Tasuta

Jenseits von Oberhessen XXL Leseprobe

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Märgi loetuks
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

„Mier komme uff jeden Fall aach mit!“ – Aha, dachte Lina, der Verlust des Hochdeutschen war unter Alkoholkonsum wieder nah. Jetzt wurde wieder Hessisch gebabbelt.




In der Club-Disco war die Hölle los. Selbst bei Volltrunkenheit war die Chance, umzufallen, nahe Null. Gedränge in erster Linie an der Bar, wo natürlich auch alles unter das Ultra-All-In-Gesetz fiel. Aber auch die Tanzfläche mit Leuchtboden und Discokugel platzte aus allen Nähten. Tilmann zerrte Lina, die schon gefühlte Ewigkeiten nicht mehr getanzt hatte, sogleich zum Schwofen. Und da nach diversen Dattelgetränken von Zurückhaltung sowieso keine Rede mehr sein konnte, rockten die beiden durch die Nacht.



„Mensch, meine Ex-Chefin kann tatsächlich noch viel mehr als Schwarzwälder Kirschtorte!“, brüllte Tilmann mitten hinein ins übliche Disco-Gestampfe. Lina verstand zwar rein gar nichts, nickte aber vorsichtshalber mal freundlich in seine Richtung. Inge und Geli hatten auch schon Anschluss gefunden und lagen sich mit deutlich jüngeren Kalibern ohne Migrationshintergrund in den Armen. Tunesische Animation mit Ganzkörpereinsatz. Es war jedenfalls vollkommen sinnlos, sich zu unterhalten. Bei diesem Lärmpegel war außer mit aller Gewalt abzufeiern nichts möglich.



Die Zeit flog nur so dahin – und wenig später war auch Lina selbst geflogen. Hingeflogen – mitten auf den blinkenden Tanzflächenboden… Sie musste ja unbedingt versuchen, auf ihre mittelalten Tage noch POGO zu tanzen. Da machten doch glatt die untrainierten Knochen schlapp – und der Kreislauf gleich dazu… Wahrscheinlich war das alles ein bisschen viel für den ersten Urlaubstag auf einem fremden Kontinent.



„Soll ich einen Arzt holen?“, wollte Tilmann ganz aufgeregt wissen. „Quatsch, Du Dabbes, ich bin doch nur hingefallen. Solange ich noch selber aufstehen kann, alles kein Problem!“, wehrte sich Lina vehement. Das würde ihr noch fehlen, gleich am Einstandsabend vom Hoteldoktor aus der Disco abtransportiert werden… Oder gar in einem Krankenwagen in die Inselhauptstadt zu kommen. Fehlt nur noch, dass die Szenerie ins Netz gelangt und Jan ganz zufällig mal drauf klickt, schoss es ihr in den Kopf, als sie so langsam wieder in die Vertikale kam. Mithilfe Tilmanns ausdefinierter Muckis, versteht sich.



„Vielleicht sollten wir mal besser auf Kaffee umsteigen? Irgendwas ohne Datteln jedenfalls.“, schlug er besorgt vor. „Das bringt Dich bestimmt gleich wieder auf die Beine.“ Lina fand so viel Besorgnis nett. Bei Jan drehte sich doch immer alles nur um ihn und seine Befindlichkeiten. Sie lief da eher

unter ferner liefen

… Umso mehr genoss sie es, jetzt einmal selbst im Mittelpunkt zu stehen. Wie schön, ein Mann, der sich zur Abwechslung doch tatsächlich um SIE kümmerte.




Und so saßen sie noch zusammen und redeten und redeten im etwas gemäßigteren Café-Bistro, bis sie von drinnen hörte, dass der Discjockey „New York, New York“ von Sinatra himself auflegte. Dann ging das Neonlicht überall an – was offensichtlich die unsanfte Aufforderung zum endgültigen Gehen bedeutete.



„Wir müssen hier raus! Die wollen jetzt endlich mal Feierabend machen.“ Feierabend war irgendwie auch schon wieder für Lina. Sie war echt k.o. und noch (oder schon wieder?) ein bisschen wackelig auf den Beinen. Vielleicht hätten sie den Kaffee doch lieber ohne Schuss trinken sollen? Aber der nette Bistro-Boy hatte unbedingt darauf bestanden, dass ein bisschen „Medizin“ in die schwarze Brühe gehörte…



„Ich bring‘ Dich noch auf Dein Zimmer“, kündigte der Ukulelenspieler an und wirkte, als würde er keine Widerrede akzeptieren. Lina war sowieso schon länger jegliche Energie zum Diskutieren abhanden gekommen, sie wankte an seinem Arm mehr oder weniger willenlos hinaus in die Appartement-Landschaft des weitläufigen Clubs. Irgendwie war ihr auch alles egal, sie wollte nur noch in ihr riesiges, frischbezogenes Kingsize-Bett. Einen anderen Gedanken konnte sie nicht fassen, dieser Knaddel-Daddel-Schnaps hatte sie doch ziemlich ausgeknockt. Aber küssen war doch auch im halbwegs volltrunkenen Zustand noch möglich, fand sie. Und ihr Begleiter schien ein williges Opfer zu sein.



