Die böse Macht

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5 _______

Camilla Denniston brachte Jane hinaus – nicht durch die kleine Tür in der Mauer, durch die sie hereingekommen war, sondern durch das Haupttor, das ungefähr hundert Schritte weiter auf dieselbe Straße hinausführte. Gelbes Licht ergoss sich von Westen her durch einen Spalt in der grauen Wolkendecke und tauchte die Landschaft für kurze Zeit in eine kalte Helligkeit. Jane hatte sich geniert, vor Camilla Denniston Zorn oder Furcht zu zeigen, und so war beides fast vergangen, als sie sich verabschiedete. Aber eine entschiedene Abneigung gegen das, was sie »all diesen Unsinn« nannte, blieb zurück. Sie hatte keine absolute Gewissheit, dass es Unsinn war, war aber entschlossen, es so zu behandeln. Sie wollte nicht hineingezogen, nicht vereinnahmt werden. Jeder musste sein eigenes Leben leben. Verstrickungen und Einmischungen zu vermeiden war seit langem eines ihrer wichtigsten Prinzipien. Selbst als sie entdeckt hatte, dass sie Mark heiraten würde, wenn er sie fragte, war sofort der Gedanke »aber ich muss trotzdem mein eigenes Leben weiterführen« aufgekommen und niemals länger als ein paar Minuten aus ihrem Bewusstsein geschwunden. Ein gewisser Groll gegen die Liebe selbst und darum auch gegen Mark, der auf diesem Weg in ihr Leben eingedrungen war, blieb zurück. Inzwischen wusste sie sehr genau, wie viel eine Frau durch die Heirat aufgab. Mark schien das nicht klar genug zu erkennen. Obwohl sie es nicht aussprach, war diese Furcht vor Beeinträchtigungen und Verstrickungen der tiefere Grund für ihren Entschluss, kein Kind zu bekommen – oder jedenfalls erst viel später. Jeder musste sein eigenes Leben leben.

Kaum war sie wieder in ihrer Wohnung, läutete das Telefon. »Sind Sie es, Jane?«, fragte eine Stimme. »Ich bin es, Margaret Dimble. Etwas Furchtbares ist geschehen. Ich werde es Ihnen erzählen, wenn ich komme. Im Moment bin ich zu wütend, um zu sprechen. Hätten Sie vielleicht zufällig noch ein Bett? Wie? Mr. Studdock ist gar nicht da? Nicht ein bisschen, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Ich habe Cecil zum Schlafen ins College geschickt. Sind Sie sicher, dass ich Sie nicht störe? Tausend Dank. In einer halben Stunde bin ich bei Ihnen.«

4 Die Beseitigung von Anachronismen

Kaum hatte Jane Marks Bett frisch bezogen, als auch schon, mit vielen Paketen beladen, Mrs. Dimble eintraf. »Sie sind ein Engel, dass Sie mich für die Nacht aufnehmen«, sagte sie. »Ich glaube, wir haben es bei jedem Hotel in Edgestow versucht. Dieser Ort wird schier unerträglich. Überall die gleiche Antwort! Alles voll bis unters Dach mit der Gefolgschaft dieses abscheulichen N.I.C.E. Sekretärinnen hier, Stenotypistinnen dort, Bauingenieure, Vermessungsleute – es ist schrecklich. Hätte Cecil nicht ein Zimmer im College, so müsste er wohl tatsächlich im Wartesaal des Bahnhofs schlafen. Ich hoffe nur, dass dieser Hausdiener im College das Bett gelüftet hat.«

»Aber was in aller Welt ist geschehen?«, fragte Jane.

