit einem Nicken Erlaubnis, die weiteren Anweisungen zu geben.

„Alle, die keine Scharfschützen sind“, rief der Rotbärtige, „beschaffen Sandsäcke! Die gibt’s in dem Arsenal am Hafen. Besorgt euch dafür irgendwo Pferdefuhrwerke. Und tut es so, daß es vom Gefängnis aus nicht zu sehen ist.“

Die Kerle eilten los, um die Anweisungen auszuführen. Sie hatten das Gefühl, daß sie mit der neuen Taktik mehr Erfolg haben würden. Zumindest brauchten sie bei der Scharfschützenmethode vorerst nicht mehr ins offene Messer – sprich in den Blei- und Eisenhagel der Blunderbusse und Tromblons – zu rennen. Dieses Vorgehen, das der „Señor Gouverneur“ sich ausgedacht hatte, war weitaus weniger riskant als alles Bisherige.

Während das Sandsack-Kommando unterwegs war, besichtigte de Escobedo gemeinsam mit den Unterführern die Häuser beiderseits der Gasseneinmündung, in denen die Scharfschützennester eingerichtet werden sollten. Vier Häuser, jedes für einen Schützen. Für die Nester eigneten sich entweder die Dachböden mit den herausgebrochenen Schindeln oder aber die zerstörten Fenster in den obersten Stockwerken.

Eine knappe Stunde später wurden die Sandsäcke gestapelt.

Jenseits der Straße beobachteten José Cámpora und seine Männer das Geschehen. Zwangsläufig konnte ihnen nicht verborgen bleiben, was sich in Fenstern und Dachlücken abspielte. Wer Sandsäcke stapelte, der wollte sich schützen. Logisch. Die nächste Überlegung, zu welchem Zweck dieser Schutz vorgesehen war, lag ganz einfach auf der Hand.

Die Galgenvögel wollten also zum gezielten Beschuß übergehen.

Keine schlechte Idee, dachte Cámpora. Von den oberen Stockwerken und Dächern der gegenüberliegenden Häuser hatten die Kerle ein überhöhtes Schußfeld auf die Umfassungsmauer, die beiden Portaltürme und den gesamten Gefängnishof.

Die Absicht, die dahintersteckte, war für José Cámpora auf Anhieb klar.

De Escobedo wollte die Wachmannschaft des Gefängnisses systematisch dezimieren. Jene Männer, die unvorsichtig genug waren, sich hinter der Mauer, auf den Türmen oder im Hof zu zeigen, sollten einzeln abgeschossen werden. Zermürbungstaktik. Panik konnte ausbrechen. Furcht vor den Scharfschützen, denen man zum Opfer fiel, wenn man auch nur eine einzige unbedachte Bewegung ausführte.

„Das wird uns mächtig ins Hintertreffen bringen“, sagte der Dienstälteste der Aufsehermannschaft, mit dem Cámpora auf dem rechten Portalturm stand.

„Nicht, wenn wir etwas unternehmen“, widersprach Cámpora. „Noch sind sie beim Einrichten ihrer Scharfschützennester. Und dabei werden wir sie ein bißchen stören.“

„Planen Sie einen Ausfall, Señor?“ fragte der Dienstälteste erschrocken.

Cámpora lächelte mild.

„Ich bin nicht selbstmörderisch veranlagt, mein Lieber. Nein, ich meine es so: Tote lassen sich nicht ersetzen, aber Häuser lassen sich reparieren.“

Die Miene des Aufsehers erhellte sich.

„Ich verstehe, Señor.“

„Gut. Lassen Sie die Männer mit Musketen in Stellung gehen. Beide Drehbassen klar zum Feuern! Diese hier“, er deutete auf den Hinterlader neben sich, „übernehme ich selbst.“

Zwei Minuten später krachten die ersten Musketenschüsse von den Wehrgängen. Schmetternd schlugen die Kugeln in Dachschindeln ein, und in den aufgeschichteten Sandsäcken entstanden zerfranste Löcher, aus denen es gelblich rieselte.

De Escobedos Nestbauer brachten sich in Sicherheit.

