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Jenseits von Oberhessen XXL Leseprobe

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Märgi loetuks
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Jetzt war es wohl wieder mal endgültig aus – zwischen ihr und dem DOLCE VITA. Sie hatte wohl einfach kein Talent dafür, katastrophenabstinent zu feiern. Und keine Übung. Immer, wenn ihr irgendwas Spaß machte, kam nix Gescheites dabei raus. Zumindest hatte sie danach immer mehr auf der Waage als vorher. Kleine Sünden mit sofortiger Wirkung. Jetzt war Schluss mit lustig. Egal was war und wie schön es gewesen sein musste: Einmal ist keinmal. Und was eventuelles Fremdgehen anbelangte, hatte sie sicher bei Jan noch einen gut. Sicher!

Drauß‘ am Forsthaus

Theodor von Rohdenfeld war ein großgewachsener Mann, eine wirklich imposante Erscheinung. Jemand, der im wahrsten Sinne des Wortes „etwas darstellte“. Immer tipptopp gekleidet, meist im klassisch-englischen Stil, die Pfeife gerne mal zur Hand, jedes seiner leicht rötlichen Härchen, selbst die bereits ergrauten, lag exakt in Form. Und dazu die sonore Stimme, die jeden Raum durchdrang und überall herauszuhören war. Man hätte glauben können, dass er eine professionelle Sprecherausbildung genossen hatte, jede Silbe saß, wenn er sprach, jede Betonung wie einstudiert. Die Sätze kamen gestochen scharf, etwas Unüberlegtes verließ seine Lippen nie. Dass er schon bald auf die sechste Null zusteuerte, sah man ihm nicht wirklich an, er ging locker für Anfang fünfzig durch. Seine leicht grau melierten Schläfen machten ihn noch interessanter, seine kleinen Fältchen rund um die Augen und auf der Stirn verliehen ihm eine Spur von Weisheit. Aber nur eine Spur – denn die tiefe Zornesfalte zwischen den Augenbrauen verriet dem aufmerksamen Beobachter, dass nicht alles eitel Sonnenschein gewesen sein konnte, in seinem bisherigen Leben.

Geboren zu sein in eine Familie, die einen so großen Namen trug, barg für ihn auch immer eine große Verantwortung. Ein Rucksack, den er niemals loswerden konnte, solange er lebte. Ein einfacher Weg war es nicht gewesen, den er gegangen war. Aufgewachsen ohne richtige Nestwärme, die Hauptperson in seinen Erinnerungen war einzig die herzensgute Kindfrau Anna, denn seine Eltern waren stets fleißig und sehr beschäftigt. Sie hatten sich der Tradition der Hotellerie hingegeben, wie es eben üblich war bei den Rohdenfelds. So war es dann auch der vorgegebene Weg, dass der einzige Sohnemann in einem internationalen Umfeld erzogen wurde, Internatsaufenthalt am Bodensee, später in England, Studium in den USA, dann folgten Praktika in aller Herren Länder, es gab ja überall Hotels, die seinen Namen trugen. Es mangelte dem jungen Mann an nichts – doch trotzdem fehlte ihm immer etwas, von dem er nie wusste, was es eigentlich war. Etwas, das sich anfühlte wie eine Lücke. Aber beschreiben konnte er das Gefühl nie, ihm fehlten die passenden Worte dafür.

Füllen konnte er diese Lücke – zumindest zeitweise – mit allerlei Aktivität, Betäubung, Affären – ausgelassen hatte er nichts. Glücklich machte ihn das Ganze jedoch nicht, ebenso wenig wie seine Eltern, die zwar mit dem beruflichen Werdegang ihres Filius‘ vollkommen zufrieden waren, denen jedoch klar war, dass die Nachfolge des Hauses Rohdenfeld nicht gesichert war, so lange Theodor ein Dauersingle blieb und Nachwuchs nicht in Sicht war. Das Verhältnis zwischen ihm und seinem Vater war dadurch bedingt mehr und mehr abgekühlt – die Mutter, an einer frühen Demenz leidend und seit einigen Jahren auf Pflege angewiesen, hatte es wohl irgendwann vergessen, dass ihr einziges Kind nicht ganz so funktionierte wie geplant. Friedrich von Rohdenfeld war insgeheim fast dankbar für diese späte Gnade. Wenigstens seine Frau bekam nicht mehr in aller Klarheit mit, in welch unsicheren Händen die Zukunft ihres gemeinsamen Lebenswerkes lag. Sie hatte zwar noch bewusste Momente, aber die wurden immer seltener. Ihr Schicksal konnte mit allem angehäuften Vermögen und allem Kapital, was sie zu den absoluten Kapazitäten auf diesem Gebiet in alle Welt geführt hatte, auch nichts ändern. Das hohe Gut der Gesundheit war auch für die zahlungskräftigen Rohdenfelds letztendlich unbezahlbar. Aber auch mit dem häuslichen Gut gab es immer wieder Probleme, von den immer wiederkehrenden Personalproblemen ganz zu schweigen.

