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Jenseits von Oberhessen XXL Leseprobe

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Märgi loetuks
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Hatte sich etwa nicht viel geändert seit 1913?

Liefen Frauen noch immer Männern hinterher, die ihrerseits nur zwei Dinge wollten? Erstens: Nähe, wann SIE es brauchten. Zweitens: Abstand, wenn SIE es brauchten.

Hatten wir nichts dazu gelernt? Blieb alles so, wie es immer schon war? War das am Ende genetisch festgelegt und alle Müh‘ vergebens? Oder hatte sich die Natur all das nur ausgedacht, um die Art zu erhalten? Ein bisschen Liebe? Und kein bisschen Frieden zwischen den Geschlechtern? Zumindest nicht, solange noch kein Nachwuchs in Sicht war. Danach sah die Sache doch ganz anders aus. Die Frauen waren beschäftigt mit der Aufzucht der Brut, die Männer hatten ihr Soll vorerst erfüllt und konnten sich wieder anderen Dingen zuwenden (ein Objekt der Begierde suchen, um das nächste Soll zu erfüllen…).

Man könnte es auch wieder mit der Großwildjagd vergleichen.

Naja, wenigstens war diese Karen Blixen Baronin geworden und hatte einen ordentlichen Titel, wenn es schon mit der Liebe nicht so recht klappen wollte. Lina jedoch war nicht einmal „Frau Johannsen“ geworden. Und würde es vermutlich niemals werden. Dabei hatte sie in ihren kühnsten Träumen noch gedacht, heiße Fleischwurst mit Kakao wäre nicht das einzige, was Jan ihr zur Wiederversöhnung versprochen hätte. Aber Fehlanzeige. Das Einzige, was Jan ihr wirklich in Aussicht gestellt hatte, war heiße Luft in Formvollendung. Nichts als heiße Luft.

Auch Papa und Mama Siebenborn waren nicht sonderlich begeistert gewesen, dass auf die Versöhnung (und insbesondere nachdem der „Fischkopp“ auf einmal zu Reichtum und Berühmtheit gelangt war) nicht schon bald der obligatorische Heiratsantrag gefolgt war. Und das, nachdem Lina diesen armen Maler jahrelang durchgefüttert hatte…

Im mittelalterlichen Büdingen war niemand darüber „amused“. Dabei hatte Papa Siebenborn sogar noch öfter ausdrücklich „Jan“ zu seinem vermeintlichen Schwiegersohn in spe gesagt. Laut und deutlich, damit klar war, dass er ihn endlich als Beinahe-Familienmitglied akzeptiert hatte. Vorher war er nämlich nur der „Fischkopp“ für ihn gewesen, der Hamburger Künstler, der immer klamm war und sich von seinem Töchterchen aushalten ließ. Aber nachdem im ersten und auch im zweiten Frühjahr nach der besagten Versöhnung kein Antrag erfolgt war, kehrte auch Papa Siebenborn wieder zu seiner alten Gewohnheit zurück. Und hatte Jan Johannsen aus Hamburg-Eppendorf wieder zum Fischkopp werden lassen. Seitdem war das Fischbeil wieder ausgegraben…

Mama Siebenborn hatte nichts dazu gesagt. Es vornehm ignoriert, dass ihr Mann wieder den alten Spitznamen ausgegraben hatte. Aber allein die Tatsache, dass sie nicht darüber meckerte, zeigte, dass auch sie enttäuscht war vom Lebensabschnittsgefährten ihrer einzigen Tochter. Anscheinend war der Traum von Enkelkindern für Margot Siebenborn somit endgültig ausgeträumt. Und sowas musste ja auch erst einmal verarbeitet werden…

*

In Schotten lag Jan tatsächlich gemütlich auf seinem neuen Sofa. Er hatte die arbeitsfreie Zeit zwischen den Jahren genossen. Herumgelümmelt, mit Asta geschmust, am Stausee spazieren gewesen. Eigentlich hatten sie den Silvesterabend zusammen verbringen wollen. Fast hätte er schon seine Sachen gepackt. Und Astas Sachen auch. Aber dann wurde nichts draus, der Wettervorhersage sei Dank. Ihm war sowieso mehr nach Schlaf in seinem neuen Zuhause. Naja, so ganz neu war es nun nicht mehr. Aber ziemlich neu. Er hatte es fast vollständig neu renoviert bezogen, rechtzeitig vor Weihnachten – das er mit Lina gebührend gefeiert hatte. Und irgendwie war das auch genug für seinen Bedarf an Zweisamkeit gewesen. Die letzten beiden Jahre hatten sie viel erlebt, waren fast ständig zusammen. Er hatte alles, was er sich immer gewünscht hatte: seine Herzdame Lina und die treue Hündin Asta, nicht zu vergessen Tonja, seine Freundin von gegenüber – und als Sahnehäubchen immer gut gefüllte Auftragsbücher.