Mit kaltem Lächeln ordnete Cámpora eine Feuerpause an. Noch hatten die Drehbassen nicht gefeuert. In eisiger Ruhe wartete er, bis de Escobedo seine Leute in Position gebracht hatte, damit sie das Feuer erwiderten.

Cámpora gab den Feuerbefehl in dem Moment, in dem sich in den beiden Häusern links von der Gasseneinmündung die Musketenläufe über die Sandsäcke schoben.

Haargenau im selben Moment krachten die Geschütze. Der Donnerhall brandete gegen die Mauern der Häuser und vermischte sich mit gellenden Schreien.

Wieder hämmerten die Musketen der Gefängniswächter.

Die beiden Kerle, die es hinter den Sandsäcken erwischt hatte, stürzten mit langgezogenem Schrei auf das Straßenpflaster.

De Escobedo nutzte die Nachladepause der beiden Drehbassen, um seinerseits zum Gegenangriff überzugehen. Aus den Fenstern und Dachöffnungen der Häuser zuckten die Mündungsblitze, die Schußfolge verdichtete sich zu einem Knattern.

Einer der Aufseher auf dem Wehrgang stieß einen gurgelnden Schrei aus. Rücklings stürzte der Mann auf den Gefängnishof hinunter.

José Cámpora reagierte blitzschnell. Mit einem Seitenblick sah er, daß der Mann tot war. Und er sah, wie im Eckhaus rechts von der Einmündung der noch rauchende Musketenlauf von den Sandsäcken weggezogen werden sollte. Dieser Scharfschütze dort drüben war es, der den tödlichen Schuß abgegeben hatte. Cámporas Drehbasse war nachgeladen.

Er schwenkte das Rohr und visierte das Fenster an, in dem der Kerl soeben seine leergeschossene Muskete gegen eine geladene austauschen wollte.

Cámpora stieß die Lunte ins Zündloch.

Die aus der Mündung zuckende Feuerlanze verwehrte ihm für eine Sekunde den Blick. Dann, noch im Brüllen der schweren Waffe, sah er, wie die geballte Ladung die Sandsäcke und den Scharfschützen auf einen Schlag aus dem Fenster nach innen schleuderte. Aus dem versiegenden Schrei des Kerls war zu schließen, daß auch er das Zeitliche gesegnet hatte.

Abermals antwortete die de-Escobedo-Meute mit heftigerem Feuer. Cámporas Männer waren gezwungen, vorübergehend in Deckung zu gehen, da sie nicht über eine ausreichende Zahl an nachgeladenen Waffen verfügten.

Es war der entscheidende Vorteil, den die Angreifer sich verschafften.

Innerhalb der nächsten Viertelstunde gelang es de Escobedo, die Scharfschützennester endgültig einzurichten und mit offenbar geeigneten Kerlen zu besetzen.

Das Geplänkel begann.

Der Gefängnisdirektor hatte seinen Männern eingeschärft, sich ständig vor Augen zu halten, was es bedeutete, Scharfschützen gegenüberzuliegen. Die geringste Unvorsichtigkeit konnte den Tod bringen.

Allerdings waren auch die besten Scharfschützen nicht unfehlbar. Erst einmal mußten sie sich mit ihren Musketen einschießen, die Pulvermenge einigermaßen genau bemessen und die stets gleiche Bleisorte der Kugeln verwenden. Schließlich mußten sie die Streuung ihrer Waffen berechnen können, denn mit dem glatten Lauf einer Muskete war auf größere Entfernung beim besten Willen kein genauer Schuß mehr möglich.

Dennoch, und in dem Punkt machte José Cámpora sich und seinen Männern nichts vor, konnte ein geübter Schütze auch mit einer Muskete erstaunliche Resultate erzielen.

Den Beweis für die letztere Vermutung erlebte der Gefängnisdirektor, als er die Männer für die nächsten Stunden eingeteilt hatte und den Portalturm verlassen wollte.

Peitschend löste sich ein einzelner Schuß aus einem der sandsackbewehrten Scharfschützennester.

Die Kugel klatschte gegen den obersten Quadersteinrand jener Zinne, hinter der sich Cámpora nur um Fingerbreite zu weit aufgerichtet hatte.