»Man hat uns an die Luft gesetzt, meine Liebe!«

»Aber das ist doch nicht möglich, Mrs. Dimble. Ich meine, das kann unmöglich legal sein.«

»Das hat Cecil auch gesagt … Stellen Sie sich bloß vor, Jane, als wir heute Morgen aus dem Fenster schauten, sahen wir als Erstes einen Lastwagen in unserer Einfahrt; er stand mit den Hinterrädern mitten im Rosenbeet und lud einen Haufen Leute mit Äxten und Sägen ab, Leute, die wie Kriminelle aussahen. Direkt in unserem Garten! Ein abscheulicher kleiner Mann mit Schirmmütze war dabei, der die Zigarette im Mund behielt, während er mit Cecil sprach – das heißt nicht im Mund, sie klebte an seiner Oberlippe. Und wissen Sie, was er gesagt hat? Er sagte, sie hätten nichts dagegen, wenn wir bis morgen früh um acht im Haus blieben – wohlgemerkt im Haus, nicht im Garten. Nichts dagegen!«

»Aber das muss doch – muss doch ein Irrtum sein!«

»Cecil hat natürlich gleich den Schatzmeister des Bracton Colleges angerufen. Und natürlich war ihr Schatzmeister nicht im Haus. Den ganzen Vormittag lang haben wir immer wieder versucht zu telefonieren, und während der Zeit sind alle Pflaumenbäume und die große Buche, die Sie so gern hatten, gefällt worden. Wenn ich nicht so wütend gewesen wäre, hätte ich mich hingesetzt und mir die Augen ausgeweint. So war mir zu Mute. Schließlich hat Cecil diesen Mr. Busby erreicht, der sich als völlig unbrauchbar erwies und sagte, es müsse irgendein Missverständnis vorliegen, aber er habe jetzt nichts mehr mit der Sache zu tun und wir sollten uns an das N.I.C.E. in Belbury wenden. Selbstverständlich war es völlig unmöglich, eine Verbindung mit denen zu bekommen. Und zur Mittagszeit war klar, dass wir die Nacht einfach nicht mehr zu Hause verbringen konnten, was immer auch geschehen würde.«

»Warum nicht?«

»Meine Liebe, Sie können sich keine Vorstellung davon machen. Die ganze Zeit sind riesige Lastwagen und Zugmaschinen vorbeigedonnert, und dann ein Kran auf einer Art Tieflader. Die Lieferanten kamen nicht mehr durch. Die Milch kam erst um elf. Das Fleisch kam überhaupt nicht, und am Nachmittag rief die Metzgerei an und sagte, ihr Fahrer sei nicht zu uns durchgekommen. Wir hatten selbst die größten Schwierigkeiten, in die Stadt zu kommen. Von unserem Haus bis zur Brücke haben wir eine halbe Stunde gebraucht. Es war wie ein Albtraum. Überall Lichter und Lärm, die Straße praktisch zerstört, und auf der Gemeindewiese errichten sie bereits ein riesiges Barackenlager. Und die Leute! Derart grässliche Männer. Ich wusste nicht, dass wir in England solche Arbeiter haben. Ach, grässlich, grässlich!« Mrs. Dimble fächelte sich mit dem Hut, den sie gerade abgenommen hatte, Luft zu.

»Und was wollen Sie nun tun?«, fragte Jane.

»Das weiß der Himmel!«, sagte Mrs. Dimble. »Einstweilen haben wir das Haus zugesperrt, und Cecil ist bei unserem Anwalt, Mr. Rumbold, gewesen, um zu sehen, ob wir das Haus wenigstens versiegeln lassen können, sodass niemand es betritt, bis wir unsere Sachen herausgeholt haben. Rumbold scheint nicht zu wissen, woran er ist. Er sagt ständig, das N.I.C.E. sei juristisch in einer ganz besonderen Position. Was das heißt, kann ich beim besten Willen nicht sagen. Soweit ich sehe, wird es in Edgestow überhaupt keine Privathäuser mehr geben. Zum anderen Flussufer hinüberzuziehen hat überhaupt keinen Zweck, selbst wenn sie uns ließen. Was meinen Sie? Oh, unbeschreiblich. Alle Pappeln werden gefällt. Und all diese hübschen kleinen Häuser bei der Kirche werden abgerissen. Ich habe die arme Ivy – Ihre Mrs. Maggs, wissen Sie – getroffen, und sie war in Tränen aufgelöst. Die armen Dinger! Sie sehen wirklich furchtbar aus, wenn die Tränen über das Make-up laufen. Sie ist auch auf die Straße gesetzt worden; arme Frau, als ob sie es nicht ohnedies schon schwer genug hätte. Ich war froh wegzukommen. Die Männer waren so schrecklich. Drei große Kerle sind an die Hintertür gekommen, sie wollten heißes Wasser und haben sich so aufgeführt, dass Martha vor Angst völlig den Kopf verlor und Cecil hinausgehen und mit ihnen sprechen musste. Ich dachte schon, sie würden Cecil schlagen, wirklich. Es war schrecklich unerfreulich. Irgendein besonderer Polizist schickte sie dann weg. Wie? Ach ja, überall sind dutzende von Uniformierten, die wie Polizisten aussehen, aber die haben mir auch nicht gefallen. Sie wippen ständig mit so einer Art Gummiknüppel, wie in den amerikanischen Filmen. Wissen Sie, Jane, Cecil und ich dachten beide das Gleiche: Wir dachten, es ist beinahe, als hätten wir den Krieg verloren. Oh, wunderbar, Tee! Das ist genau, was ich brauche.«

