Das Blutsiegel von Isfadah (Teil 2)

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Sina

Sobald sie alles Wichtige für die Zeit ihrer Abwesenheit geklärt hatte, machte sich Sina auf den Weg. Zwei anstrengende Wochen später kam sie endlich an der Küste an. Sie ließ ihren Blick über den weiten Horizont schweifen und genoss für einen Moment den Anblick. Wunderschön war die Verbindung vom Türkis des Meeres mit dem Azurblau des Himmels. Es war überwältigend und machte ihr einmal mehr klar, wie unwürdig und klein doch der Mensch war. Und dennoch lohnte es sich, für jene einzustehen, die sich nicht nur um ihr eigenes Wohl sorgten und die einem am Herzen lagen, so fehlbar sie auch sein mochten.

Ihre bevorstehende Abreise hatte im Tempel zunächst für Unruhe gesorgt. Die Wächterinnen fühlten sich nicht mehr sicher, seit Farid sich offen von ihnen distanzierte. Seit Generationen hatte der Tempel unter dem Schutz des Königshauses von Isfadah gestanden und die Wächterinnen brauchten sich um derartige Dinge nicht zu sorgen. Doch die veränderte Situation hatte die weisen Frauen ihrer Sicherheit beraubt und die bevorstehende lange Abwesenheit von Sina minderte derartige Angstgefühle nicht gerade. Doch die oberste Wächterin hatte ihre Autorität eingesetzt und keinen Widerspruch geduldet. Sie versicherte, dass ihre Mission auch dem Wohle des Tempels diene und ordnete an, dass keinesfalls etwas davon nach außen dringen durfte. Eventuelle Besucher sollten damit vertröstet werden, dass die Meisterin mit einem schweren, ansteckenden Leiden ans Bett gefesselt sei. Sina übergab die Leitung des Tempels an ihre Vertreterin und sprach den Frauen Mut zu. „Es darf und wird nicht immer so sein, dass wir uns vor Anfeindungen und Übergriffen dieses unwürdigen Königs fürchten müssen. Ich will die Ehre unseres Tempels wiederherstellen. Doch das ist ein langer Weg und meine Reise ist dafür nur der Anfang.“ Sie machte eine Pause und sah in die Gesichter der versammelten Wächterinnen. Als sie zu bemerken glaubte, wie sich Hoffnung und Stolz auf ihnen abzeichneten, fragte sie: „Habe ich eure Unterstützung?“

Langsam kam Leben in die Versammlung und nach und nach versicherte ihr jede der Anwesenden ihre Ergebenheit zu.

Der Abschied war tränenreich gewesen und viele gute Wünsche begleiteten Sina. Und die hatte sie auch bitter nötig. Als Frau allein zu reisen und das über eine so große Distanz, war nicht üblich und auch nicht ungefährlich. Sie hatte sich eine rührselige Geschichte zurechtgelegt, von einem alten einsamen Vater, der im Sterben lag. Das erklärte für die meisten Fragesteller alles und verschaffte ihr Ruhe. Zum Glück hatte sie immer wieder die Gelegenheit gehabt, bei einer netten Familie oder vertrauenswürdigen Händlern mitzufahren. Zu Fuß hätte sie ein Vielfaches der Zeit gebraucht. Dennoch war sie jetzt zutiefst erschöpft und genoss die Verschnaufpause am Strand.

Als sich Sina ausgeruht hatte, erhob sie sich und hielt Ausschau nach einem Menschen, den sie nach dem Weg fragen konnte. Nach einer Weile erblickte sie eine Gestalt, die ebenfalls den beeindruckenden Anblick des Meeres zu genießen schien. Zielsicher ging sie auf sie zu. Als sie näher kam, erkannte sie, dass es sich um einen alten Mann handelte. Erst als ihr Schatten sich vor ihm ausbreitete, wurde er sich ihrer Gegenwart bewusst. Überrascht blinzelte er zu ihr hinauf. Sina, die während der Reise ihr rotes Gewand gegen ein gewöhnliches Alltagskleid getauscht hatte, wirkte auf ihn nicht weiter bedrohlich und so wich sein anfänglich skeptischer Blick bald einem freundlichen Lächeln.