Blitzschnell duckte er sich. Und er begriff. Nur die Tatsache, daß der Schütze etwas zu tief gehalten hatte, war seine Rettung gewesen. Andernfalls hätte ihm das Geschoß die Schädeldecke zertrümmert.

Keiner der Männer vom Wachpersonal reagierte darauf mit Schadenfreude, zumal Cámpora ihnen seine eigene Unvorsichtigkeit vor Augen hielt und noch einmal ausdrücklich darauf hinwies, wie leicht man nachlässig werden konnte – selbst dann, wenn man glaubte, sich ständig unter Kontrolle zu haben.

„Ihr habt es gesehen“, sagte er, als er mit den anderen, die auf Freiwache gingen, im Hof stand. „Prägt es euch ein. Jedem von euch kann es genauso gehen wie mir.“

 

Die Männer, die auf dem Wachgang kauerten, nickten schweigend. Eindringlicher als durch das soeben erlebte Beispiel konnte die Gefahr nicht demonstriert werden.

Cámpora ließ den Toten fortschaffen und in einer Wagenremise aufbahren. Noch war die Frage offen, ob der Mann eine Bestattung nach den Regeln der Kirche erhalten würde. Eben jene Frage war auch für die vielen Toten noch nicht beantwortet, die es in Havanna gegeben hatte.

Die Männer auf dem Wehrgang hielten sich prächtig, und es gelang ihnen sogar, ihre Gegner an der Nase herumzuführen. Dazu wendeten sie einen uralten Trick an, indem sie Helme auf Holzstäben emporhielten und gleichzeitig beobachteten, aus welchem Fenster oder welcher Dachöffnung geschossen wurde.

Sobald die betreffende Mündungsblume aufgeblüht war, konnte man gezielt antworten.

Doch es nutzte wenig. Die Sandsäcke erwiesen sich als wirksamer Schutz, so daß de Escobedos Meute keine weiteren Verluste hinnehmen mußte.

Auf der Seite der Gefängniswächter war es die Vorsicht, die ihnen dazu verhalf, den Tag gleichfalls ohne Verluste zu überstehen.

9.

Nach Einbruch der Dunkelheit änderte José Cámpora seine Verteidigungsmaßnahmen.

Nur zwei Freiwillige blieben auf dem Wehrgang, die Aufseher Gonzago und Verdura. Der Gefängnisdirektor ahnte, daß in der Nacht Entscheidendes geschehen würde. Entscheidendes jedenfalls nach dem Willen de Escobedos und seiner Meute. Cámpora und seine Männer waren fest entschlossen, den Kerlen eine Abfuhr zu verpassen.

Auf jeden Fall, so hatte Cámpora sich ausgerechnet, war seine Mannschaft im Gefängnisbau selbst besser und sicherer aufgehoben als auf den Türmen und auf dem Wehrgang. Im Erdgeschoß befanden sich die Wirtschafts- und Verwaltungsräume, zum Hof hin gelegen. Von den dortigen Fenstern aus konnte man den gesamten zwischen Umfassungsmauer und Gebäude liegenden Hof unter Beschuß nehmen und sich gewissermaßen einigeln.

Versorgungsschwierigkeiten würde es indessen nicht geben. Im Keller des Hauptgebäudes befand sich ein Trinkwasserbrunnen, Lebensmittel waren in den Wirtschaftsräumen ausreichend vorhanden – kein Wunder bei immerhin fünfzig Gefangenen, die täglich versorgt werden mußten. Die Vorschrift besagte, daß ständig ein Vorrat am Lager sein mußte, der das gesamte Gefängnis für mindestens eine Woche versorgte. Damit sollte möglichen Verknappungen vorgebeugt werden – wie etwa im Falle einer Belagerung, was bei einer Hafenstadt nie ganz auszuschließen war.

Die beiden Freiwilligen hatten nichts weiter zu tun, als vorzutäuschen, daß der Wehrgang hinter der Mauer noch mit der ursprünglichen Mannschaftsstärke besetzt war.

Gonzago und Verdura erfüllten diese Aufgabe mit Geschick und Mut. Ihr Vorteil war, daß die Scharfschützen sie bei Dunkelheit praktisch nicht mehr sehen konnten. Ihre Kameraden kontrollierten laufend die Zellen im Gefängnisbau und sorgten dafür, daß die absolute Verdunkelung strikt eingehalten wurde. Die beiden Freiwilligen liefen also keine Gefahr, daß sich ihre Silhouetten plötzlich vor einem helleren Hintergrund klar umrissen abzeichneten.