»Sie müssen hier bleiben, Mrs. Dimble, solange Sie wollen«, sagte Jane. »Mark wird einfach im College schlafen müssen.«

»Also wirklich«, sagte Mutter Dimble, »wenn es im Augenblick nach mir ginge, dann dürfte kein Mitglied des Bracton Colleges überhaupt irgendwo schlafen! Aber bei Ihrem Mann würde ich eine Ausnahme machen. Wie die Dinge liegen, werde ich ohnehin nicht Siegfrieds Schwert spielen müssen – und was wäre das auch für ein hässliches, fettes und unbeholfenes Schwert! Übrigens wissen wir bereits, wo wir unterkommen. Cecil und ich werden nach St. Anne’s in das Landhaus ziehen. Dort haben wir zurzeit sowieso oft zu tun, wissen Sie.«

»Oh«, sagte Jane beinahe erschrocken, als ihr die Erlebnisse des Tages wieder einfielen.

»Aber, wie egoistisch von mir!«, sagte Mutter Dimble. »Da plappere ich über meine eigenen Schwierigkeiten und vergesse ganz, dass Sie dort gewesen sind und sicherlich viel zu erzählen haben. Haben Sie mit Grace gesprochen? Und hat sie Ihnen gefallen?«

»›Grace‹ ist Miss Ironwood?« fragte Jane.

»Ja.«

»Ich habe mit ihr gesprochen. Ich weiß nicht, ob sie mir gefallen hat oder nicht. Aber ich möchte jetzt nicht darüber sprechen. Ich kann an nichts anderes denken als an diese empörenden Ereignisse bei Ihnen. Sie sind die Märtyrerin, nicht ich.«

»Nein, meine Liebe«, sagte Mrs. Dimble, »ich bin keine Märtyrerin. Ich bin nur eine zornige alte Frau mit schmerzenden Füßen und Kopfweh – aber das wird schon weniger –, die versucht, sich in eine bessere Stimmung hineinzureden. Schließlich haben Cecil und ich nicht wie die arme Ivy Maggs unsere Lebensgrundlage verloren. So wichtig ist uns das alte Haus nun auch wieder nicht. Wissen Sie, das Vergnügen, dort zu leben, war in mancher Hinsicht ein melancholisches Vergnügen. Ich frage mich überhaupt, ob die Menschen eigentlich gerne glücklich sind? Ein wenig melancholisch, ja. All diese großen Zimmer im Obergeschoss, die wir wollten, weil wir dachten, dass wir viele Kinder haben würden, und dann bekamen wir nicht eines. Vielleicht habe ich zu viel Gefallen daran gefunden, ihnen an den langen Nachmittagen, wenn Cecil nicht da war, nachzutrauern. Mich selbst zu bemitleiden. Es wird besser für mich sein, von dort wegzukommen, glaube ich. Am Ende wäre ich noch wie diese fürchterliche Frau bei Ibsen geworden, die immer über Puppen redet. Für Cecil ist es wirklich viel schlimmer. Er hatte so gern alle seine Studenten um sich. Jane, jetzt haben Sie schon zum dritten Mal gegähnt. Sie sind todmüde, und ich rede Ihnen ein Loch in den Bauch. Das kommt davon, wenn man dreißig Jahre verheiratet ist. Ehemänner sind dazu da, dass man auf sie einredet. Es hilft ihnen, sich auf das zu konzentrieren, was sie gerade lesen – wie das Geräusch eines Wasserfalls. Da! Nun gähnen Sie schon wieder.«