„Kann ich Euch behilflich sein?“, fragte er die anmutige Fremde höflich und versuchte, sich wacklig auf die schwachen Beine zu stellen.

Sina bat ihn, sitzen zu bleiben und ging selbst in die Hocke, um ihm direkt in die Augen zu sehen. „Ich suche nach einem Fischerdorf namens Bluemare. Könnt Ihr mit sagen, wo ich es finde?“ Auf dem Gesicht des Mannes breitete sich das Lächeln der Erkenntnis aus.

„Ja, das ist hier ganz in der Nähe! Geht einfach in dieser Richtung am Ufer entlang und in etwa zwei Stunden solltet Ihr da sein.“

Sie bedankte sich freundlich bei ihm, fasste ihr Bündel und begab sich in die gewiesene Richtung. Die Sonne stand noch hoch und alles sprach dafür, dass sie ihr Ziel vor deren Untergang erreichen würde.

Als die letzten Strahlen auf den Wellen des Meeres hüpften, kam Sina in Bluemare an. Erleichtert schritt sie aus und brauchte nicht lange, um einen Bewohner des Dorfes zu treffen. Der antwortete der Fremden nur unwillig auf ihre Fragen. Aufmerksam musterte er die Frau. „Das war ein Drama, das Ganze! Keiner weiß so richtig, was wirklich geschehen ist. Aber fragt am besten den alten Mateo. Er und seine Sippe waren gut mit diesen Leuten bekannt.“ Er erklärte ihr den Weg und Sina vergeudete keine Zeit. Sie dankte dem Mann und machte sich auf die Suche nach der beschriebenen Hütte. Sie musste in dem kleinen Ort nicht lange suchen. Auf ihr Klopfen hin öffnete ein alter Mann und sah sie fragend an.

„Seid Ihr Mateo?“, fragte sie ihn freundlich.

Der alte, aber keineswegs gebrechliche Mann zog die Stirn in Falten und fragte nun seinerseits: „Wer will das wissen?“

Sie lächelte ihn verständnisvoll an. „Mein Name ist Sina. Wenn Ihr der seid, den ich suche, hoffe ich, von Euch Auskunft über das Schicksal unserer gemeinsamen Freunde zu bekommen. Sie haben bis vor ein paar Wochen hier gelebt. Dann hat das Schicksal sie hart getroffen. Ich denke, sie sind Euch unter dem Namen Arno und Luna bekannt.“

Jetzt straffte sich der Rücken des Alten und an seiner aufmerksamen Miene konnte Sina erkennen, dass sie sehr wohl den richtigen Mann vor sich hatte.

„Sie haben nie von einer Sina gesprochen“, sagte er misstrauisch.

„Das kann durchaus sein. Doch Ihr könnt mir glauben, wenn ich Euch sage, dass mir Luna wie eine Tochter am Herzen lag. Ich muss einfach wissen, was ihr und den Ihren widerfahren ist.“

Mateos Menschenkenntnis sagte ihm, dass die Fremde vertrauenswürdig war. Und selbst wenn er sich irrte: Arno war tot und Luna und den Kindern konnte sie sicher auch nicht mehr schaden. Langsam trat er zur Seite und bat sie ins Haus. Sina dankte und nahm auf dem angebotenen Schemel Platz.

„Wir wissen selbst nicht genau, was passiert ist. Arno und ich waren an jenem Tag auf dem Markt. Dort tauchten plötzlich Soldaten auf und stellten Fragen nach einer Frau, deren Beschreibung auf Luna passte. Angeblich suchte man sie wegen Hexenzeugs und so. Doch uns war klar, dass unsere Luna nicht so eine war. Wir leugneten, die beschriebene Frau zu kennen. Nur dieses kleine niederträchtige Biest, die Tochter des Schmieds, hat ihr Schandmaul nicht halten können. Als Arno bemerkte, dass die Soldaten aufbrachen, ritt er selbst davon, um Luna und die Kinder zu warnen ...“

„Die Kinder?! Ihr meint den Jungen, Ammon“, unterbrach ihn Sina verwundert.