Zudem hatten sie ihre Helme abgelegt, sich dunkle Umhänge übergeworfen und die Gesichter geschwärzt. Gonzago und Verdura verschmolzen mit der Nacht wie Schatten. Selbst ihre Bewegungen waren kaum wahrzunehmen, zumal sie den Schutz der Mauer ausnutzten und sich nur dann aufrichteten, wenn sie eine Kugel aus dem Lauf jagten.

Die Scharfschützen in ihren Sandsacknestern hatten unterdessen nicht den Vorteil eines möglichen Stellungswechsels. Gonzago und Verdura hatten sich ihre Positionen genau eingeprägt und konnten auf diese Weise beinahe gezielt feuern. Dabei nahmen sie nach jedem Schuß eine andere Position ein, so daß de Escobedos Kerle den Eindruck hatten, es noch immer mit dem vollzähligen Aufgebot der Verteidiger zu tun zu haben.

Die Kugeln der Kerle aus den Häusern klatschten entweder wirkungslos gegen die Quadersteine der Mauern, oder sie sirrten über die Mauerkrone weg. Die Gefangenen hatten sich wohlweislich in einen toten Winkel ihrer Zellen verzogen und riskierten weder einen Blick noch ein vorlautes Wort. Eine verirrte Kugel einzufangen, war das letzte, auf das sie erpicht waren.

Gonzagos und Verduras Augen hatten sich innerhalb der letzten Stunden hervorragend an die Dunkelheit gewöhnt. Sie hatten außerdem einen weiteren Vorteil auf ihrer Seite, weil in den Hauseingängen und Gassen keine Bewegungen möglich waren, ohne daß man nicht zumindest ein schattenhaftes Huschen erkannte.

Eben dieser Umstand war es, der sich für die beiden tatkräftigen Verteidiger auszahlte.

So waren sie kurz vor Mitternacht in der Lage, ihr Glanzstück zu vollbringen.

Gonzago war unmittelbar neben dem linken Portalturm und wollte abermals seine Muskete abfeuern, als er die Waffe plötzlich zurücknahm.

Da veränderte sich etwas in der Gasseneinmündung, die dem Gefängnistor genau gegenüberlag.

Gonzago spähte über die Mauerkrone. Weiter rechts, auf der anderen Seite des Tores, krachte Verduras Muskete. Die Kugel fehlte jedoch, denn es erfolgte kein Schrei oder eine sonstige Reaktion.

Es war ein kantiger Schatten, der sich dort drüben in die Einmündung schob, aus der Tiefe der Gasse heraus.

Gonzago zögerte keinen Moment. Er huschte in den Turm und hastete die Wendeltreppe hinauf. Sekunden später, als er sich zwischen den Zinnen behutsam aufrichtete, sah er seinen Gefährten auf dem Turm zur Rechten. Die Distanz betrug fünf Yards, der Breite der beiden Torflügel entsprechend.

Sie konnten sich verständigen, ohne die Stimme wesentlich über den Flüsterton zu erhöhen.

„He, Verdura! Siehst du das?“

„Natürlich! Glaubst du, deine Augen sind besser als meine?“

„Was hältst du davon?“

„Überhaupt nichts. Ich meine, so etwas sollte man den Strolchen nicht gestatten.“

„Ganz meine Meinung. Und was tut man am besten dagegen?“

In der Dunkelheit war das geschwärzte Gesicht Verduras beim besten Willen nicht zu erkennen. Trotzdem ließ sich sein Grinsen ahnen, als er antwortete.

„Was meinst du wohl, warum ich auf den Turm gestiegen bin?“

„Etwa aus dem gleichen Grund wie ich?“ entgegnete Gonzago feixend.

„Sieht verdammt so aus.“

„Fein. Dann wollen wir uns anstrengen, daß wir es ihnen auf einen Schlag besorgen.“

Die Drehbassen waren noch geladen. Gonzago und Verdura hatten die Lunten ihrer Musketen mitgebracht, um sie nun zum Zünden der Hinterlader zu verwenden.