Die Wartezeiten für Gemälde gingen inzwischen ins kommende Jahr. Aber den Kunden war das egal. Wahrscheinlich erhofften sie sich immense Wertsteigerungen. Wenn auch nicht für sie, dann vielleicht für ihre Kinder, oder Kindes-Kinder. Oder deren Nachfahren. Egal, Hauptsache Rendite!

Und sein Buch lief ebenso bombig. Zudem hatte er die attraktivsten Malschülerinnen aller Zeiten in seinen Kursen. Die Herzen der Pinselschwingerinnen flogen ihm nur so zu! Was konnte ein Mann mehr vom Leben erwarten? Ihm fiel nichts ein. Außer ein bisschen Freiheit. Aber die hatte ihm die Blitzeisankündigung vom Spätnachmittag heute beschert.

Thanks, Petrus! Und diesmal meinte er nicht den berühmten Wein…

Jan Johannsen fühlte sich sauwohl in Schotten. Das Städtchen am Fuße des Vulkans hatte es ihm von Anfang an angetan. Und auch das Abendessen mit Tonja wollte er nie mehr missen. Sie kochte noch immer seine Lieblingsgerichte: Vogelsberger Blutwurst, gebacken, mit Bratkartoffeln und Apfelbrei, gelben Bohnensalat mit Salzkartoffeln und Rührei, Frikadellen mit grünen Bohnen und Kartoffelbrei, Puffer mit Apfelbrei, knusprige Bratkartoffeln mit Spiegelei und samstags heiße Fleischwurst. Mit heißem Kakao dazu. Das war zum schönen Ritual geworden. Genau wie zu der Zeit, als er bei ihr im Dachjuchhee als Untermieter gewohnt hatte. Damals, als er bei Lina rausgeflogen war. Und zwar im hohen Bogen. Sie hatte ihm ein Verhältnis mit Tonja unterstellt. Nur weil er sie, die eigentlich seine Heilpraktikerin war – nicht mehr und nicht weniger - ein paar Mal nackt gemalt hatte. Und das auch nur aus seiner Phantasie heraus. Nichts war dran gewesen an ihren Beschuldigungen.

Aber noch heute, wo er mit Lina wieder vereint war, wenn auch nicht räumlich, kam manchmal ein schales Gefühl in ihm auf, wenn er darüber nachdachte: Betrug, Fremdgehen, Lügen. Das hatte sie ihm vorgeworfen. Er fand noch immer, dass das eine Frechheit sondergleichen war. Er, der Sensible! Für ihn war Fremdgehen ein absolutes No-Go. Das hätte sie doch wissen müssen. So ganz war er noch immer nicht darüber hinweggekommen. Ein komisches Gefühl blieb – und ging nicht fort.

Vielleicht war das der eigentliche Grund, weshalb er lieber mit Asta auf seinem neuen Sofa bleiben wollte?

Sie war schon ein bisschen eingeschnappt gewesen, vorhin, als er ihr gesagt hatte, dass er lieber auf seinem Berg bleiben wollte. Aber es war ihm egal. Noch immer war er superhappy über all das, was ihm im letzten Jahr passiert war. Und sein Häuschen, dieses schnuckelige Fachwerkstück, das wollte er jeden Tag, jede Stunde, jede Minute genießen. Es war sein erstes Zuhause, was ihm und nur ihm gehörte. Und in Asta, der zutraulichen Mischlingshündin, die Opa Abbel ebenso hinterlassen hatte wie sein kleines Häuschen, hatte er eine Gefährtin gefunden, die nahezu immer genau zu den Sachen Lust hatte, die er vorschlug. Widerworte gab es da weniger. Ein klarer Vorteil in der Mensch-Hund-Beziehung.