„Küssen, kann man nicht alleiiiiiiineeeeee, singt auch der Max Raaaabe, gell?…“, stammelte sie undeutlich in die Nacht – und winkte wild mit ihrem Zimmerschlüssel umher. „Ja, ja, kleine Lina. Du hast einen ziemlichen Schwips, würde ich sagen. Gib‘ mal her, so triffst Du das Schloss ja nie…“



„Nee, nee, nee… Schlage vor: Kuss, hm, hihihi, gegen Schlüssel, okeee?“, kam etwas undeutlich aus ihrem Mund.



„Na gut. Überrrrrrrrr-redet!“, antwortete er willig – und setzte zu einer erneuten Runde an – fragte sogleich aber anstandshalber nach: „Darf ich nun um den Schlüssel bitten, Miss Knaddel-Daddel?“









Wenn’s wieder mal endgültig aus ist




Mittlerweile machte ihm die Sache mit Lina überhaupt nichts mehr aus – zumindest redete Jan sich das offiziell ein.

 Und manchmal gelang es ihm sogar, das tatsächlich zu glauben: dass es ihm vollkommen egal wäre, diese Funkstille. Hatte die alte Nervensäge Silvester doch komplett vergeigt – mit ihren Brandanrufen in regelmäßigen Abständen. Nicht zu vergessen, die bitterböse Email vom frühen Neujahrsmorgen. Unmöglich benahm sie sich inzwischen, und Silvester war kein Einzelfall. Nichts, was man mal eben so als „Ausrutscher“ bezeichnen und anschließend einfach abhaken konnte. Jan tippte auf eine schwere Form von Hormonstörungen, wechseljahrsbedingt.



Die ganzen Feiertage zuvor hingen sie im wahrsten Sinne des Wortes aufeinander – oder auch nebeneinander, zur Abwechslung. War es denn dann sooo schlimm, dass er einmal alleine sein wollte? War das Fest der Liebe, geschlagene drei Feiertage und -nächte am Stück, denn nicht genug der Zweisamkeit gewesen? Musste gleich noch ein bombastisches Silvesterfeuerwerk der Harmonie (und der Erotik!) im Anschluss abgefeuert werden? Er war wirklich froh gewesen, dass sie Blitzeis angekündigt hatten. Blitzeis war seine Rettung gewesen. Die Chance auf einen friedlichen Jahreswechsel – die Chance auf einen stressfreien Drink mit seiner Lieblingsnachbarin Tonja. Die Chance auf realen Frieden zum Neujahrsbeginn – ganz ohne Zwangsnähe, weil es sich so gehört zwischen vermeintlich sich Liebenden… Niemand, der ihm ständig vom Abnehmen erzählte, es aber nie richtig in Angriff nahm, stattdessen aber bei allem, was ess- und trinkbar war, nicht nein sagen konnte. Niemand, der ständig alles und jenes auseinandernahm, was er sagte – oder auch nicht sagte. Niemand, der ständig mit einem Ohr am Café lauschte, obwohl „Feiertag“ war und die Perlen den Laden auch super alleine schmissen. Niemand, der – nennen wir es beim Namen – schlicht und ergreifend die meiste Zeit eine Nervensäge war.



Diese Frau brachte ihn vermutlich noch um den letzten Funken Energie, befürchtete er. Manchmal hatte er schon das beklemmende Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.

Atemlos

 – nur ohne Helene Fischer und das Ganze sogar schon tagsüber… Und dass, obwohl er in einer Art Luftkurort im Hohen Vogelsberg residierte. Aber für ihn fühlte sich das alles mittlerweile an wie ein einziges Reizklima – und das Gebirge war nicht schuld daran!



Er war wirklich kurz davor, Lina ein offizielles Kündigungsschreiben ins Haus flattern zu lassen. Aber das war nur ein kurzer Gedanke gewesen. Es wäre nicht sein Stil gewesen, nicht seine Art, die Dinge auf diese Weise zu beenden. So etwas hätte eher zu Lina gepasst: die ganze Wut ungefiltert in die Tasten hauen und dann auf „SENDEN“ drücken. So etwas würde ihr ähnlich sehen.