Ruhig, ohne sich zu rühren, beobachteten sie das Geschehen in der Gasse.

Deutlich war mittlerweile das Knirschen der Räder zu vernehmen. Die Kerle verwendeten einen zweiten Handkarren. Die Lunten hatten sie geschickt zwischen Pulverfässern und Sandsäcken verborgen, so daß das Glimmen in der Dunkelheit nicht zu sehen war. Auch die Kerle, die die Karren schoben, waren nicht zu erkennen.

Gonzago und Verdura ließen die Halunken mit dem Pulverkarren bis auf die Mitte der Straße vor dem Gefängnistor heran. Dann verständigte sich Gonzago mit seinem Gefährten durch einen scharfen Zischlaut.

Beide stießen die Lunten haargenau gleichzeitig in die Zündlöcher.

Die Kerle hinter den Sandsäcken des Karrens bemerkten das Unheil nicht sofort, da sie nur in Abständen nach vorn spähten, um die Richtung nicht zu verlieren.

Doch ein Warnschrei aus der Gasse ließ ihnen den Schreck jäh in die Knochen fahren. Sie warfen sich herum und ergriffen die Flucht.

Das Zündkraut der beiden Drehbassen puffte mit weißlich aufsteigendem Pulverrauch. Sofort darauf zündeten die Ladungen. Donnernd entluden sich die Bronzerohre der Hinterlader. Die beiden Mündungsblitze stachen wie glühende Lanzen in die Dunkelheit hinaus. Krachend und berstend waren die Einschläge der Blei- und Eisenladungen in die Pulverfässer zu vernehmen und wurden im nächsten Moment von der urgewaltigen Explosion übertönt.

Grellrot zuckte der Detonationsblitz bis über die Hausdächer hinaus. Holzsplitter der Fässer wirbelten nach allen Seiten davon, die Sandsäcke wurden in einen Schwall zerrissen, der sich über die Straße ergoß.

Für eine Sekunde, bis das grelle Licht der Explosion in sich zusammensank, waren die Schatten in der Gasse zu erkennen. Aber auch Gonzagos und Verduras Konturen wurden zumindest für diesen kurzen Augenblick in dem grellen Licht sichtbar. Die Freude über den Erfolg ihrer Drehbassenschüsse und die Erkenntnis, daß die Explosion diesmal noch gewaltiger gewesen war als bei de Escobedos erstem Versuch, das Tor zu sprengen, gerieten zur Nebensache.

Denn diesmal hatte sich de Escobedo auf ein mögliches Scheitern seines Vorhabens besser vorbereitet.

Gonzago und Verdura sollten es auf der Stelle spüren.

Aus den Scharfschützennestern und aus der Gasseneinmündung krachten Schüsse in rasender Folge. Kugeln zwitscherten ihnen um die Ohren, und sie hatten keine Chance mehr, zu ihren Musketen zu gelangen.

„Weg hier!“ brüllte Verdura, der sich hinter die Zinnen geduckt hatte.

„Die Drehbassen dürfen ihnen nicht in die Hände fallen!“ rief Gonzago. Mit einem vorsichtigen Blick sah er, daß die Gestalten bereits aus der Gasse heranhuschten. Und die Scharfschützen sorgten für präzisen Feuerschutz. Unmöglich, zu zweit dagegen anzugehen.

Gonzago hob das Bronzerohr seiner Drehbasse aus dem Stativ. Geduckt huschte er zur hinteren Seite des Turms und warf das Rohr in den Hof.

Krachend zerbrach das schwere Bronzestück in mehrere Teile.

Verdura folgte dem Beispiel seines Gefährten. Auch sein Drehbassenrohr zerbrach.

Die beiden Männer eilten die Wendeltreppen hinunter und stürmten gleich darauf über den Hof.

Cámpora und die anderen hatten das Haupttor des Gebäudes bereits einen Spalt breit geöffnet. Sofort nachdem Gonzago und Verdura hereingeschlüpft waren, wurde das Tor mit zwei mächtigen Riegelbalken verrammelt. Das Tor war ähnlich massiv und wuchtig gebaut wie jenes zwischen den beiden Türmen der Umfassungsmauer. Trotzdem war es ein schwacher Punkt. Der einzige Vorteil im Gebäude bestand darin, daß man von den Fenstern aus jene Angriffe abwehren konnte, die gezielt dem Tor galten.