 

Jane empfand Mutter Dimble als eine etwas unbequeme Zimmergenossin, weil sie betete. »Sonderbar«, dachte Jane, »wie einen das verwirren kann.« Man wusste nicht, wo man hinschauen sollte, und nachdem Mrs. Dimble sich von den Knien erhoben hatte, war es mehrere Minuten lang schwierig, den natürlichen Gesprächston wieder zu finden.

2 _______

»Sind Sie jetzt wach?«, fragte Mrs. Dimbles Stimme mitten in der Nacht.

»Ja«, antwortete Jane. »Es tut mir Leid. Habe ich Sie geweckt? Habe ich geschrien?«

»Ja. Sie haben geschrien, dass jemand auf den Kopf geschlagen würde.«

»Ich habe gesehen, wie sie einen Mann umbrachten, einen Mann, der in einem großen Wagen eine Landstraße entlangfuhr. Er kam zu einer Kreuzung und bog nach rechts ab, vorbei an einigen Bäumen, und dort stand jemand mitten auf der Straße und schwenkte ein Licht, um ihn anzuhalten. Ich konnte nicht hören, was sie sagten, denn ich war zu weit entfernt. Sie müssen ihn überredet haben, aus dem Wagen zu steigen, und er sprach mit einem von ihnen. Das Licht fiel voll auf sein Gesicht. Er war nicht derselbe alte Mann, den ich in dem anderen Traum gesehen habe. Dieser hatte keinen Bart, nur einen Schnurrbart. Er wirkte irgendwie hitzig und stolz. Es gefiel ihm nicht, was der Mann zu ihm sagte, und dann nahm er seine Fäuste und schlug ihn nieder. Ein anderer Mann hinter ihm versuchte, ihn mit einem Gegenstand auf den Kopf zu schlagen, aber der alte Mann war zu schnell und drehte sich rechtzeitig um. Dann gab es einen schrecklichen Kampf, der aber auch etwas Großartiges hatte. Sie waren zu dritt, und er kämpfte gegen alle drei. Ich habe in Büchern davon gelesen, konnte mir aber nie vorstellen, wie einem dabei zu Mute ist. Natürlich haben sie ihn schließlich überwältigt. Mit den Dingern in ihren Händen schlugen sie furchtbar auf seinen Kopf ein. Sie haben ihn ganz kaltblütig erledigt und sich dann gebückt, um ihn zu untersuchen und sich zu vergewissern, dass er wirklich tot war. Das Licht der Laterne kam mir seltsam vor, wie hohe Stäbe oder Stangen aus Licht – überall. Aber vielleicht war ich da schon im Begriff aufzuwachen. Nein, danke, alles in Ordnung. Es war natürlich furchtbar, aber ich habe keine Angst … nicht so wie in den früheren Träumen. Ich habe vor allem Mitleid mit dem alten Mann.«

»Glauben Sie, dass Sie wieder einschlafen können?«

»O ja! Haben die Kopfschmerzen nachgelassen, Mrs. Dimble?«

»Sie sind ganz weg, danke. Gute Nacht.«

3 _______

»Kein Zweifel«, dachte Mark, »dies muss der verrückte Pfarrer sein, den Bill der Blizzard erwähnt hat.« Die Ausschusssitzung begann erst um halb elf in Belbury, und seit dem Frühstück war Mark trotz des rauen und nebligen Wetters mit Reverend Straik im Garten spazieren gegangen. Gleich als der Mann ihn angesprochen hatte, hatten die abgetragenen Kleider und die plumpen Schuhe, der durchgewetzte Klerikerkragen, das dunkle, hagere, tragische Gesicht, narbig, schlecht rasiert und zerfurcht, die geradezu erbitterte Aufrichtigkeit auf Mark fehl am Platze gewirkt. Er hatte nicht erwartet, im Institut einer solchen Gestalt zu begegnen.

