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Jenseits von Oberhessen XXL Leseprobe

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Märgi loetuks
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Nach stundenlangem Surfen auf den diversen Seiten im Netz war Lina jedoch verwirrter als zuvor. Wo sollte sie bloß hin mit sich und ihrem Resturlaub? Ski-Urlaub war nix für sie, zu kalt, zu weit weg, zu sportlich – und zu gefährlich! Sie war immerhin selbständig und konnte keine Krankenhausaufenthalte wegen verdrehter Gliedmaßen gebrauchen. Es müsste was Ruhigeres her, etwas Erholsames. Ihre Nerven bedurften der Pflege… Wellness auf irgendeiner Beauty-Farm! Ja, das klang doch schon besser. Ihr fiel da so einiges dazu ein. Immerhin hatte sie mal für die Gattin ihres Ex-Chefs, Herrn Hein, dem allseits berühmt-berüchtigten Peitschen-Heini, eine größerer Recherche in dieser Sache gestartet. Da konnte sie sich an einige verlockende Angebote noch gut erinnern – und noch viel mehr als das, kam ihr wieder ins Bewusstsein, dass dieser Heini auch an ihrem neuen Dasein als Kaffeehausbesitzerin „schuld“ war. Weil sie von seinen Eskapaden im Bahnhofsviertel wusste, seiner Vorliebe für erotische Spielchen der ganz anderen Art… Und genau diese Recherche für Marlene Heins Beauty-Urlaub hatte ihr damals mittels einer geschickt eingefädelten Intrige das Sekretärinnengenick gebrochen. Das war lange her, genauer betrachtet etwas mehr als zwei Jahre – doch irgendwie kamen ihr die Erinnerungen an diese Turbulenzen auch vor wie aus einem anderen Leben. Richtig verkraftet hatte sie dieses Mobbing aber noch immer nicht. Auch deshalb waren Ferien genau jetzt das richtige Stichwort.

Aber abgesehen davon, dass die exklusiven Adressen wirklich eine Sprengung ihres Budgets bedeutet hätten, waren so kurzfristig auch überhaupt keine Termine mehr frei. Die übliche Vorlaufzeit für eine Buchung auf einer renommierten Beautyfarm betrug nicht selten ein ganzes Jahr, wie Lina erfahren musste! Und da redeten manche Statistiker von einem Rückgang der Konjunktur? Bei solchen Wartezeiten – trotz horrender Preise? Das konnte ihr nicht in den Kopf gehen. Sie brauchte eine Pause, auch vom Surfen. Das war ja alles völlig verwirrend…

Und bei einer kurzen Shopping-Tour durchs benachbarte Nidda, wo sie meist ihre „kleinen“ Einkäufe erledigte, da in Bad Salzhausen im Prinzip nur Kliniken, Cafés und seltene Baumarten anzutreffen waren, ging sie ganz zufällig an einem der wohl noch letzten überlebenden klassischen Reisebüros vorbei – und stutzte. Warum nicht einfach mal den traditionellen Weg gehen? Ein paar Kataloge holen, stöbern und die vom Bildschirm strapazierten Äuglein schonen.

Gesagt, getan.

Schon kurze Zeit später saß sie bei Tee und schottischen Plätzchen auf ihrem Sofa und blätterte eifrig in den diversen Reiseprospekten. Aber auch da kam sie einfach nicht zu Potte. Irgendeinen Haken gab es immer. Außer einer Kurreise nach Tschechien in ein superschickes Grandhotel, wo man sich sicher fühlen konnte wie die Kaiserin von Österreich persönlich, sprach sie nichts wirklich an. Oder sagen wir besser, der Norden sollte es nicht sein, der Süden war Wintersport pur, der Osten, naja, da war eher Kultur und Sightseeing angesagt, die Mittelgebirge reizten sie kein bisschen. Doch nach Tschechien zu reisen, war laut der Reiseverkehrskauffrau nicht ganz ohne. „Da müssen Sie durchs Fichtelgebirge fahren, da gibt’s ne Menge Schnee, also gute Winterreifen, oder besser noch Schneeketten, brauchen sie da auf jeden Fall. Und in Tschechien müssen Sie immer einen bewachten Parkplatz dazu buchen, sonst kommen sie vielleicht mit der Bahn wieder nach Hause… Hi hi.“ Na, ganz toll, fand Lina. Sissi im Zweitklassewagon? Nee, also das ist vielleicht auch nicht das Richtige für sie.