Er jedoch war nicht ganz so impulsiv wie Lina. Ein bisschen hatte sich Jan auch schon an die gemächliche Vogelsberger Mentalität angepasst.





Gemach, gemach… Erst ma gucke, dann ma seh’n…






Aber zu sehen gab es neuerdings auch nichts mehr, denn Lina war doch tatsächlich alleine losgezogen. Eine kurze SMS hatte ihn anstandshalber noch informiert, dass die Holde

gen Afrika

 gereist war. Zugetraut hätte er ihr das nicht, und eigentlich konnte es ihm auch egal sein, fand er. Aber irgendwie wurmte ihn die Sache doch. Den geplanten Ostseetrip hatte er zwar für null und nichtig erklärt, sich einfach nicht mehr gemeldet, geschweige denn dazu geäußert. Aber dass die Funkstille nun gleich das komplette Mittelmeer zwischen sie bringen musste, war auch irgendwie blöd.



Wie er es auch drehte und wendete, Fakt war, dass alles auf eines hinauslief: Trennung Nummer zwei. Oder war es vielleicht in Wirklichkeit schon die dritte oder die vierte? Maue Phasen hatte es immer wieder gegeben, doch nun hatte Jan Johannsen bald die Faxen dicke. Immer diese Vorwürfe, dieses Anklagen, die ständigen Erwartungen. Hochgeschraubte Erwartungen, die zum Schluss immer irgendetwas mit Heiraten oder Familiengründung zu tun hatten. Das war einfach nicht sein Ding, es fühlte sich an wie „Betreutes Wohnen“, wenn er alleine an ein erneutes Zusammenleben unter einem Dach mit ihr dachte! Immerhin war Jan ein Künstler, hatte eine sensible Seele, die Zeit und Raum brauchte, zum kreativen Ausdruck, zur inneren Einkehr, zur Muse – und nicht zuletzt zum Sortieren seiner Kontoauszüge… Der neue Reichtum musste ja auch irgendwie verwaltet werden. Profane Erkenntnisse, aber es gab schlimmere Wahrheiten. Seine früheren Kontoauszüge zum Beispiel… Armselige Relikte aus der Zeit, bevor er zum Van-Gogh der Neuzeit wurde. Jetzt war er immerhin eine Art „Öffentliche Person“, eine schillernde Figur der Kulturszene – und das nicht nur in Deutschland, nein, auch international hatte er von sich Reden gemacht.



Wie konnte Lina da, man beachte sein fortgeschrittenes Alter von nahezu runden fünfzig Jahren, noch an Babybrei und Windelwechseln denken? Aber er konnte sich ausmalen, woher die Ansprüche noch rührten: Linas Eltern. Besonders Mama Siebenborn war ja wild auf Enkelkinder und ließ keine Gelegenheit aus, entsprechende Anspielungen zu machen. Wer weiß, was sie Lina alles ins Ohr drückte, wenn er nicht dabei war? Was häufig vorkam…

 



Andere bereiteten sich in diesem Lebensabschnitt schon fast auf den Ruhestand vor. Was Jan keineswegs vorhatte, ganz im Gegenteil. Er hatte noch eine ganze Menge auf dem Zettel stehen und wollte seinen so lange vermissten Erfolg noch eine lange Weile in vollen Zügen genießen.



An jenem Januarmorgen ging er etwas zerknirscht und missmutig in seine Malschule. Der erste Tag nach der Weihnachtspause, ein neuer Kurs stand an, den er spontan ins Leben gerufen hatte. Aber nicht nur das: Es standen tatsächlich auch neue Schülerinnen auf der Matte! Frischfleisch für die Kunst, dachte Jan – und verwarf den Gedanken gleich wieder. Diese Damen waren nicht einwandfrei dem herkömmlichen Frischfleisch zuzuordnen, höchstens in Bezug auf ihre noch fehlenden Malfertigkeiten. Er hatte immer Angst, dass er seine heimlichen Assoziationen einmal versehentlich lautstark zum Besten geben würde, wenn es gerade sehr unangebracht wäre. So als Freudsche Fehlleistung par excellence…



Eigentlich hätte er nicht mehr unterrichten müssen. Aber nun hatte er die Malschule einmal ins Leben gerufen und dazu noch den Weinhandel, das konnte er nicht so einfach wieder sein lassen. Er hing auch an seinen Kursen, an seinen Schülern. Zumeist Schülerinnen, er hatte eben eine gewisse Anziehungskraft auf bestimmte Damen.