Der Gefängnisdirektor klopfte den beiden Männern auf die Schulter.

„Ihr habt Hervorragendes geleistet“, sagte er. „Eine Belobigung dafür ist euch jetzt schon gewiß.“ Nach einem Augenblick des Schweigens fügte er hinzu: „Falls wir das hier lebend überstehen.“

„Das war eigentlich auch unser erster Gedanke“, Sagte Gonzago lächelnd.

„Aber jetzt wird der Teufelstanz wohl erst richtig losgehen“, meinte Verdura.

„Das fürchte ich auch“, entgegnete Cámpora leise. Er wandte sich zu den anderen um. „Alle Mann auf Verteidigungsposition!“

Er hatte den Befehl kaum ausgesprochen, als einer der Beobachter seine halblaute Meldung rief.

„Achtung, sie klettern über die Mauer!“

Cámpora hatte Gonzago und Verdura Fenster in seiner Nähe zugewiesen. Beruhigt sah er, daß sie ihre Tromblons bereits im Anschlag hatten. Prächtige Kerle waren das, ein paar Burschen, mit denen man buchstäblich durch dick und dünn gehen konnte. Aber die anderen waren keinen Deut schlechter, das mußte man anerkennen. Es war eben eine harte Schule, tagtäglich mit dem Gesindel fertig zu werden, das da in den Zellen hockte und nur darauf lauerte, einem Aufseher an die Kehle zu springen.

Beiderseits der Portaltürme tauchten die Schatten über der Mauerkrone auf.

„Feuer!“ brüllte Cámpora.

In rasender Folge krachten die breitstreuenden Waffen mit den trichterförmigen Läufen.

Markerschütternde Schreie waren die Folge. Die Kerle waren im ersten Moment völlig verwirrt, weil sie auf den Wehrgängen keine Gegner vorfanden. Im nächsten Atemzug brach das Inferno über sie herein. Drei, vier von ihnen stürzten auf das Hofpflaster hinunter und rührten sich nicht mehr.

Andere versuchten, über die Mauerkrone zu fliehen.

Die Blei- und Eisenladungen aus dem Gefängnisbau fegten noch zwei weitere weg.

Nur für Minuten herrschte Ruhe.

José Cámpora und seine Männer hatten Zeit, die Waffen nachzuladen.

Von außerhalb der Umfassungsmauer war Alonzo de Escobedos kreischende Befehlsstimme zu hören. Er trieb die Kerle an, die offenbar immer mehr zu murren begannen. Und da waren andere Befehlsstimmen, von den Unterführern offenbar. Nur durch ihre Unterstützung, so schien es, kriegte de Escobedo überhaupt noch eine zweite Angriffswelle zustande.

 

Diesmal schleppten sie ihre Pulverfässer ohne Karren ungehindert an das Haupttor.

Gefängnisdirektor Cámpora und seine Gefährten hielten den Atem an, während sie dem Getrappel der Schritte und den unterdrückten Stimmen lauschten. Sie wußten, was geschehen würde. Und sie wußten, daß alles von den darauffolgenden Minuten abhängen würde.

Als völlige Stille einkehrte, war klar, daß de Escobedo und seine Kerle in Deckung gegangen waren.

Sekunden später erfolgte die Detonation.

Eine Stichflamme, ähnlich hoch wie zuvor, als der Pulverkarren in die Luft geflogen war, raste hinter den beiden Torflügeln hoch. Die Druckwelle schien die Mauern des Gefängnisgebäudes erzittern zu lassen. Als seien sie aus Pappe, flogen die Torhälften auseinander und krachten mit Getöse auf das Steinpflaster des Hofes.

Im nächsten Moment ertönte wildes Gebrüll.

„Feuert, sobald ihr sie seht!“ rief Cámpora mit durchdringender Stimme.

Er hatte die letzte Silbe kaum über die Lippen gebracht, als die Welle der Angreifer auch schon durch das offene Portal stürmte.

Die Blunderbusse und Tromblons spien ihren tödlichen Hagel aus den Fenstern.