„Und was könnten Sie mir noch empfehlen?“, wollte sie von der netten Fachkraft wissen. Immerhin verspricht man sich im Traditionsreisebüro doch etwas mehr von dem, was man im Internet nachlesen kann…

„Warum muss es denn unbedingt Kur und Wellness sein? Fahren Sie doch einfach in den Süden, ins Warme! Da haben Sie keinen Fahrtstress, brauchen keine Schneeketten, haben tollen Luxus und All-Inclusive für ein Drittel des Preises, von dem wir hier sprechen.“

Man konnte ja alles Mögliche von ihr behaupten, fand Lina, aber beratungsresistent war sie nicht.

*

Der Flieger ging um 15.00 Uhr. Zielort: Djerba, Tunesien. Planmäßige Ankunft: 17.50 Uhr. Danach würde es direkt in den Fünf-Sterne-Club „Alice Palace“ gehen – und spätestens um Mitternacht wäre Lina in der hoteleigenen Diskothek, zum Abtanzen und Schwofen unter der Original-70er-Jahre-Glitzerkugel, die sie schon auf der hauseigenen Homepage in Augenschein genommen hatte. Nach einem mehrgängigen Buffet, versteht sich. Sie träumte bereits von klebrigen Honig-Nuss-Schleckereien der arabischen Art, gespickt mit Datteln, Feigen und anderen Figurkillern. Lauter babbisch‘ Zeuch, wie der Oberhesse sagen würde… Reinste Plombenzieher, aber gut. Lina sagte immer noch „gut“, nicht lecker – seit sie gehört hatte, dass die oberste Anstandsdame der Nation nochmals zu Protokoll gegeben hatte, dass „lecker“ ausschließlich in Verbindung mit Hundefutter zum Ausdruck kommen sollte.

Aber nicht nur gutes Essen sollte ein wichtiger Bestandteil ihres winterlichen Sommerurlaubs werden, nein, auch die dazugehörigen ortsüblichen Drinks würden nicht außen vor bleiben. Und das Beste? Andere müssen das alles zubereiten, auftischen, servieren und die Reste wieder abräumen. Und spülen! Sie jedenfalls wäre vorerst außen vor, denn ansonsten war sie es ja, die andere in ihrem Café verköstigte. Zwar tat sie das überwiegend sehr gern, aber anlässlich des Urlaubs wollte sie sich das Ganze mal wieder von der anderen Seite zu Gemüte führen. „Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen!“, wusste schon Sokrates, die alte Socke. Äh, der alte Grieche. Von Wellness war da nie die Rede! Lina Siebenborn hielt dieses Wellness sowieso für überschätzt und überbewertet. Und überbezahlt!

Wohlfühlen konnte man sich doch auch, wenn man schlaue Entscheidungen trifft und zur Verfügung stehendes Kapital nutzbringend einsetzt. Besonders das Preis-Leistungs-Verhältnis dieser Reise sowie die zeitliche Nähe zum Urlaubsort hatten sie zu der Überzeugung geführt. Geschlagene knappe drei Stunden Flugzeit und man war auf einem anderen Kontinent, in der arabischen Welt, an unendlich weiten Stränden, inmitten eines niemals enden wollenden Sommers. Mit Rundum-Verpflegung und Bespaßung allerorten. Natürlich, nicht zu vergessen: Keine Winterreifen erforderlich. Stattdessen konnten ihre Sandalen mal wieder den Dienst antreten und ihren geruhsamen Winterschlaf vorzeitig beenden. Die Profiltiefe war in diesem Fall eher unerheblich…

Es würde ein Abenteuer werden, dessen war sich Lina sicher. Aber dass es so schnell schon losgehen würde?

Just in dem Moment, da sie in einer Art Endlos-Schlange am Schalter ihrer zuständigen Fluglinie anstand, erhaschte sie einen Blick auf ein Abenteuer ganz anderer Art: War das schon eine Fata Morgana außerhalb der Wüstenzone, fragte sie sich - oder handelte es sich bei dem wild knutschenden Etwas da hinten in der anderen Schlange um eine Doppelgängerin von Susi Lustig? Herr, lass‘ es eine Täuschung sein, wünschte sich Lina. Aber so eine unmögliche Klamottenzusammenstellung (Leo-Hose und rosa Kunstpelzjacke!) und eine derartige schwarze Mähne im Chaka-Khan-Look hatte nur eine Person im ganzen Rhein-Main-Gebiet zu bieten. Und das war die rasende Reporterin, die sie zu ihren allerbesten Freundinnen zählte.