„Ihn und die kleine Fanida. Ein wunderschönes kleines Ding. Ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten und genauso klug ...“ Er schluckte und wischte sich verlegen eine Träne aus dem Augenwinkel.

„Sie hatte eine Tochter?“, rief Sina überwältigt von der Neuigkeit.

„Ja, sie und Arno waren schon bald nach der Hochzeit in froher Erwartung.“

Sina ließ die Neuigkeit sacken. Als sie sich wieder gefangen hatte, fragte sie: „Und was geschah dann?“

Sein Blick ging ins Leere und verfinsterte sich. „Als wir hier ankamen, war schon alles zu spät. Die Hütte brannte lichterloh und keiner schien überlebt zu haben. In den Trümmern fanden wir am nächsten Tag jedoch nur die verkohlten Überreste von Arno. Wir begruben ihn hinter der Hütte. Von den anderen Dreien fehlte jede Spur. Wir vermuten, dass die Soldaten sie verschleppt haben.“

Sina überlegte einen Moment, ob sie ihm von Fineas Schicksal erzählen sollte, wollte ihm aber die Hoffnung nicht nehmen, dass sie am Leben war. Obendrein hielt sie es für besser, wenn er die wahren Hintergründe der ganzen Geschichte nicht erfuhr. Noch immer hatte das Leben von Ammon oberste Priorität. Jeder weitere Mitwisser in dieser Sache wäre eine Gefahr. Ihre Gedanken überschlugen sich. Was war mit den Kindern geschehen? Sie war sich sicher, dass das Blutsiegel nicht log, wenn es Ammons Zustand als unbedenklich anzeigte. Doch was war mit dem Mädchen? Von dem Kerkerwärter hatte Sina erfahren, dass Finea wohl überzeugt davon war, die einzig Überlebende zu sein. Also waren die Kinder auch nicht bei ihr, als man sie mitnahm.

„Könnt Ihr mir die Reste der Hütte zeigen, in der sie gewohnt haben?“, fragte sie den Alten.

„Das kann ich wohl. Jedoch nicht mehr heute. Ich kann Euch ein Lager herrichten und morgen, bei Tageslicht, werde ich Euch hinführen.“

Sina sah hinaus und stellte überrascht fest, dass es schon stockdunkel war.

„Das klingt vernünftig. Ich nehme Euer Angebot gern an.“

Mateo deckte den Tisch und während sie ein einfaches Mahl verzehrten, erzählte er ihr alles, was seit Arnos und Lunas Ankunft geschehen war. So erhielt Sina Einblick in das Leben ihres Schützlings und fühlte sich ihr so nah wie schon lange nicht mehr. Dankbar hing sie an den Lippen des Alten und auch ihm schien es gut zu tun, in frohen Erinnerungen zu schwelgen. Sie lachte, als er von Arnos ersten Versuchen als Fischer erzählte und wurde wehmütig, als er von der Hochzeit und der kleinen Fanida berichtete.

Sie schienen glücklich gewesen zu sein, die Vier.

Als sie später auf ihrem Lager lag, wollte der Schlaf sich nicht einstellen. Ihr wurde zum ersten Mal bewusst, dass Finea ohne ihr Zutun noch am Leben wäre. Nur auf Sinas Anweisung hin, hatte sich die junge Wächterin Lord Arko und dem kleinen Prinzen angeschlossen. Hätte sie nicht darauf bestanden, dann wäre Finea noch heute im Tempel und würde die Schriften studieren. Das Gefühl von heißem Blei breitete sich in ihrem Magen aus. Verzweifelt rollte sie sich zusammen und schluchzte in ihre Decke. Irgendwann schlief sie erschöpft ein.

 

Als sie am Morgen erwachte, war das Gefühl noch immer da. Doch sie traf eine Entscheidung. Sie würde sich ihren Schuldgefühlen nicht hingeben. Sie war die einzige Hoffnung, die die Kinder noch hatten. Wenn sie sich jetzt gehen ließ, wäre alles vergebens gewesen. Sina vergrub ihre Schuldgefühle unter der großen Aufgabe, die vor ihr stand: Um jeden Preis die Kinder zu finden. Sie war sich sicher, dass auch das Mädchen überlebt hatte. Was allerdings seither alles passiert sein konnte, wollte sie sich nicht ausmalen. Zwei kleine Kinder, allein in der Fremde ...