Kaum hatte die Anfänger-Klasse also begonnen, die ersten zarten Versuche mit Pinsel und Farbe in die Tat umzusetzen, registrierte er aus der Küche heraus, wie die Tür erneut aufging und offenbar ein Nachzügler gekommen war:



„Entschuldigung, ich bin etwas zu spät, befürchte ich. Guten Morgen, erst einmal, ich suche Herrn Johannsen, den Mallehrer!“, hörte Jan eine angenehme Frauenstimme sagen, als er gerade den Kaffee in den Filter gab. Wer war das denn? Neugierig lugte er blitzschnell aus der Tür, den Kaffeelöffel noch in der Hand haltend: „Guten Morgen, hier sind Sie goldrichtig! Sie haben den Lehrer bereits gefunden…“



Hossa, hossa!

 Schoss es Jan durch den Kopf. Wer hat denn diese Prinzessin hier hergezaubert? Eine Augenweide in Schottens Altstadt, man könnte meinen, die Dame wäre direkt von einem der Haute-Couture-Laufstege in Paris importiert worden. Solche Erscheinungen waren doch eher selten im bodenständigen Oberhessen. Ein echter Hingucker!



„Ich bin Sophie. Sophie von Rohdenfeld. Und wollte am Malkurs für Anfänger teilnehmen.“ Sie reichte ihm artig ihre Hand, eine so entzückende Hand, ausgesprochen gepflegt und perfekt manikürt, im Prinzip schon ein einziges Gesamtkunstwerk – genau wie der Rest dieser unglaublichen Frau, die er auf höchstens Mitte dreißig schätzte. Ein perfekt geschnittenes Gesicht – wenn auch mit einer Narbe auf der Wange, was die Dame noch aparter erscheinen ließ. Das dunkelbraune Haar, schulterlang und kräftig, ein unglaublicher Glanz. Die wohlgeformten Beine, ebenso lang, ach was, länger, eigentlich am längsten… Und die Augen erst: ein Braun, das nur ein Dichter hätte beschreiben können – wenn überhaupt! Ein geheimnisvolles Braun, in dem jeder Mann versinken konnte, versinken wollte.



Jan kam sich vor wie in einer Art Trance. War er nicht gerade erst ziemlich angefressen und schlecht gelaunt in seinen neuen Kurs gelaufen? Und hatte er nicht soeben noch missmutig in der Küche gestanden und versucht,

nicht

 an Lina zu denken – und was sie wohl gerade treibt und tut? Im fernen Tunesien.



„Jan Johannsen“, sagte er gedankenverloren, und im gleichen Moment landete das Kaffeepulver schon auf ihrem schicken Mantel. Herrje, so ein Missgeschick! Jan wollte ad hoc die Uhr zurückdrehen, so peinlich war ihm das gegenüber der Dame, die da in absoluter Perfektion gekleidet vor im stand. Und nun überall der Kaffee!



„Sorry, jetzt muss ich mich entschuldigen. Liebe Frau von Rohdenfeld, so was ist mir echt noch nie passiert. Wirklich.“



Aber sie lachte laut los. „Ach, alles gut – keine Sorge! Von Kaffee kann ich sowieso nie genug haben…“



„Ja, ich auch nicht. Da haben wir beide wohl was gemein. Kommen Sie mit, dann können Sie sich zumindest mal die Hände waschen. Aus dem Mantel kann man das Pülverchen bestimmt ausbürsten…“




Just von diesem Tag an machte Jan das Leben wieder Spaß. Nicht nur wegen der neuen Schülerinnen. Aber auf jeden Fall wegen der

einen

 neuen Malschülerin. Sophie, ein Name wie Musik für ihn. Die ganze Frau eine einzige Inspiration. Und was für ein Talent sie war. Sie hatte noch nie gemalt – und trotzdem brachte sie von Anfang an erstaunliche Bilder zustande. Sie war wirklich begabt, besonders für Abstraktes. Aus der Phantasie heraus konnte sie die interessantesten Kreationen entwickeln – an Gegenständlichem hatte sie kein Interesse.