Die Brille fürs Ferne schaffte bei der Identifizierung der Zielperson Abhilfe. Ja, es war ihre Freundin, die hier leidenschaftlich busselte – und zwar nicht mit ihrem wieder aufgewärmten Göttergatten Jochen, nein, das hier war eher „Modell Jungbrunnen mit 5-Tage-Bart“. Soweit Lina das erkennen konnte auf die Entfernung. So sah Klosterleben in der Neuzeit also aus... Einkehr, Klausur, Innehalten, Kraft schöpfen und sich wieder für den Alltag erden, das war doch die Planung für den Jahresbeginn, laut der offiziellen Ankündigung. Innehalten! Aha. Und das alles mithilfe eines unverschämt gut aussehenden Toyboys, der maximal fünfzehn Jahre konfirmiert sein dürfte – um jetzt nicht mit kleinlichen Altersangaben aufzuwarten. Das war also Susi Lustig im Nebenleben, sie klammerte ihre Hand an den sicher steinharten und durchtrainierten Hintern dieses noch immer knutschenden Sahnestückchens. Fast wäre Lina neidisch geworden – aber sie verkniff es sich im letzten Moment.

Jedoch wunderte sie sich, wie unverfroren Frau Lustig doch ihre Flaggenmädels angelogen hatte. Angelogen. Was für ein hässliches Wort! Sicher hatte Lina da nur etwas durcheinandergebracht, beruhigte sie sich, vielleicht war der junge Mann ja vom Kloster geschickt, um eine Art Escort-Service für ältere Damen darzubieten, die sich ansonsten in Deutschlands größtem Flughafen nur noch schwerlich alleine zurechtfinden würden.

Ja, ja, Frau Siebenborn, jetzt lüg‘ Dir noch selbst in die Tasche, sagte Lina zu sich selbst. Irgendwie war sie megamäßig enttäuscht von dem Fremdküssen und dem Schwindeln ihrer Busenfreundin, aber schon kurz darauf, in der Vorwartehalle zum Flieger, hatten sich bereits wieder Töne von herannahender Altersmilde bei ihr eingestellt.

Was hätte Susi auch sagen sollen?

Hier Mädels, ich komm‘ nicht mit zum Wellness-Trip, ich mach‘ diesmal sozusagen mein eigenes Wellnessprogramm, ganz abseits von Beziehung und Beruf. Ein bisschen Spaß muss ein, das gönnt Ihr mir doch, oder? Ich konnte diesem hinreißenden Knackarsch beim besten Willen keine Abfuhr erteilen, Treue hin oder her. Statistisch gesehen bin ich sowieso schon zigmal von Jochen und seinen Vorgängern betrogen worden, ich habe da beruflicherseits genauestens recherchiert und somit also offiziell Aufholbedarf, da ich mein Lebtag noch nie fremdgegangen bin. Ihr seid mir doch nicht böse, gell?

Nein, so viel Intimität hätte sie im umgekehrten Fall sicher auch nicht vor der Mädelsrunde ausgebreitet. Das war doch eher was für jüngere Geschlechtsgenossinnen, deren Lebens- und Liebes-Bahnen noch nicht so gefestigt sind. Aber von einer Lady in den besten Jahren konnte man doch keinesfalls ernsthaft annehmen, dass sie ihr komplettes Liebesleben vor der Mädelsrunde ausbreitete. Das musste man großzügig unter Notlüge verbuchen – oder einfach unter „geänderten Urlaubsplänen“. Zum Glück waren die beiden in einen anderen Flieger eingestiegen, sonst hätte die Sache doch unter Umständen eine recht peinliche Wendung genommen.