Mateo riss sie schließlich aus ihren Grübeleien. Sie aßen etwas Haferbrei und machten sich wenig später auf den Weg. Schon von Weitem konnte Sina die verkohlten Überreste der kleinen Hütte erkennen. Erneut machte sich das Blei im Magen bemerkbar. Doch auch diesmal gelang es ihr, dieses Gefühl zu verscheuchen. Aufmerksam betrachtete sie die schwarzen Balken und trat näher. Doch Mateo hielt sie zurück. „Vorsicht, geht nicht zu nah heran! Die Reste könnten jederzeit zusammenbrechen!“ Sie nickte und beschloss, später noch einmal allein hierher zurückzukehren. Sie wusste nicht, wonach sie suchte, aber sie wollte nichts unversucht lassen. Sie pflückte ein paar Blumen von der benachbarten Wiese und legte sie auf Arkos Grab. Lange sah sie auf die gemeißelte Inschrift des Grabsteines. Dort stand der Name 'Arno'. Lord Arko würde also für immer unter falschem Namen in der Erde ruhen. Doch das war nicht schlimm. Hier war er glücklich gewesen. Als Arno hatte Finea ihn zum Vater gemacht ...

Nur schwer konnte Sina sich losreißen.

Zunächst begleitete sie den Alten wieder zurück. Dort packte sie ihr Bündel und bedankte sich für seine Hilfe. „Ich muss aufbrechen. Es war sehr freundlich von Euch, mir Obdach und Essen zu geben. Ihr sollt allzeit gesegnet sein.“ Mit diesen Worten verließ sie ihn und begab sich offiziell auf den Heimweg. In Wahrheit änderte Sina die Richtung, sobald sie außer Sichtweite war.

Eilig begab sie sich zu der Ruine und zögerte nicht lange, bevor sie in deren Inneres vordrang. Lange suchte sie in der Asche herum und fragte sich mehrfach, wonach. Was wollte sie hier finden? Dann plötzlich brach sie mit dem rechten Fuß durch die verkohlten Holzdielen. Ein Schmerzensschrei entfuhr ihr und mühsam zog sie das Bein aus dem Loch. Als sie das Brett schließlich entfernt hatte, stellte Sina erstaunt fest, dass sich der Erdboden keineswegs wie üblich eine Elle darunter befand. Das Loch war wesentlich tiefer. Als sie der Sache nachging, entdeckte sie den kleinen Tunnel. Sie kroch hinein und folgte ihm bis zum Ausgang. Sie wusste noch immer nicht, warum Finea so fest davon überzeugt gewesen war, dass die Kinder tot seien. Alles, was Sina hier sah, wies daraufhin, dass die beiden durch diesen Fluchtweg entkommen sein mussten. Wahrscheinlich hatten sie dann beobachtet, wie die Soldaten ihre Mutter verschleppten und sind ihnen gefolgt. Irgendwo, zwischen hier und Isfadah, musste sich ihr Schicksal entschieden haben. Sie wusste, dass die Suche nahezu aussichtslos sein würde, aber es war die einzige Chance.

Sandor

Sandor erwachte, als der lange durchdringende Ton des Weckhorns erklang. Schnell erhob er sich und war, wie fast jeden Morgen, der Erste, der sich in Marschbereitschaft befand. Nur einen Moment später war auch Kossmo so weit. Abschätzend trafen sich ihre Blicke. Schon vom ersten Tage an standen die beiden Knaben in direkter Konkurrenz zueinander. Dabei hätten sie, rein äußerlich, Brüder sein können. Beide hatten dunkles Haar und braune Augen, nur waren Kossmos noch eine Nuance dunkler als Sandors. Doch im Charakter unterschieden sie sich völlig. Während Sandor, trotz seines Ehrgeizes, seine Kameraden nicht vergaß, war Kossmo ein verschlossener Einzelgänger. Man sah den Jungen selten lächeln und er sprach kaum ein Wort.