Vielleicht ging er nachher noch auf einen Neujahrstrunk zu Tonja herüber. Lina wäre stinksauer, wenn sie das wüsste. Trotz aller Harmonie, so ganz koscher war die Beziehung der beiden Damen um Jan noch immer nicht. Eigentlich kein Wunder. Aber offiziell war man sich natürlich supergrün…

In dem Moment klingelte es an der Tür. Asta bellte freudig. Sie hatte den Besuch am Schritt erkannt. Es war Tonja mit einer Flasche Sekt. Aha, verfrühtes Anstoßen, dachte Jan. Na denn.

*

In Bad Salzhausen klingelte es auch, aber am Telefon. Es war Mama Siebenborn, die die Stimme ihrer Lina noch einmal im alten Jahr hören wollte: „Du bist doch nicht etwa alleine an Silvester? Wo ist denn Jan schon wieder? Ist er am Ende wieder krank?“ Das war das reinste Öl ins Feuer, was ohnehin schon brannte! Ja, da biss die Maus keinen Faden ab: Fast immer, wenn sie anrief, hieß es: Jan ist nicht da. Er braucht seine Ruhe. Hat viel zu tun. Muss malen, hat Stress, dem geht es gerade nicht so gut. Et cetera pp.

Aber Margot Siebenborn war nicht blond. Nein, sie war grauhaarig und somit schon ein paar Tage länger auf der Welt. Lange genug zumindest, um zu merken, dass hier der Fischkopp ganz schön zu stinken anfing, und zwar am Kopp…

Also, ganz im Ernst: Schön ist was anderes.

Der Sonne hinterher

Nach dem verkorksten Silvester befand Lina, dass sie dringend mal „vor die Haustüre“ musste. Ihr Café hatte praktischerweise drei Wochen Betriebsferien – und sie war ebenfalls urlaubsreif. Abstand gewinnen, den Kopf klar kriegen, das wäre wohl angesagt. Nein, sie musste es zähneknirschend zugeben: Es war nicht die beste aller Ideen gewesen, am Silvesterabend mehrfach in desolatem Zustand (um das Wort „sternhagelvoll“ in dem Zusammenhang zu vermeiden!) bei Jan anzurufen, um völlig hirnloses Zeug auf den Anrufbeantworter zu sprechen – wobei Sprechen nicht unbedingt die geeignete Beschreibung für ihre Verbalentgleisung sein konnte, es war wohl eher Labern mit schwerem Zungenschlag. Voll peinlich. Was genau der Inhalt des Lamentos war, konnte Lina nur noch anhand der um 3.17 Uhr (!!!) abgeschickten Frust-Email erahnen, die voller Beschimpfungen und Ausraster (und Rechtschreibfehler!) gewesen ist. Frei nach dem Motto: „Nie hast Du Zeit für mich, nie kann man was mit Dir anfangen, schon gar nicht an Wochenenden oder Feiertagen, unter der Woche aber auch nicht, da musst Du ja diese ganzen langhaarigen Weiber mit ihren noch längeren Beinen unterrichten – oder wie der Bosbach durch alle Talkshows tingeln. Außerdem hältst Du mich sowieso nur hin, im ganzen Leben heiraten wir doch nie mehr, nie hast Du auch nur einmal gesagt, dass Du gerne mit mir alt werden würdest, nie, nie nie. Und von Kindern auch kein Wort von Dir, wahrscheinlich kann ich mir das sowieso bald abschminken. Dann bin ich nämlich dummerweise zu alt zum Schwangerwerden…

 

Dabei wusste sie doch aus unzähligen Frauenzeitschriften, dass jeder Paartherapeut heutzutage vehement davon abriet, das Wort NIE in Verbindung mit Vorwürfen an den Partner auszusprechen. Vollkommen kontraproduktiv. Aber wer weiß das noch im vollen „Kopp“ – in einer einsamen Silvesternacht? Ein Wunder, dass die Endungen zumindest im Schriftlichen noch vorhanden waren. Die Aufzeichnungen von Jans Anrufbeantworter hätte Lina nicht hören mögen, nicht im nüchternen Zustand. Das musste schon ziemlich daneben gewesen sein.

Oh, oh… Seitdem war wieder mal Funkstille zwischen ihr und ihrem nicht angetrauten Jan. Keine schlechte Ausgangssituation, um mal schnell die Biege zu machen und das Weite zu suchen. Und am allerliebsten auch das Warme, zumindest in Form einer luxuriösen Hotelsauna, denn es war inzwischen doch „arschkalt“ geworden, was Lina gar nicht behagte. Auf einmal, kurz nach Weihnachten, hatte sich der Winter wohl doch noch daran erinnert, warum er eigentlich Winter heißt. Und was ihn von den anderen Jahreszeiten üblicherweise so unterscheidet.