 

Der Flug nach Afrika war eine willkommene Abwechslung nach dieser überraschenden Szene. Überall urlaubswillige Menschen, die fast nur ein Thema hatten: das Wetter! Und wie froh sie seien, endlich mal wieder Sonne auf der Haut zu spüren. Zwei ältere Damen in der Reihe hinter ihr waren so forsch, Lina gleich zu fragen, in welchem Haus sie auf Djerba residieren würde. „Ich bin im Alice Palace“, hatte sie selbstbewusst und stolz geantwortet. Immerhin, sie hatte ihren Urlaub verdient – und das in mehrfacher Hinsicht. „Ach“, rief die eine durch den halben Ferienflieger, „wir sind doch auch im Alice! Wir sind seit Jahren IMMER im Alice!“ Das war die Rothaarige mittleren Alters, die sich als Geli vorstellte. „Eigentlich Angelika, aber für die meisten bin ich nur die Geli…“ – woraufhin Lina bei der Gelegenheit klarstellte: „Ich bin eigentlich Angelina, aber für die meisten nur Lina…“.

„Wie sympathisch!“, stieß die blond-grauhaarige Mittsiebzigerin aus, „da haben wir bestimmt eine Menge Spaß zusammen. Ich bin übrigens die Inge. Also eigentlich Ingeborg, aber die meisten nennen mich nur Inge.“

Dann hatten die beiden sich nichtmehr eingekriegt vor Lachen. Und Lina musste wohl oder übel aus Sympathie (!!!) ein bisschen mitkichern. Irgendwie war es ja auch schön, dass sie ein wenig Gesellschaft hatte in der großen weiten Welt, in die sie sich begeben hatte. Man wechselte ja den Kontinent normalerweise nicht gerade wie die Unterhemden. Und heute stand nun mal „Kontinentwechsel“ auf dem Programm, was ganz schön aufregend war.

„Hach, ich bin richtig uffgereechd!“, ließ Lina dann noch aus der Tiefe ihres Herzens los, wo der Heimatdialekt beheimatet war. Wobei die beiden Ladies hinter ihr sofort gänzlich aus dem Häuschen waren.

„Ei, Geli, guckemaa, die Lina iss auch e echt‘ Hessemädsche, die sacht ja auch uffgereechd, knau wie mir, wenn mer babbele, wie uns de Schnabbel gewachse is!“ Und in diesem Moment war Lina dann auch klar, dass dies ein Urlaub mit Familienanschluss werden würde.

Na denn.

Knaddel-Daddel

Herzlich Willkommen im Alice Palace auf der Sonneninsel Djerba!“ Na, das war doch mal eine Ansage… „Sie haben großes Glück gehabt, verehrte Lina Siebenborn, der Direktor hatte nämlich an Silvester verdammt gute Laune und für den Rest des Monats „ULTRA-ALL-INCLUSIVE“ für alle angeordnet. Auch für diejenigen, die nur normales All-In gebucht haben!“, verkündete der freundliche Empfangsmitarbeiter mit einem Lächeln und legte das goldene Bändchen um ihr Handgelenk.

„Sie können Ihr Bargeld nun in den Tresor legen – und am Abreisetag wieder komplett mitnehmen. So einfach ist das!“, erklärte der Hochmotivierte mit deutschem Migrationshintergrund weiter. Aber was hieße das nun im Einzelnen, fragte sich Lina. Doch bevor sie etwas sagen konnte, waren die beiden Hinterbänklerinnen ihr schon zuvor gekommen, die anscheinend alles fleißig belauscht hatten.

„Ach, Inge, dess is ja doll! Da könne mer ja rund-um-die-Uhr esse und dringe! Bei Ultra-In gibt’s nur zwei Stunden, wo’s emal nix zu schnaggele gibt!“

„Plus ne Massage und ein Rosenblütenbad extra für jeden Hotelgast!“ – „Unn der Friseurbesuch im Salon Alice, nedd zu vergesse, gell?“

„Mier kenne dess alles schon vom letzte Jahr!“, fügte die eine der beiden noch ordnungshalber hinzu. „Unn vom vorletzten Jahr aach…“, sagte die andere daraufhin. Aha, nun wusste Lina, es würde doch ein Wellness-Aufenthalt im weitesten Sinne werden. Und alles ohne Zusatzbelastungen ihrer Urlaubskasse. Prima!