Da den kleinen Draconen kaum freie Zeit gewährt wurde und Unterhaltungen während der Ausbildung nicht gestattet waren, gab es kaum die Möglichkeit, Freundschaften zu schließen. Und doch fanden die Knaben den ein oder anderen Weg, so etwas wie kameradschaftliche Nähe zuzulassen. Das gemeinsame und allem übergeordnete Ziel war es, der großen Sache zu dienen. Sie sprachen sich gegenseitig Mut zu, wenn die Kräfte zu schwinden drohten. Mancher schmuggelte schon mal einen Kanten Brot für jene, die mit Nahrungsentzug bestraft wurden, weil sie beispielsweise das Ausbildungsniveau nicht schafften. Erwischten die Ausbilder jedoch jemanden dabei, erwarteten den Schmuggler, ebenso wie dessen Begünstigten, heftige Strafen. Es wurden den Knaben nicht nur die kompletten Nahrungsrationen gestrichen, sondern sie mussten auch dursten … zwei Tage lang. Obendrein befahl man ihnen, eine Nacht hindurch stehenzubleiben. Das Ganze unter freiem Himmel und nur mit einem Lendenschurz bekleidet …

Da die Kinder einem extrem harten Trainingspensum ausgesetzt waren, fehlte ihnen danach jede Kraftreserve und sie brauchten lange, um wieder mit den anderen mitzuhalten. Und dies war am Ende für sie die größte Strafe, denn für jeden von ihnen war es das Wichtigste, mit ihrem Leben dem König zu dienen und ihm Ehre zu machen. Es war eine Schmach, den Anforderungen nicht zu genügen und demütigte sie bis ins Mark.

Sandor war von Anfang an einer der Besten gewesen und hatte schnell seinen Namen erhalten – einen Tag nach Kossmo. Dessen Namensverleihung hatte ihn zu größtmöglichen Leistungen angespornt und ungeahnte Kraftreserven freigesetzt. Wie in Trance hatte er alle Hindernisse überwunden, ohne sich über eventuelle Gefahren Gedanken zu machen. Danach hatten ihn alle mit derselben Bewunderung im Blick angesehen wie Kossmo. Das hatte ihn mit großem Stolz erfüllt.

Doch nicht bei allen lief es so gut. Noch heute, zwei Monate nach ihrer 'Wiedergeburt', gab es zwei Knaben in ihren Reihen, die namenlos waren. Die Ausbilder machten diesen das Leben zur Hölle und nannten sie 'Schwächlinge', 'Dreck' oder 'Nichts'. Sandor litt innerlich jedes Mal mit ihnen. Er tadelte sich selbst dafür, dass er zu weichlich war. Kossmo hingegen schien das alles nicht im Geringsten zu interessieren. Er sah dem täglichen Schauspiel ohne jede sichtbare Regung zu. Er war bei allen Ausbildern der beliebteste Knabe. Gefühle wollte hier schließlich keiner haben.

Trotz der widrigen Umstände, in denen die Kinder lebten, waren sie alle, ohne Ausnahme, stolz darauf, hier zu sein. Sie kannten ja nichts anderes mehr. Es gab nichts Höheres für sie, als ihren geliebten König und Vater. Sie wollten ihn stolz machen. Darum fühlten sich die Namenlosen nicht etwa ungerecht behandelt, sondern verzweifelten an ihrer eigenen Unzulänglichkeit. Sie schämten sich dafür. Sandor seinerseits war stolz, zu den Besten zu gehören. Vor allem, wenn es ihm gelang, besser zu sein als Kossmo, erfüllte ein Gefühl des Triumphs seine kleine Brust.

An die kalten Nächte hatten sich inzwischen fast alle gewöhnt. Kaum einer von ihnen zitterte noch, wenn er sich auf seinem kargen Lager zusammenrollte. Auch mit dem harten Boden hatten sie sich wohl oder übel arrangiert.

Jetzt ging gerade die Sonne auf und auch der Letzte war inzwischen auf den Beinen. Doch für diesen Bedauernswerten würde es kein Frühstück geben. So sagten es die Gesetzte. Der Letzte bei etwas zu sein - zu verlieren - wurde immer bestraft.