Zumindest ein Kurzurlaub müsste irgendwie noch drin sein, hatte sie sich überlegt. Ihren ursprünglichen Plan, die Ostsee von Travemünde bis Swinemünde abzugrasen, ganz gemütlich mit dem Auto, sozusagen aufs Geratewohl und ohne die üblichen Touristenströme wie im Sommer, könnte sie sich jedoch abschminken. Dabei hätte es so schön sein können. Im Winter war es oben an der Küste am allerbesten, das wusste sie aus Erfahrung. Außerdem wären sie vielleicht noch bei seiner Mutter und ihrem netten Italiener in Hamburg vorbeigeschneit und auf einen Drink in ihrem Lieblingshotel an der Alster abgestiegen. Aber das war jetzt auch Geschichte, befürchtete Lina.

Bei Jan brauchte sie jetzt wohl nicht mehr anzukommen, schon gar nicht mit der einst noch in vollkommener Harmonie geschmiedeten Reiseidee. Er schmollte ja jetzt in Hochform und hatte ansonsten die Läden heruntergelassen, sinnbildlich. Aber allein würde sie auch nicht wegfahren, sie kannte sich. Also, musste Plan B her: Urlaub unter Freundinnen! Na klar, das war doch die Lösung. Ein Trip mit den Mädels, super!!! Wann hatten sie auch das letzte Mal so richtig Zeit miteinander verbracht? Ohne, dass eine von ihnen schon zu Beginn des Treffens auf die Uhr – oder noch schlimmer, das Smartphone – schaute, frei nach dem Motto: Ich bin jetzt schon im Stress, hab‘ eigentlich gar keine Minute Luft, nicht mal für ein Mädelsmeeting.

Lina sehnte sich schon seit Längerem danach, mal wieder richtig einen abzuquatschen, wie sie es nannte. Wäre doch super, so ein paar Tage (und Nächte!) im Kreise der legendären Flaggenmädels, wie sie sich aufgrund ihrer Haarfarben nannten, die mit viel Phantasie die Deutschlandflagge plus Fahnenstange darstellten: Susi (schwarz), Ines (rot), Lina (gold) und Marie-Anne (metallic-grau). Das unschlagbare Vierer-Team seit nunmehr über zwanzig Jahren - wohlgemerkt, lange, bevor irgendjemand an „Sex and the City“ auch nur gedacht haben konnte! Sowas musste einem erst einmal jemand nachmachen. Das war doch mehr, als so manche Beziehungskisten oder Ehen zeitlich auf die Reihe bekamen, fand Lina.

Aber in letzter Zeit war es sehr still geworden, manchmal dachte sie schon, das war’s bald mit der Vierer-Bande. Jede ging ihrer Wege, jede hatte ihr eigenes Päckchen zu tragen: Susi Lustig, die rasende Reporterin vom Hessenfunk, war tatsächlich nach ihrer Scheidung wieder superglücklich mit ihrem einstigen Ex-Mann Jochen, Marie-Anne kämpfte immer häufiger mit gesundheitlichen Problemen und musste in ihrem Fußpflege-Studio so manchen langen Arbeitstag unter Schmerzen ihre Frau stehen – und Ines war beruflich stark engagiert, sie hatte ja Linas stressigen Chefsekretärinnenjob „geerbt“ – und zu alldem auch noch eine ernsthafte Rund-um-die-Uhr-Beziehung, denn ihr Siegbert war Boss und Lover in Personalunion.

Keine der Flaggenmädels konnte sich also über Langeweile beklagen, am allerwenigsten Lina selbst. Doch gerade aus diesem Grunde war sie der Meinung, eine Auszeit täte doch allen gut.

Also haute sie Folgendes in die Tasten:

Hi Mädels,

erst einmal PROSIT NEUJAHR, Ihr Lieben. Für das Neue Jahr 2015 alles Liebe, viel Glück und was Ihr sonst noch so gebrauchen könnt. Ich hoffe, Ihr habt es gut angefangen. Auf die Umstände meines komplett verkorksten Silvesters will ich jetzt mal nicht näher eingehen, da müsste man erheblich mehr Zeit einplanen. Wobei ich auch schon beim Thema wäre: Was haltet Ihr von einem gemeinsamen Mädels-Kurzurlaub? Mal wieder so richtig schön ausgiebig über alles und jenes herziehen, ohne zeitliche Begrenzung und das ewige Schauen auf die Uhr? Es gibt doch Super-Angebote, Stichwort „Freundinnen-Wellness“ und so… Muss ja nicht gleich ganz weit weg sein. Also, ich hätte Zeit.