»Denken Sie nicht«, sagte Mr. Straik, »dass ich mich der Illusion hingäbe, unser Programm könnte ohne Gewalt verwirklicht werden. Es wird Widerstand geben. Sie werden mit den Zähnen knirschen und keine Reue zeigen. Aber wir werden uns nicht abschrecken lassen. Wir werden diesen Unruhen mit einer Festigkeit begegnen, die Verleumder zu der Behauptung verleiten wird, wir hätten sie gewollt. Lassen wir sie reden. In gewissem Sinne haben wir sie gewollt. Es kann nicht unsere Sache sein, jenes System geregelter Sünde zu erhalten, das man Gesellschaft nennt. Für dieses System ist die Botschaft, die wir zu verkünden haben, eine Botschaft völliger Verzweiflung.«

»Nun, genau das habe ich gemeint«, sagte Mark, »als ich sagte, Ihr Standpunkt und der meine wären im Grunde unvereinbar. Die Erhaltung der Gesellschaft durch gründliche Planung aller Lebensbereiche ist das Ziel, das ich vor Augen habe. Ich glaube nicht, dass es ein anderes Ziel gibt oder geben kann. Für Sie stellt sich das Problem völlig anders, weil Sie auf etwas Besseres als die menschliche Gesellschaft hoffen, in einer anderen Welt.«

»Mit jedem Gedanken und jeder Faser meines Herzens, mit jedem Tropfen meines Blutes weise ich diese verwerfliche Doktrin zurück«, sagte Mr. Straik. »Genau das ist die Ausflucht, mit der die Welt, diese Organisierung und Behausung des Todes, die Lehre Jesu Christi auf den falschen Pfad geführt und entmannt und die einfache Forderung des Herrn nach Rechtschaffenheit und Gericht hier und jetzt in Pfaffentum und Mystizismus verwandelt hat. Das Königreich Gottes muss hier verwirklicht werden – in dieser Welt. Und es wird geschehen. Beim Namen Jesu soll jedes Knie sich beugen. Und in diesem Namen sage ich mich völlig los von allen Formen organisierter Religion, die diese Welt bisher gesehen hat.«

Die Erwähnung des Namens Jesu brachte Mark, der ohne weiteres vor einem Hörsaal voll junger Frauen eine Vorlesung über Abtreibung oder Perversion gehalten hätte, so aus der Fassung, dass er leicht errötete; und als er das merkte, ärgerte er sich so über sich selbst und Mr. Straik, dass seine Wangen in der Tat sehr rot wurden. Dies war genau die Art von Gespräch, die er nicht ausstehen konnte; und seit dem Elend der Religionsstunden in der Schule, an die er sich nur zu gut erinnerte, hatte er sich nie so unbehaglich gefühlt. Er murmelte etwas über seine mangelnden Kenntnisse in Theologie.

»Theologie!«, sagte Mr. Straik mit tiefer Verachtung. »Ich spreche nicht über Theologie, junger Mann, sondern über den Herrn Jesus Christus. Theologie ist Geschwätz, Augenwischerei, Schall und Rauch, ein Spiel für reiche Müßiggänger. Ich habe den Herrn Jesus nicht in Hörsälen gefunden. Ich habe ihn in den Kohlengruben gefunden und neben dem Sarg meiner Tochter. Wer meint, Theologie sei eine Art Watte, die ihn am Tag des großen und schrecklichen Gerichts sicher schützen werde, der irrt. Denken Sie an meine Worte: so wird es geschehen! Das Reich Gottes wird kommen, in dieser Welt, in diesem Land. Die Macht der Wissenschaft ist ein Werkzeug. Ein unwiderstehliches Werkzeug, wie wir alle im Institut wissen. Und warum ist sie ein unwiderstehliches Werkzeug?«

»Weil Wissenschaft auf Beobachtung beruht«, sagte Mark.