Schweigend setzte sich ihr Trupp in Bewegung. Über dem Feuer hing, wie jeden Tag, der große Topf mit der ungenießbaren Pampe. Doch die verblendeten Knaben waren dankbar für jede Mahlzeit, die der großmütige König und Vater ihnen spendete. Auch Sandor hielt seine Schüssel hin und sah zu, wie der Brei aus dem Schöpflöffel in das schlichte Gefäß wechselte und dabei ein widerlich klatschendes Geräusch verursachte. Eilig begab er sich an seinen Platz und setzte sich mit gekreuzten Beinen auf den Boden. Nur das dumpfe Geklapper der hölzernen Löffel war zu hören. Sie aßen zügig, denn sobald der Ausbilder das Wort erhob, mussten sie ihre Mahlzeit beenden.

„Geschirr säubern!“, rief dieser auch schon in gewohnt barschem Ton. Alle sprangen auf und reihten sich in die Schlange vor dem Eimer ein, der zum Abspülen der Schüsseln und Löffel diente. Wer das erledigt hatte, brachte seine Utensilien rasch an seinen Schlafplatz zurück und stellte sich dann gemeinsam mit den anderen in Formation auf. Den Blick auf den Boden gesenkt harrten sie der Anweisung des Ausbilders. Der ihnen zugeteilte Anführer war Tiron, ein Mann von etwa dreißig Jahren. Er hatte dunkelblondes langes Haar, das er zu einem Zopf geflochten trug und kalte blaue Augen. Sein muskulöser Oberkörper glänzte in der Sonne. Jeder der Jungen wollte eines Tages so stark sein wie er. Tiron war stets streng zu allen seinen Zöglingen. Heute schien er jedoch besonders schlecht gelaunt zu sein.

„Euretwegen hat mir mein Frühstück nicht geschmeckt!“, rief er ihnen entgegen. „Ich habe erfahren, dass es bei den anderen Einjährigen keine Namenlosen mehr gibt. Das heißt, dass sich die letzten Versager hier, unter uns, befinden. Ich sehe das als persönliche Beleidigung für mich und unseren König an. Darum habe ich Folgendes beschlossen: Heute werden wir das ändern!“ Er machte eine Pause und ging die Reihen ab. Dann ließ er die beiden Namenlosen vortreten.

Langsam umkreiste er die Bedauernswerten. „Seht sie euch an! Sie sind der Abschaum in euren Reihen!“ Erneut folgte eine unangenehme Pause. „Ihre Schmach ist auch die eure! Es wird Zeit, dass ihr mir dabei helft, diesem Bataillon zu seinem Ansehen zurückzuverhelfen. Heute werdet ihr erst aus dem Training entlassen, wenn diese beiden Schlappschwänze hier ihre Namen haben. Also seht zu, dass ihr sie ordentlich motiviert!“ Verachtung lag in seiner Stimme, Verachtung lag in seinem Blick. Es war ebenfalls Verachtung, die sich in die Blicke der zahlreichen Augenpaare schlich, die nun gleichermaßen an den zur Schau gestellten Knaben hingen.

„Wir beginnen mit einem Lauf am Zaun entlang. Sagen wir fünf Runden. Und ihr sorgt mir dafür, dass diese beiden Versager hier die Distanz ohne Stopp zurücklegen! Anderenfalls werden die sich schön ausruhen, während ihr weiterlauft, bis es dunkel wird.“ Er sah sie alle drohend an, bevor er das Kommando brüllte. „Los!“