So ein verlängertes Wochenende wäre doch was für uns?

Rückmeldungen und Vorschläge werden gerne genommen, möglichst zeitnah. Planmäßig habe ich mein ansonsten heiß geliebtes Café bis einschließlich 19. Januar geschlossen. Betriebsferien!!! Warum, fragt Ihr? Weil ich es mir verdient habe…

Also Mädels, nun mal ran, wir werden das doch gebacken kriegen, oder?

Bussis an alle und nochmals Frohes, neues Jahr!

Eure Lina

Kaum war die Nachricht verschickt, klingelte im verträumten Bad Salzhausen auch schon das Telefon. Die Frankfurter Nummer kannte Lina in- und auswendig, kein Wunder, es war ja einst ihr eigener Anschluss gewesen. Die liebe Ines, das allzeit fleißige Bienchen, hatte also ihren Dienst schon wieder angetreten. Wahrscheinlich arbeitete sie hochmotiviert alles Liegengebliebene von vor Weihnachten ab.

„Hallo, Lina!“, hauchte sie etwas außer Atem in den Hörer. „Gerade habe ich Deine Mail gelesen! Mensch, ich wollte ja die ganze Zeit schon mal anrufen, aber hier ist die Hütte wieder mal am Kacken… Püh!“ Das hörte sich nach Vollstress an, befürchtete Lina, die sich nur allzu gut noch immer an ihr erstes Leben als Chefsekretärin erinnern konnte. „Jetzt mach‘ mal langsam, Du bist ja ganz außer Puste! Und übrigens, nur mal so fürs Protokoll: Es heißt korrekterweise, hier ist die Kacke am Dampfen – dass eine Hütte kackt, habe ich ja noch nie gehört… Aber egal. Was gibt es denn so früh im neuen Jahr schon wieder an Hektik bei Dir?“

Eigentlich wollte sie es gar nicht so ganz genau wissen, aber nun stieg Ines gleich ins Thema ein: „Kick-Off 2015, Du weißt doch, wir machen jetzt keine Jahresend-Tagungen mehr, sondern beginnen das Jahr gleich mit einem Mega-Meeting. Alle, die irgendwas zu vermelden haben, kommen da zu Wort… Und die Leute werden ja immer komplizierter, je mehr Möglichkeiten ihnen das Leben bietet. Ständig stellen sie alles in Frage und meckern an der Planung herum, angefangen beim Hotel, dann gefällt ihnen der Ablauf nicht, dann finden sie, das Buffet sei nicht richtig durchdacht, der Standort falsch beschrieben, die Location nicht hip genug, die Matratzenstärke nicht explizit mit Gewichtsangabe versehen – oder es fehlen die korrekten Angaben zu allen verfügbaren Allergenen auf der Speisekarte im Internet. Ich werde noch waaaahnsinnig! Und das Schlimmste ist: Sie schütten einen zu mit ihren Mails und SMSen. Ich verfluche den Tag, an dem der Quatsch erfunden wurde…“

„Ja, manchmal hasse ich das alles auch, besonders dann, wenn ich unüberlegtes Zeug in die Tasten gehauen habe, nachts um halb vier oder so. Aber mal im Ernst, was hältst Du denn jetzt von meiner Idee?“ Dann war erst einmal Sendepause, das verhieß wohl nichts Gutes, befürchtete Lina aus Erfahrung. Also schob sie vorsichtshalber nach: „Wenn Du mich fragen würdest, ich würde sagen, Du hättest Urlaub nötig, Ines Gerlach!“ Aber vom anderen Ende kam nur ein schweres Atmen…

„Lina, Du hast vollkommen recht, urlaubsreif bin ich – selbst nach den Feiertagen. Aber Fakt ist, ich kann hier nicht weg. Diese Kick-Off-Geschichte raubt mir den letzten Nerv und ich kann Siegbert hier unmöglich alleine lassen – oder ihm eine Vertretung vor die Nase setzen. Das funktioniert einfach nicht.“ Dann hörte man Stimmengewirr in Ines‘ Büro, es schien also wieder lebhaft zuzugehen. Ein gehetztes „Ich schicke Ihnen das alles nochmals schriftlich zu, dann hätten wir ja jetzt alles geklärt“, signalisierte Lina, dass die Zeit für Privatgespräche ihr Ende erreicht hatte. Ines war wirklich im Stress.