Gehacktes Blei und scharfkantige Eisenstücke orgelten den Kerlen de Escobedos entgegen. Abermals gellten Schreie. Die Kerle, die in vorderster Reihe gerannt waren, brachen zusammen, als hätte sich vor ihnen jäh ein unsichtbares Hindernis aufgetan.

Und immer noch hämmerten die Waffen der Verteidiger ihren mörderischen Hagel in die Nacht hinaus.

De Escobedos Befehlsstimme überschlug sich draußen vor dem Tor.

„Rückzug! Hölle und Verdammnis, merkt ihr Narren denn nicht, daß es so nicht geht? Rückzug!“

Cámpora und seine Getreuen konnten sich ein Grinsen nicht verkneifen. Die schattenhaften Gestalten in der Toröffnung waren wie weggefegt. Es hatte den Kerlen nichts genutzt, das Tor zu sprengen. Sie waren keinen Deut weiter als zuvor.

Und dabei sollte es bleiben.

Die Verteidiger im Gefängnis waren entschlossen, sich bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen. Aber sie wußten auch, daß sie eine reelle Chance hatten, ihre jetzige Position zu halten.

Wieder war eine der Detonationen aus Richtung der Stadt verhallt.

„Ich bin jetzt ganz sicher“, sagte Jörgen Bruhn. „Das kam aus Richtung des Gefängnisses.“

Jussuf nickte.

„Ich halte das nicht mehr aus“, sagte er dumpf. „Himmel, wir müssen doch wissen, was los ist!“

Arne schüttelte energisch den Kopf.

„Du bist verrückt. Es wäre Selbstmord, jetzt auf die Straße zu gehen. Ich kann das beim besten Willen nicht verantworten.“

Der Türke hob den Kopf und lächelte auf einmal.

„Hör mir zu, Arne. Du bist zwar mein Dienstherr, und ich akzeptiere dich als solchen, das weißt du. Aber ich verlange nicht von dir, daß du die Verantwortung für mich übernimmst. Tu mir den Gefallen und laß mich diesmal aus freien Stücken entscheiden. Jörgen ist mein Zeuge, daß du nicht schuld bist, wenn mir etwas zustößt.“ Er verzog sein dunkelhäutiges Gesicht zu einem listigen Grinsen. „Abgesehen davon wird mir sowieso nichts passieren.“

„Darf ich mich in ein Männergespräch einmischen?“ fragte Isabella Fuentes mit verschmitzter Miene.

Arne sah sie verblüfft an.

„Wann hast du das jemals nicht gedurft? Sagt mal, seid ihr alle verrückt geworden?“

„Ich nicht“, sagte Jörgen Bruhn trocken. „Ich habe einen völlig klaren Kopf, und ich weiß schon, daß unser Taubenvater so lange herumquengeln wird, bis wir es nicht mehr ertragen können.“

„Genau das wollte ich auch sagen!“ rief Isabella empört. „Mein Kopf ist nämlich auch klar.“

„Bei so viel Fürsprache“, sagte Jussuf und lehnte sich zurück, „brauche ich selbst nicht einmal mehr nach Argumenten zu suchen. Du hast es gehört, Arne. Ich verspreche dir, daß ich so vorsichtig sein werde wie noch nie.“

„Also gut“, sagte Arne von Manteuffel seufzend. „Ich weiß, ihr werdet mir zu dritt einheizen, wenn ich mich weiter auflehne. Verschwinde schon, Jussuf. Aber wehe, du bist nicht spätestens vor Hellwerden mit Neuigkeiten zurück!“

Der Türke war bereits aufgesprungen.

„Darauf kannst du dich verlassen“, sagte er mit einer tiefen Verbeugung.

Zehn Minuten später schlüpfte er in der zerlumpten Kluft eines Herumstreuners aus dem Tor des Hinterhofes. Die Seitengasse war so leer wie die ganze Umgebung, und er konnte ungehindert und zügig in Richtung Stadt und Gefängnis vordringen.

Schon tagsüber hatte sich für Arne und seine Gefährten bestätigt, daß es tatsächlich einen Aufschub für sie gab. Deutlich war herauszuhören gewesen, daß sich der Schauplatz des Geschehens zum Gefängnis verlagert hatte.