Fünf Runden würden nicht nur für die beiden Knaben sehr schwer zu schaffen sein, die noch keinen Namen hatten, sondern für beinahe jeden hier. Die Strecke war mit etlichen Hindernissen versehen, die es zu bezwingen hieß. Es galt Gruben zu überwinden, Barrikaden zu überklettern, Seile entlangzuhangeln und vieles mehr. Jedes einzelne Element kostete Kraft. Sie kamen an den Ausbildungsplätzen der älteren Jahrgänge vorbei. Die Fünfjährigen hatten gerade Zweikampftraining. Sandor blickte sehnsüchtig zu ihnen hinüber. In fünf Jahren wären sie kampfbereit. Wenn er doch schon so groß und muskulös wäre und so gut mit einer Waffe umgehen könnte. Sein Ziel stand ihm klar vor Augen. Irgendwann wollte er ein großer Anführer der Draconen werden. Ein Mann, zu dem die anderen aufsahen und dessen Befehle sie wortlos befolgten. Doch dazu brauchte er das Vertrauen aller, auch der vermeintlich Schwachen. Er ließ sich absichtlich zurückfallen, um in der Nähe der beiden Namenlosen zu sein. Zu seiner Verwunderung tat Kossmo dasselbe. Doch bald wurde klar, dass sie zwar das gleiche Ziel verfolgten, jedoch sehr unterschiedliche Strategien hatten. Während Sandor den Kameraden leise Mut zusprach, setzte Kossmo sie permanent unter Druck. Es dauerte nicht lange und sie begannen sich gegenseitig lauthals anzuschreien und bald auch handgreiflich zu werden. Das blieb natürlich auf Dauer nicht unbemerkt. Sie mussten, nachdem sie endlich die komplette Strecke absolviert hatten, vor ihrem Ausbilder antreten. Dabei schien ihm egal zu sein, dass auch die beiden 'Problemfälle' die Distanz erfolgreich absolviert hatten.

Die anderen fuhren in ihrem Trainingsplan fort, während Tiron die zwei Kampfhähne anbrüllte: „Was bildet ihr kleinen Würmer euch ein? Glaubt ihr, nur weil ihr bisher die besten Ergebnisse erzielt habt, dass euch irgendwelche Sonderrechte zustehen? Irrtum!“ Er nahm sie bei den Handgelenken und führte sie zu zwei Pfählen, die etwa vier Meter in die Höhe ragten, dreißig Zentimeter im Durchmesser maßen und knapp einen Meter voneinander entfernt standen. „Ich will euch zeigen, was es heißt, für den Mann an seiner Seite einzustehen. Ein guter Dracone denkt immer zuerst an die große Aufgabe. Mit aller Härte gegen sich und andere, aber ausschließlich mit dem Ziel der Sache zu dienen, zu der er auf der Welt ist. Dabei geht es nicht um euch kleine Schmarotzer und eure Eitelkeit. Das Ziel ist ein Draconenregiment, vor dem die Feinde unseres Königs erzittern. Nur dafür seid ihr am Leben. Allein seid ihr Nichts. Und ihr beiden eitlen Zwerge wäret die Ersten, die auf dem Schlachtfeld in ihre Einzelteile zerlegt und verbluten würden. Ihr habt sicher gute körperliche Grundlagen, um es hier weit bringen zu können, aber ihr seid euch selbst zu wichtig! Nur in bedingungsloser Einheit mit euren Kampfgefährten seid ihr von Wert. Eine Kette ist immer nur so stark, wie ihr schwächstes Glied. Und ihr und eure Kameraden seid die Kette, die künftig den Thron unseres Königs und Vaters an seinem Platz halten soll. Wie wollt ihr seine Ehre und sein Leben verteidigen und seine Macht vergrößern, wenn ihr euch selbst wichtiger seid, als er und sein Wohlbefinden?“ Obwohl er so dicht vor ihnen stand, dass feine Spucketröpfchen ihre Wangen trafen, brüllte er wie ein wütender Löwe. „Bevor die Sonne untergeht, werdet ihr es begriffen haben. Denkt über meine Worte nach! Ihr bleibt solange da oben, bis einer von euch freiwillig aufgibt oder aber einer herunterfällt.“

 

Er befahl ihnen, die Pfähle zu erklimmen und sich aufrecht hinzustellen.