Das gebuchte Gemach war auch mehr eine orientalische Suite als ein herkömmliches Doppelzimmer zur Einzelnutzung: total großzügig angelegt, superschöne Terrasse mit Blick auf Palmen und Meeresrauschen inklusive - ein bisschen wie Tausend und eine Nacht für nicht ganz Verarmte, sehr geschmackvoll eingerichtet in einem Stilmix aus modern und arabisch-traditionell, auch ein Kingsize-Bett sah sehr verlockend aus und eine ebenso große Marmorbadewanne mit eingebauter Sprudeltechnik – was nichts anderes bedeutete als Whirlpool in Privatausführung. Auf dem Tisch standen frische Blumen mit einem Willkommens-Schildchen, eine Flasche Alicenquelle-Mineralwasser zur Begrüßung und sogar ein Alicen-Betthupferl lag liebevoll auf dem Nachttisch drapiert. Hey, so ein Glück! Das alles sagte ihr wiederum, dass ihre Entscheidung, ein seriöses Reisebüro zu konsultieren, nicht die falscheste gewesen sein konnte. Und jetzt noch der Knüller mit dem Ultra-All-In, das war ja echt der Oberhammer!

Da auch das abendliche Buffet keine Wünsche mehr übrig lassen sollte, war der erste Tag so gut wie gerettet. Natürlich konnte sie sich nicht der permanenten Gesellschaft von Geli und Inge erwehren, die sie sozusagen schon im Flieger mit aller Gewalt adoptiert hatten und sich dann gleich zu ihr gesellten, kaum dass sie sich einen schönen Ecktisch im Speisesaal gesichert hatte. Aber irgendwie und irgendwann würde sie schon eine Möglichkeit finden, ein bisschen für sich zu sein. Es war ja erst der erste Tag, geschlagene sechs sollten dem noch folgen. Und so verkehrt konnte es ja auch nicht sein, ein bisschen Heimatkontakt im fernen Afrika zu pflegen – außerdem kannten die beiden sich mit allem, einfach allem aus. Sie hätten direkt als Gästebetreuer dort angestellt werden können, denn es gab nichts, was sie nicht wussten und anscheinend auch niemanden, den sie nicht persönlich kannten.

Hatten sie sich wohl noch eine Zeit lang in Zurückhaltung geübt, kam an der Absacker-Bar die obligatorische Frage: „Und, Du so? Solo, Single oder frisch geschieden? Oder haste Dein Göddergadde nur vorsichtshalber mal dehaam gelasse?“ Püh! Das hatte Lina befürchtet, gleich nach dem üppigen Nachtisch wollten die Hessenladies ihr also ans Eingemachte gehen. Die Antwort kam spontan aus ihr herausgesprudelt: „Momentan bin ich eher als Solistin unterwegs, zumindest hier im Urlaub.“ Im selben Moment bereute Lina jedoch, überhaupt ein Statement zu ihrem Beziehungsstatus abgegeben zu haben… Denn postwendend kam: „Ei, mei Mädsche, hier is noch kaa lang allei‘ gebliebe…“ Und Inge, die altersmäßig ihre Mutter sein konnte, gab noch dazu: „Mier habbe jedenfalls schon immer alle irschendwie unnergebracht, gelle?“ Dann nickten sich die beiden verheißungsvoll zu und Geli blinzelte noch vielsagend. Ui, ui.

Der Erdboden hätte sich nicht weiter auftun können, um direkt in ihm zu versinken. Fand Lina. Und überlegte, wie sie aus der Nummer wieder rauskommen könnte. Aber zu spät. Denn die Hobbykupplerinnen hatten ihr erstes Opfer schon im Visier. „Guckema da, der da ist doch zuggersüß, der wär‘ doch was für Dich, oder?“ Die ergraute Eminenz war wirklich fest entschlossen, irgendein Liebesabenteuer für die Club-Anfängerin zu arrangieren. Was war das hier eigentlich für ein Club – also in Wirklichkeit? Hatte sie vielleicht irgendetwas falsch verstanden? War das mit dem All-Inclusive mit irgendeinem Liebeshaken verbunden?

Aus dem Augenwinkel sah Lina nur eine verführerische, gut gebaute Männersilhouette. Ein wahrhaftiger Hüne von hinten, fiel ihr stichwortartig ein – und unter dem mordsmäßigen Arm hielt er irgendein kleines Instrument, eine Art Gitarre oder eine Geige? Irgendwie kam ihr der Typ verdammt bekannt vor…

„Hallooooo, junger Mann, es ist noch Platz an der Theke!!!“, rief Inge enthusiastisch. Oh Gott, da ist ja noch schöner wie schön. Wo war sie nur hingeraten, fragte sich Lina.