So, die komplette Mädelsrunde konnte sie für einen gemeinsamen Trip schon mal Abhaken. Ines fiel definitiv aus.

Von Susi Lustig trudelte kurze darauf eine Antwort ein:

Hi Mädels,

die Idee von Dir, liebste Lina, war echt nicht schlecht. Aber es gibt ein großes Aber: Ich gehe nämlich ein paar Tage in Klausur, kann demnach leider nicht mit zum Flaggenurlaub. Hatte schon vor Längerem einen Aufenthalt im Kloster gebucht, denn das Tempo aus meinem Reporter-Alltag muss unbedingt mal raus. Sonst kann der Hessenfunk bald eine Umzugsanzeige für mich schalten: Frei nach dem Motto, „Für unsere allseits beliebte Susi war plötzlich Schluss mit Lustig – Sie ist überraschend umgezogen und freut sich über Blumen und Besuche auf dem Frankfurter Hauptfriedhof“.

Das wollte ich doch unter allen Umständen vermeiden, die Zeit ist noch nicht reif. Ich melde mich, wenn ich wieder geerdet und ge-ohmmmt bin.

Wo immer es Euch hin verschlägt: Viel Schbass, meine Lieben! Und blamiert mir nicht die Innung…

Total gestresste Grüße

Susi

Auf Zweierferien mit Marie-Anne verspürte Lina jedoch keinerlei Lust. Das würde schlicht und ergreifend zu bedeutungsschwanger und anstrengend, außerdem lagen zwischen dem Humor der beiden manchmal doch Welten. Und mit ihren vielen Wehwehchen und ihrem ewigen „Das kann ich nicht, meine Beine, Ihr wisst doch…“, erinnerte sie Lina eine Spur zu oft an den wehleidigen Jan, der immer dann, wenn es drauf ankam, irgendetwas „Gesundheitliches“ vorschob, damit er aus der Nummer raus war… Die Rücksichtnahme auf seine Befindlichkeiten hatte er sozusagen im Abo, und zwar lebenslänglich. Im Vierer-Team fiel das mit Marie-Annes Einschränkungen nicht weiter ins Gewicht, aber ein paar Tage exklusiv mit der Alterspräsidentin und ihrem Alterserscheinungen zu verbringen, wäre nicht angebracht. Insofern war Lina über deren Absage auf dem Anrufbeantworter auch überhaupt nicht traurig. Die anderen beiden dürfte das jetzt eh nicht mehr interessieren, die hatten sich ja schon abgemeldet.

Trotzdem stand nun die Frage im Raum: Was tun, Frau Siebenborn?

Urlaub streichen? Alleine fahren? ALLEINE???? Lina konnte sich mit dem Gedanken überhaupt nicht anfreunden. Sie war seit ewigen Zeiten nicht mehr als Solistin unterwegs gewesen, in den letzten beiden Jahren eigentlich nur mit Jan. Paris übers Wochenende, Shopping-Touren in allen Variationen, Hamburg im Traditionshotel Atlantic, Ayurveda in Traben-Trabach, Bad Ragaz im Heidiland und Lindau am schönen Bodensee. Um nur ein paar der Ziele zu nennen, mit denen Jan sie immer wieder überrascht und erfreut hatte. Ja, ja – es kam ihr schon wieder vor, als wären Lichtjahre vergangen, seitdem. Jetzt stand sie alleine da, die Luft war raus und sie hatte so langsam auch keine Puste mehr. Die alte Indianerweisheit, dass man ein totes Pferd nicht reiten kann, kam ihr in den Sinn.

Aber sollte sie jetzt deshalb in ihren hart verdienten Betriebsferien zuhause im beschaulichen Kurort in der Wetterau bleiben? So schön ihre oberhessische Heimat ihr auch immer wieder erschien, das war nun wirklich zuviel verlangt. Aber alleine mit dem Auto die Ostseeküste entlang fahren? Nee, das war too much „Jan im Gepäck“, selbst wenn er weit weg sein sollte. Es musste etwas Neues her.