»Sie ist ein unwiderstehliches Werkzeug«, rief Straik, »weil sie ein Werkzeug in Seiner Hand ist. Richtschwert und Balsam zugleich. Das konnte ich keiner der Kirchen klarmachen. Sie sind mit Blindheit geschlagen, verblendet von den schmutzigen Fetzen des Humanismus, der Kultur, der Menschenfreundlichkeit, des Liberalismus und ihrer eigenen Sünden oder was sie dafür halten, obgleich sie wirklich das am wenigsten Sündige an ihnen sind. Darum stehe ich allein: ein armer, schwacher, unwürdiger Mann, aber der einzige lebende Prophet. Ich weiß, dass Er in Macht und Herrlichkeit kommen wird. Und darum sehen wir die Zeichen Seiner Ankunft, wo wir Macht sehen. So kommt es, dass ich mich mit Kommunisten und Materialisten und jedem anderen verbünde, der wirklich bereit ist, die Ankunft des Herrn zu beschleunigen. Noch der Geringste dieser Menschen hier begreift den tragischen Sinn des Lebens und hat die Unbarmherzigkeit, die völlige Hingabe, die Bereitschaft, alle bloß menschlichen Werte aufzuopfern, lauter Dinge, die ich unter all der widerlichen Heuchelei der organisierten Religionen nicht finden konnte.«

»Sie wollen damit also sagen«, sagte Mark, »dass es in der unmittelbaren Praxis keine Grenzen für Ihre Zusammenarbeit mit dem Institut gibt?«

»Lassen Sie die Vorstellung einer Zusammenarbeit fahren!«, sagte der andere. »Arbeitet der Ton mit dem Töpfer zusammen? Arbeitete Kyros mit dem Herrn zusammen? Diese Leute werden Werkzeuge sein. Auch ich werde ein Werkzeug sein. Ein Mittel zum Zweck. Aber hier kommen wir zu dem Punkt, der Sie angeht, junger Mann. Sie haben keine Wahl, ob Sie Werkzeug sein wollen oder nicht. Wenn Sie einmal Ihre Hand an den Pflug gelegt haben, gibt es kein Zurück mehr. Niemand kehrt dem N.I.C.E. den Rücken. Jene, die es versuchen, werden in der Wildnis umkommen. Aber die Frage ist, ob Sie sich damit zufrieden geben, eines der Werkzeuge zu sein, die zur Seite geworfen werden, wenn sie Ihm gedient haben – die gerichtet werden, nachdem sie andere gerichtet haben. Oder werden Sie unter jenen sein, die das Erbe antreten? Denn es ist alles wahr, wissen Sie. Die Heiligen werden die Erde erben – hier in England, vielleicht innerhalb der nächsten zwölf Monate –, die Heiligen und niemand sonst. Wissen Sie nicht, dass wir sogar über Engel zu Gericht sitzen werden?« Dann dämpfte Straik plötzlich seine Stimme und fügte hinzu: »Die wahre Wiederauferstehung findet schon jetzt statt. Das wirkliche Leben wird ewig währen, hier in dieser Welt. Sie werden es sehen.«

»Es ist gleich zwanzig nach«, sagte Mark. »Sollten wir nicht zur Ausschusssitzung?«

Straik machte schweigend mit ihm kehrt. Teils, um eine Fortsetzung des Gesprächs in dieser Richtung zu verhindern, und teils, weil er wirklich eine Auskunft haben wollte, sagte Mark nach einer Weile: »Mir ist etwas ziemlich Unangenehmes passiert. Ich habe meine Brieftasche verloren. Es war nicht viel Geld darin: nur etwa drei Pfund. Aber es waren Briefe und andere Dinge darin, es ist ziemlich ärgerlich. Sollte ich das irgendjemandem melden?«

»Sie können es dem Hausverwalter sagen«, meinte Straik.