Lange Zeit hing der Gutshaussegen in Schieflage – bis lange nach der eigentlichen Wende auch endlich die Wende im Leben von Theodor kam, der bislang noch immer unverheiratet war und im Zurückerobern des alten Familienguts an der mecklenburgischen Ostseeküste eine neue Aufgabe fand. Ganz zur Freude seines Vaters.

Nach und nach hatte er das marode Anwesen zu einem Schmuckstück werden lassen. Und schließlich wurde es auch wieder zu dem, was es einst für die Vorfahren seiner Linie immer gewesen ist: einem Zuhause für die Familie. Mitte der neunziger Jahre zogen seine Eltern dann auf das Hofgut Gustavsburg – und auch er selbst fand dort seine Bleibe.

In den folgenden Jahren erwarb er noch einige verlassene Gutshöfe und Schlösser, die er – inzwischen routiniert und versiert in allen Fragen des denkmalgerechten Restaurierens – zu luxuriösen Hotelbetrieben machte oder gewinnbringend an zahlungskräftige Klientel verkaufte.

Als das Zimmermädchen Sophie Kettler in sein Leben trat, war er bereits ein gestandener Mann. Und zum ersten Mal war er wirklich glücklich darüber, so lange seinem Junggesellendasein treu geblieben zu sein…

Sie hatte eingeschlagen wie eine Bombe in seinem von Arbeit und Profitstreben geprägten Leben. Plötzlich war da nicht mehr diese Lücke, auf einmal fühlte er sich „ganz“. Ganz und gar ganz! Wie jemand, der immer auf der Suche nach seiner anderen Hälfte gewesen ist und sie just gefunden hatte. Dabei wusste Sophie anfangs nicht einmal, wer er eigentlich war. Sie hielt ihn für einen gewöhnlichen, wenn auch besonders netten Hotelgast – und genau diese Art hatte sie verzaubert. Aber da jegliche Beziehung, die über das normale Arbeitsverhältnis hinausging, zu den Gästen strengstens untersagt war, lehnte sie jede noch so kleine Annäherung seinerseits vehement ab. Doch dann kam eines Tages der Personalchef des Hotels auf die junge Frau Kettler zu und offenbarte ihr ein ungewöhnliches Angebot.

„Frau Kettler, ich habe hier einen Brief vom Eigentümer der Hotelkette Rohdenfeld persönlich vorliegen. Es wird Sie verwundern, genau wie mich auch, muss ich ehrlich gestehen, aber Herr Theodor von Rohdenfeld, der vor einiger Zeit auch Gast hier im Hause war, ist auf der Suche nach einer Art Hausdame, einem guten Geist für sein privates Anwesen. Und dabei hat er sich ganz konkret auf Sie fixiert. Das Angebot ist großzügig und der Stellung angemessen. Wären Sie denn interessiert – und bereit dazu?“

Es dauerte nicht lange und Sophie wechselte die Stellung – zur Freude ihrer Eltern, die sich für ihre Tochter immer etwas „Besseres“ erhofft hatten – und nicht zuletzt zur Freude ihres Bankkontos, das nun erheblich erfreulichere Zahlen aufwies. Ihre Tätigkeit war im Großen und Ganzen eine Art Mixtur aus persönlichem Hausmädchen, guter Seele und Betreuerin für die erkrankte Mutter, die man nicht mehr auf sich allein gestellt wissen wollte.

Das Kalkül war klar: Theo hatte Sophie eingekauft, um sie ungestört und ungezwungen näher kennenlernen zu können, sie zu testen und letztendlich – sie frei von jeglichen Hausregeln des Hotels anbaggern zu können. Sein Plan ging in Bälde schon auf. Denn Sophie biss an – so eine Gelegenheit konnte sie sich nicht entgehen lassen, und ihre Eitelkeit und ihr Stolz waren in bestem Sinne gestreichelt worden, allein durch die Tatsache, dass ein so attraktiver und erfolgreicher Mann von Welt ihr den Hof machte. Dass sie sich auch mit seinen Eltern blendend verstand, sich rührend um die Mutter kümmerte und dabei immer eine super Figur machte, ließ schon bald die Hochzeitsglocken läuten. Dass er um einiges älter als sie war, interessierte niemanden, sie am allerwenigsten.