Es erwies sich als äußerst schwierig, an den glatten Stämmen hinaufzuklettern. Beinahe zeitgleich gelang es ihnen jedoch irgendwann. Von der Anstrengung geschwächt richteten sie sich wacklig auf. Von oben sah alles tiefer aus, als erwartet. Die Sonne stand schon hoch am Himmel und brannte heiß auf sie herab. Sandor fixierte einen Punkt in der Ferne, den er anstarren konnte, um so besser sein Gleichgewicht zu halten. Je weiter die Zeit fortschritt, desto schwieriger fiel es ihm.

Kossmo schien es zu bemerken. „Na, wackelst du, Schwächling?“

Sandor ging nicht darauf ein. In der Tat schien es Kossmo leichter zu fallen, die Balance zu halten. Doch mit der Zeit begannen beide zu schwanken. Es verging eine Ewigkeit. Oder fühlte es sich nur so an? Der Mund wurde ihnen trocken, die Sonne versengte ihre Haut und Schweiß rann in Rinnsalen über ihre Körper. Sie bemerkten nicht, dass sich unten inzwischen all ihre Kameraden versammelt hatten.

Als Kossmo irgendwann drohte, das Gleichgewicht zu verlieren, zischte Sandor ihm zu: „Wir werden nicht mehr lange durchhalten. Wer hier abstürzt, bricht sich den Hals oder ist für das Heer auf alle Zeit unbrauchbar. Willst du das etwa?“ Als keine Antwort kam, sprach er weiter: „Strecke deine Hände zu mir rüber! Wenn wir einander festhalten, sind wir stabiler.“ Doch Kossmo wollte nicht zugeben, dass auch er schwächelte und sagte nur: „Ich denke nicht daran!“

Sandor zuckte kurz mit den Schultern. „Dann brich dir doch den Hals, du Trottel!“ Und wieder verging eine gefühlte Ewigkeit. Jeder angespannte Muskel schmerzte. Doch ihr Stolz war ungebrochen. Kossmo begann gefährlich zu schwanken. Gerade, als er nach vorn kippte, ließ sich auch Sandor leicht nach vorn fallen, so dass er ihn an den Schultern zu fassen bekam. Kossmo, der durch den Schreck wieder wach zu werden schien, stemmte seine Hände ebenfalls gegen die Schultern des Anderen. So erhielten sie Halt und konnten sich etwas erholen. Gemeinsam balancierten sie sich aus und passten sich einander an. Sie wurden eins. Zu schwach, um miteinander zu reden, reagierten sie instinktiv auf jede noch so kleine Bewegung des Anderen und verharrten in ihrer krampfhaften Umarmung.

Als der Ausbilder schließlich davon überzeugt war, dass sie ihre Lektion gelernt hatten, ließ er zwei Fünfjährige zu ihnen hochklettern und ihnen Seile um die Leiber binden. Dann wurden Haken in die Pfähle geschlagen und die völlig entkräfteten Jungen abgeseilt. Ihre Muskeln waren inzwischen so versteift, dass sie sich noch aneinander festhielten, als sie unten aufkamen. Tiron befahl allen Schaulustigen, sich zurückzuziehen. Dann trat er an die noch immer regungslosen Knaben heran und goss einen Eimer Wasser über ihnen aus, bevor er sich entfernte. Durch den Schreck, den der kalte Guss bei ihnen auslöste, ließen sie einander schließlich los. So lagen sie noch eine Weile da.

„Danke!“, sagte Kossmo schließlich leise. „Ohne dich wäre ich jetzt vielleicht schon tot.“

Sandor schnaufte: „Falls dich das beruhigt, ich wäre dir direkt gefolgt. Mit dir habe ich letztendlich auch mich gerettet.“

Kossmo sah kurz zu ihm herüber. „Reiner Egoismus also. Dann bist du ja scheinbar doch nicht so dumm, wie ich geglaubt habe.“

Für einen Moment war es still, doch dann begannen beide Knaben zu lachen und hörten erst damit auf, als Tiron sie schimpfend in ihre Quartiere jagte. „Seht zu, dass ihr hier wegkommt! Und eure Abendration ist gestrichen!“

Die Jungen sahen nicht, dass es um die Mundwinkel des sonst so harten Mannes für einen kurzen Moment zuckte. Doch schon einen Wimpernschlag später kehrte der gewohnt kalte Ausdruck in seine Züge zurück.

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