4 _______

Der Ausschuss tagte ungefähr zwei Stunden, und der stellvertretende Direktor führte den Vorsitz. Seine Art, die Sitzung zu leiten, war langsam und umständlich, und Mark, der in Bracton seine Erfahrungen gesammelt hatte, gewann bald den Eindruck, dass die eigentliche Arbeit des Instituts anderswo geleistet wurde. Dies entsprach auch seinen Erwartungen, und er war zu vernünftig, um anzunehmen, dass er schon zu diesem frühen Zeitpunkt im inneren Kreis oder was immer hier in Belbury dem Progressiven Element am Bracton College entsprach, Aufnahme finden würde. Aber er hoffte, man würde ihn nicht allzu lange seine Zeit in Schattenausschüssen vergeuden lassen. An diesem Morgen wurden hauptsächlich Einzelheiten der in Edgestow bereits angelaufenen Arbeiten besprochen. Das N.I.C.E. hatte anscheinend eine Art Sieg errungen, der ihm das Recht gab, die kleine normannische Kirche abzureißen. »Natürlich wurden die üblichen Einwände auf den Tisch gebracht«, sagte Wither. Mark, der an Architektur nicht sonderlich interessiert war und die andere Seite des Wynd nicht annähernd so gut kannte wie seine Frau, ließ seine Aufmerksamkeit abschweifen. Erst am Ende der Sitzung kam Wither auf einen regelrecht sensationellen Vorfall zu sprechen. Er meinte, die meisten der Anwesenden hätten die höchst traurige Nachricht wohl bereits gehört (Mark fragte sich, warum Vorsitzende immer mit solchen Wendungen anfingen), die offiziell bekannt zu geben er nichtsdestoweniger verpflichtet sei. Er bezog sich natürlich auf die Ermordung von William Hingest. Soweit Mark dem gewundenen und anspielungsreichen Bericht des Vorsitzenden entnehmen konnte, war Bill der Blizzard gegen vier Uhr früh mit eingeschlagenem Schädel neben seinem Wagen in der Potters Lane aufgefunden worden. Der Tod war mehrere Stunden zuvor eingetreten. Mr. Wither wagte anzunehmen, es sei den Anwesenden eine melancholische Befriedigung zu erfahren, dass die N.I.C.E.-Polizei noch vor fünf Uhr am Schauplatz des Verbrechens eingetroffen sei und dass weder die lokalen Behörden noch Scotland Yard irgendwelche Einwände gegen eine weitestgehende Zusammenarbeit erhöben. Wäre der Anlass passender, so hätte er einen Antrag begrüßt, Miss Hardcastle den Dank und die Glückwünsche des Ausschusses für das reibungslose Zusammenwirken ihrer eigenen Kräfte mit denen des Staates auszusprechen. Das sei ein Lichtblick in dieser traurigen Geschichte und, wie er meine, ein gutes Omen für die Zukunft. Dezent gedämpfter Applaus ging bei diesen Worten um den Tisch. Dann begann Mr. Wither mit einiger Ausführlichkeit über den Toten zu sprechen. Sie alle hätten Mr. Hingests Beschluss, sich vom Institut zurückzuziehen, sehr bedauert, wiewohl sie seinen Beweggründen volle Anerkennung zollten; sie alle hätten empfunden, dass diese offizielle Trennung nicht im Mindesten die herzlichen Beziehungen beeinträchtigen würde, die zwischen dem Verblichenen und den meisten – er glaube sogar sagen zu dürfen, ohne Ausnahme allen seinen früheren Kollegen im Institut bestanden. Der stellvertretende Direktor war durch seine besonderen Talente sehr gut befähigt, Leichenreden zu halten, und er ließ es auch nicht an der gebotenen Ausführlichkeit fehlen. Er schloss mit der Bitte an die Versammelten, sich zu erheben und das Andenken William Hingests durch eine Schweigeminute zu ehren.

 

Das taten sie, und es folgte eine schier endlose Minute, während der hier und da ein Hüsteln oder Schnaufen zu hören war. Hinter all den Masken glatter Gesichter mit fest geschlossenen Lippen stahlen sich belanglose Gedanken an dies und jenes hervor, so wie Vögel und Mäuse wieder auf eine Waldlichtung herausschlüpfen, wenn die Ausflügler gegangen sind, und jeder versicherte sich im Stillen, er jedenfalls sei nicht so morbide und denke an den Tod.

Dann scharrten Füße, Stimmen wurden laut, und die Sitzung wurde aufgehoben.I