Doch schon vor der Hochzeit sollte sie – wie konnte es auch anders sein – ihre Tätigkeit einstellen. Der werte Herr wollte ja kein „Dienstmädchen“ heiraten. Stattdessen schickte man sie ins Ausland, wo sie Crashkurse in Englisch und Französisch absolvieren musste und Einblick nehmen sollte in die Hotelgruppe der Rohdenfelds. Horizonterweiterung nannte Theodor das Projekt. Geistig-kulturelle Fitness für die zukünftige junge Frau von Rohdenfeld. Und Sophie erfüllte alle Vorgaben, machte sich auch keinerlei Gedanken über all die Kurse, die sie besuchen musste. Im Gegenteil, es ehrte sie. Man investierte in sie.

Nur zu bald wusste sie aber auch, was neben den zahlreichen Repräsentationspflichten und der Erfüllung ihrer ehelichen Pflichten, zu ihrer Kernaufgabe werden sollte: die Nachwuchssicherung der hochwohlgeborenen Familie. Doch, zu allem Übel und zur immer stärkeren Verärgerung von Theodor, der immer häufiger recht robuste Töne ihr gegenüber anschlug, wollte sich kein Erfolg einstellen. Sophie wurde einfach nicht schwanger. Und an mangelnder Abstinenz hatte es ganz sicher nicht gelegen.

„Jetzt habe ich so viel in Dich investiert, aber die Hauptsache habe ich vergessen. Ja, ich sag’s ja immer: Ich hätte diese Klatschblätter lesen sollen, öfter zum Frisör gehen – dann wäre ich daran erinnert worden, was noch wichtiger ist als perfekte Sprachkenntnisse: nämlich die Braut vor der Hochzeit zum „Hofgynäkologen“ zu schicken…“

Das war einer dieser Sätze, die Sophie immer wieder zu Zweifeln veranlasste, ob dieser Mann nun wirklich derjenige war, mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen wollte. Einmal – nur ein einziges Mal – hatte sie gewagt, ihm zu entgegnen: „Vielleicht liegt es ja auch an Dir! Soweit mir bekannt ist, liegt es viel öfter an den Männern als an den Frauen, wenn es nicht klappt mit dem Nachwuchs.“ Da hatte er ausgeholt und ihr heftig ins Gesicht geschlagen, wobei sie an der Wange verletzt wurde. Der Siegelring hatte ihr ein Teil ihrer Haut aufgerissen, eine stattliche Narbe war die Folge davon. Sie sollte sie ewig daran erinnern, dass sie es gewagt hatte, ihm derart zu widersprechen.

 

Wie oft in den letzten Jahren – mittlerweile war sie Mitte dreißig und jeglicher Gedanke oder gar die Hoffnung auf eigene Kinder waren kein Thema mehr – hatte sie sich gewünscht, dass der Personalchef damals nie einen Brief bekommen hätte. Wie oft hatte sie sich gefragt, warum sie ausgerechnet zu ihm so besonders nett gewesen ist, damals, als er Hotelgast war und sie ihn noch nicht mit Namen kannte. Hatte sie ihn ermuntert? Ihn in gewissem Sinne dazu verführt, ihr dieses Angebot zu machen?

Doch sie hatte sich arrangiert, denn zu groß waren die Vorteile, die sich durch ihren Aufstieg geboten hatten: Reisen, Reichtum, ihre privilegierte gesellschaftliche Stellung. Überall offene Türen, was immer es betraf. Irgendjemand kannte man sicher, der weiterhelfen konnte, egal, um was es ging. Überall saßen Würdenträger und Amtspersonen, einflussreiche Menschen, die man kontaktieren konnte – bei fast jeglichem Problem. Daran hatte sich Sophie gewöhnt, das Leben war in vielfacher Hinsicht einfach und leicht zu nehmen. Dafür nahm sie vieles in Kauf, ließ sich einiges an den Kopf werfen, was mehr als ungerecht und oftmals brutal war – und weinte oft leise und verzweifelt früh morgens unter der Dusche, denn da fiel es nicht weiter auf. Dort wurden keine Kissen nass – und wenn sie mit geröteten Augen am Frühstückstisch erschien, konnte sie immer noch sagen, dass sie das neue Shampoo nicht vertragen hatte…

Manchmal fühlte sie sich, als hätte sie mit der Einheirat ins Hause Rohdenfeld einen Teil ihrer Seele verkauft, aber meist schaffte sie es rasch wieder, sich alle Annehmlichkeiten so bewusst darzulegen, dass es die Zweifel und Leiden überdeckte.

„Alles hat seinen Preis“, pflegte ihre Mama schon immer zu sagen. Und wie recht sollte sie doch haben.