Hilfe, jetzt drehte sich der Hüne auch tatsächlich herum und blickte frontal in ihre Richtung. Wie peinlich. Ob er das wirklich gehört hatte? Leise waren sie ja nicht gerade gewesen, die Hessenladies. Okee, sie hatten auch schon ihren vierten oder fünften Feigenlikör intus. Und ihr Lachen war mit jedem Likörchen immer lauter geworden, kein Wunder. Konnte Urlaub wirklich so anstrengend sein? Sie wollte doch eigentlich nur chillen und ein bisschen Abenteuer. Ein bisschen! Jetzt kam sie sich schon am ersten Abend vor wie Alice am Wunderstrand… Alles sehr, sehr wunderlich.

Doch der gutaussehende Mann steuerte geradewegs auf die Feigenlikör-Truppe zu, die an der zugigen Bar in Strandnähe als letzte Gäste noch ausharrten, während alle anderen wohl schon Richtung Disco gepilgert waren. Lina war sich langsam aber sicher wirklich absolut sicher: Der Gang, die dunklen, langen Haare, das strahlende Lächeln. Und die kleine Gitarre unterm Arm. Je näher er kam, desto klarer wurde die Erkenntnis: Das musste doch dieser Tilmann sein, der Ukulelenspieler aus Neuseeland, der auf ihrer Café-Eröffnung Weihnachtslieder zum Besten gegeben hatte. Mensch, was war die Welt doch so klein. Am weiten Djerbastrand traf sie nun ausgerechnet auf diesen Musikus, den sie aus Bad Salzhausen kannte. Dessen „Chefin“ sie mal kurzfristig war… Ob er sie denn noch erkennen würde, fragte sie sich.

„Guten Abend, die Damen! So spät noch an der Strandbar, bei dem Wind? Respekt!!!“, warf der Strahlemann in die Runde. Charming! Very charming. Und das rollende „R“ – wie Maffay und der südafrikanische Howie in Personalunion.

„Ja, wir sind da tapfer. Wir wärmen uns von innen…“, verkündete Inge in vornehmsten Hochdeutsch ohne jeglichen Dialekteinschlag. Lina traute ihren Ohren kaum. So waren sie, die Hessen. Keine Spur von Selbstbewusstsein, sobald Ihresgleichen nicht mehr in Sichtweite war. Einem waschechten Bayern würde sowas nie passieren, die Bayern standen zu ihrem Bayerisch. In jeder Lage. Recht so!

„Ich bin der Tilmann, Ladies, und würde sagen: Wir trinken einen Knaddel-Daddel zum Aufwärmen? Tunesischer Dattelschnaps vom Allerfeinsten, kennt Ihr den schon? Ich geb‘ auch einen aus.“ Er grinste strahlemannmäßig. Ja, die Spendierhosen sitzen locker, wenn man im Ultra-All-Inclusive-Modus unterwegs ist, schoss es Lina in den Sinn. Da konnten selbst klamme Straßenmusiker auf einmal außerordentlich großzügig sein… Dann folgte auch schon ein großes HALLO, als der Strahlemann seine Ex-Chefin wiedererkannte. „Das gibt’s ja nicht, wir kennen uns doch!“

Ja, Sachen gibt’s, die gibt’s ja gar nicht.

Und kurze Zeit später erklungen Weihnachtslieder aus aller Welt. Das Repertoire hatte Tilmann aus dem Effeff parat, Lina konnte sich an die meisten Titel noch gut erinnern. Und da Weihnachten im Prinzip gerade erst vorbei war, konnten Jingle Bells am feinen Sandstrand doch nicht schaden. Mit zunehmendem Knaddel-Daddel-Konsum wurde es den Damen auch von innen immer wärmer – und so sangen sie kräftig und aus voller geölter Kehle mit.

„Jetzt noch ne Runde in die Disco?“, wollte der Musikus später wissen, als der Barmann langsam aber sicher mit Gläserpolieren fertig war und so schaute, als könnte er auch er ne Runde vertragen: und zwar ne Runde Feierabend...

„Na klar!“, prustete Lina aus, „Deshalb bin ja hergekommen. Man muss doch einmal im Jahr so richtig die Sau rauslassen, oder?“ Das war zwar nur ein Spruch, aber die willkommene Vorlage für die beiden Hessenladies, gleich einzuschlagen.