Und es hatte einen weiteren Grund zu wenigstens etwas Erleichterung gegeben.

Bei Dunkelheit, noch vor Mitternacht, war der Täuberich Izmir in seinen Schlag auf dem Hinterhof der Faktorei eingefallen. Aufatmend hatten Arne und seine Leute Hasards Nachricht gelesen, daß drei Schiffe des Bundes der Korsaren mit Kurs auf Havanna in See gegangen seien.

Es blieb also nur zu hoffen, daß man die Zeit bis zum Eintreffen der Freunde vom Bund der Korsaren unbeschadet überstand.

Jussuf hatte sich für seine nächtliche Erkundung bestens gerüstet. Unter seinem zerlumpten Umhang verborgen, hatte er Rumflaschen bei sich, die er alsbald im belebteren Teil des Stadtgebietes gezielt einsetzte, um Zungen zu lockern. Daß sich das offenbar turbulente Geschehen in der Tat beim Gefängnis abspielte, erfuhr er als erstes und ohne große Mühe.

Zusammen mit Schaulustigen, die sich der Verlockung seiner noch halbvollen Rumflasche ergaben, zog er weiter auf das Gefängnis zu und hörte so manchen Gesprächsfetzen der Kerle in den Hauseingängen mit.

Später, in einer Gruppe von verkommenden Gestalten, erfuhr er Einzelheiten, nachdem er seine zweite Flasche Rum hervorgeholt hatte. Die meisten hatten ihre erbeuteten Vorräte an Schnaps längst konsumiert, und es wurde immer schwieriger für sie, noch an den umnebelnden Stoff zu gelangen.

Niemand anders als der sehr ehrenwerte Alonzo de Escobedo, so erfuhr Jussuf, steckte hinter den Aktionen – gemeinsam mit dem schlitzohrigen Hundesohn Gonzalo Bastida. Einleuchtend, daß man die Gefangenen befreien wollte, um Verstärkung für den Sturm auf die Residenz zu erhalten.

Ebenso wie die lungernde Meute der Gaffer bemerkte auch Jussuf sehr bald, daß sich de Escobedos Kerle an dem Gefängnis die Köpfe einrannten. Aber so etwas wie Disziplin kannte dieser wilde Haufen schon gar nicht. De Escobedo hatte offenbar erhebliche Schwierigkeiten, mit den Kerlen überhaupt fertig zu werden. Offenbar konnte er nicht begreifen, daß eine solche Horde von Galgenvögeln mit anderen Maßstäben zu messen war als gehorsame Milizsoldaten oder Stadtgardisten.

Um ein wirklicher Anführer solcher zügelloser Horden zu werden, mußte de Escobedo noch eine Menge dazulernen.

Er konnte nicht verhindern, daß sich einige seiner Kerle einfach absonderten. Sie begriffen offenbar nicht, zu was der Sturm auf das Gefängnis eigentlich gut sein sollte. Für etwas nicht Greifbares die Knochen hinzuhalten, schien ihnen nach den vielen vergeblichen Angriffen nicht mehr vernünftig zu sein. Da war es schon besser, wieder auf eigene Faust auf Raubzüge zu gehen.

Es waren die Plünderer-Typen, jene miese Sorte zweibeiniger Ratten, die sich lieber dort etwas holten, wo sie nicht durch Widerstand oder sonstige Unannehmlichkeiten gestört wurden. Und sie hatten ein reiches Betätigungsfeld, denn alle Häuser waren von ihren Bewohnern geräumt worden.

Mit einem Bündel von Neuigkeiten kehrte Jussuf vor dem Morgengrauen in die Faktorei zurück.

Zu diesem Zeitpunkt, als er Arne, Jörgen und Isabella schilderte, was er herausgefunden hatte, war das Gefängnis immer noch ein trutziges Bollwerk gegen den Ansturm der wilden Horden.

Doch die Lage blieb weiterhin ernst.

Jussuf war nicht entgangen, daß das Lumpenpack weiteren Zulauf erhielt. Der Aufruhr in Havanna hatte sich rasend schnell herumgesprochen – vor allem, daß es in der Stadt noch immer etwas zu holen gab …