„Ich will mich nur entspannen, kreativ betätigen, einfach mal runterkommen… Ich habe nämlich ein recht stressiges Leben. Da kann ich keine zusätzliche Anspannung gebrauchen.“ Wie apart sie war, wie sie sich ausdrücken konnte! Jedes Wort, das ihre vollen und sorgfältig geschminkten Lippen verließ, ein einziges Gedicht. Jan war restlos begeistert. Wann hatte ihn je so eine Faszination ergriffen? In Hamburg, damals, an der Alster? Als er Lina zum ersten Mal sah? Ihm kam unweigerlich das Gedicht „Stufen“ von Hermann Hesse in den Sinn: Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. Wie wahr, wie wahr. Er fühlte sich geradezu verzaubert, hingerissen. Von ihrer Schönheit, ihrer äußeren – und ihrer inneren. Dabei war sie kein ausgesprochener Modeltyp, ganz so dünn war sie nun nicht. Und für ein Model hatte sie zuviel Klasse, zuviel Intelligenz. Zumindest verglichen mit den Models, die Jan während seiner vielen Talkshow-Auftritte, Vernissagen und Messen kennengelernt hatte. Das hatte ihn auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt, denn er durfte einige der Damen oftmals schon vor der Maske kennenlernen. Da war von Schönheit keinerlei Rede mehr gewesen – und auch das, was die aufgespritzten Lippen so hergaben, war häufig mehr als dünnes Eis. Sophie jedoch war eine Frau in vollkommener Perfektion für ihn, was Jan in Hochstimmung versetzte, Tag für Tag.



Natürlich waren die anderen Malschülerinnen, alle wesentlich betagter und nicht unwesentlich beleibter, ein bisschen neidisch auf die elegante Erscheinung, die jeden Morgen in einer anderen Top-Garderobe erschien, das merkte man sofort, das lag in der Luft. Trotzdem mochten sie Sophie, obwohl sie sich grundsätzlich von ihnen unterschied. Und wenn sie erst einmal ihren inzwischen bunt mit Farbe bekleckerten Kittel anhatte, dann war sie plötzlich nicht mehr die vornehme „Frau von und zu“ - sondern einfach nur noch die „Soffi“ - das war Hessisch für Sophie.



„Mein Mann ist Unternehmer, Fünf-Sterne-Hotellerie auf Schlössern und Gutshöfen. Wir selbst leben auch auf einem Gut in Mecklenburg-Vorpommern, ehemaliger Familienbesitz der Rohdenfelds. Ich war früher mal Zimmermädchen in einem der Schlosshotels, das war in meinem ersten Leben sozusagen. Dann habe ich meinen Theo kennengelernt – und jetzt bin ich hauptberuflich Ehefrau und das ist richtig anstrengend…“, lachte sie einmal.



„Und was hat Sie jetzt hier in diese raue Vogelsberglandschaft verschlagen?“, wollte Emmi wissen, die von Natur aus eher zu den „Interessierten“ gehörte.



„Wir haben hier ein Forsthaus mitten im Wald, so eine Art Rückzugsort für die Rohdenfelds. Mein Mann hat es vor ein paar Jahren gekauft und umgebaut. Außerdem geht er hier im Vogelsberg auf die Jagd – und lädt gerne Jagdgesellschaften ein. Da haben wir eine Menge Trubel im Haus, denn die meisten übernachten dann auch bei uns. Den Rest der Zeit verbringt er mit Lesen und dem Schreiben seiner Reden, er ist nämlich auch noch politisch engagiert. Hier oben in den Wäldern hat er seine Ruhe, bei uns an der Küste denkt er sowieso nur an die Geschäfte und jeder will etwas von ihm. Da hat er doch nie so richtig Feierabend.“



Jan hörte aufmerksam zu, wann immer sie erzählte. Und die anderen hingen ebenso gebannt an ihren Lippen. Es war ein bisschen große, weite Welt, was in die kleine Malschule in Schottens Altstadt gekommen war. Sophie selbst bemerkte die Aufmerksamkeit, die ihr entgegengebracht wurde, wann immer sie begann zu reden. Dann wurde es ganz still im Kurs und die meisten ließen ihre Pinsel ruhen. Ab und zu war sie überrascht über sich selbst – über so viel Offenheit gegenüber Fremden, was normalerweise gar nicht ihre Art war. Denn gerade in den letzten Jahren hatte sie sich immer mehr gelernt zu beherrschen, besonders in der Öffentlichkeit. Doch Sophie von Rohdenfeld fühlte sich wohl inmitten der oberhessischen Landfrauen, die sich für das neue Jahr wahrscheinlich vorgenommen hatten, Neues dazuzulernen, sich ein Stückchen selbst zu verwirklichen, wie es so schön hieß – oder einfach vormittags nicht immer nur für das bevorstehende Mittagessen zu sorgen. Es war nämlich gute Tradition in Schotten, dass, wenn die Kirchturmuhr zwölfmal läutet, das selbstgekochte Essen auf dem Tisch zu stehen hatte. Und zwar dampfend und mit viel Liebe zubereitet.



Genau das war es, was Jan auch so mochte an den bodenständigen Oberhessen. Sie machten nicht viel Aufhebens um ihre Sache, aber

Gegge