*

Einen gewissen Preis hatte auch eine gewisse Urlauberin im sonnenverwöhnten Tunesien zu zahlen: für ihre gemeinsame Nacht mit Tilmann Mollebusch. Denn die beiden Hessenladies, die ihr zeitweise ganz gewaltig auf den Keks gingen, ließen es Lina bei jedem noch so kleinen Auftauchen von Tilmann spüren: „Ah, da isser ja widder, Dein Galan von der ersten Nacht!“, war noch das Harmloseste, was sie sich anhören musste. Dabei benahm sich Tilmann inzwischen überhaupt nicht wie ihr Lover, sondern eher wie ein guter Freund aus alten Zeiten. Ein Kumpel war er, zumindest verhielt er sich so ihr gegenüber. Zwar drückte er sie immer einmal an sich, wenn er in der Pause zwischen seinen Kursen mal kurz an der Kaffeebar aufschlug, wobei ihr Herz immer einen Salto machte, doch im Grunde war er ganz neutral ihr gegenüber. Was Lina gar nicht gefiel.

Auch an den darauffolgenden Abenden, die sie extra ganz brav und züchtig ohne Partylaune im Kreise anderer Ruhesuchender beim Abend-Yoga mit anschließendem Wellness-Tee im kleinen Kreis verbrachte, tauchte er nie auf. Irgendwie war es ihr sogar ganz recht, dass sie ihn nicht mehr oft zu Gesicht bekam. Aber andererseits waren ihre Gedanken doch immer wieder bei ihm. Zum Glück kam sie nicht mehr in gefährliche Versuchung, denn sie mied das Sündenbabel des Clubs, die Strandbar und die Hoteldisco, ganz bewusst. Ein bisschen Herzklopfen war ja ganz nett, aber die erste Nacht war doch zu heftig. Das Eine hatte sie sich geschworen: Keinen Tropfen Alkohol mehr! So etwas war ihr nur ein einziges Mal passiert. Und auch Tilmann schien wieder auf den Pfad der Tugenden zurückgekehrt. Kein Wort der Anspielung auf die Entgleisungen unter Knaddel-Daddel-Einfluss…

Er war außerdem mit seinen Kursteilnehmern, überwiegender weiblicher Art – wohlgemerkt – schwer beschäftigt. Am Abend sollte das große Abschlusskonzert der Ukulelen-Schüler stattfinden, das hatte Lina am schwarzen Brett gelesen.

Ansonsten war sie emotional vollkommen entglitten, so fühlte sie sich jedenfalls. Sie konnte die Situation mangels Übung an One-Night-Stands und anderen Flirt-Eskapaden überhaupt nicht einschätzen. Wie benahm frau sich denn eigentlich nach so einem Ausrutscher korrekt? Sollte sie etwa das offene Gespräch mit ihm suchen? Das fand sie irgendwie spießig. Oder das Ganze einfach übergehen? Das hieße ja im Prinzip, dass es eine Art Normalität für sie war, die erstbeste Nacht im Ferienlager mit dem erstbesten Feriengast zu verbringen, der sich auch nur ein bisschen willig zeigte… Das konnte sie keinesfalls so stehenlassen! Desweiteren war sie sich nicht klar über ihre Gefühlswelt insgesamt. Da schwirrte einerseits Jan in ihrem Kopf herum, das Herz nicht zu vergessen – andererseits musste sie die ganze Zeit wie ein verliebter Backfisch an Tilmann denken. Er war doch ein ganz Süßer!!! Er hatte ihr Ego gestreichelt, und vermutlich nicht nur das. Er war es gewesen, der ihr wieder Auftrieb gegeben hatte, der sie fühlen ließ: Sie hatte Chancen bei der Männerwelt! Und dann noch bei so einem begehrenswerten Exemplar! Donnerwetter, Lina Siebenborn. Alle Achtung, da hast Du ein paar andere Mädels aber ganz schön ausgestochen! Doch, bei realistischer Betrachtung musste sie sich auch fragen: Konnte es eventuell sein, dass ER kein bisschen in SIE verknallt war? Dass er keinen zweiten arabischen Frühling erlebte? War sowas überhaupt denkbar? Nach allem, was zwischen ihnen gelaufen ist?

Auch wenn Lina sich, was sie ausgiebig bedauerte, kein bisschen an irgendwelche schlüpfrigen Einzelheiten erinnern konnte, so war sie sich doch sicher, dass es eine ganz heiße Liebesnacht gewesen sein musste. Das musste doch im Prinzip der Akt des Jahrhunderts gewesen sein, wie hätte es auch anders sein können? Das war BASIC INSTINCT mit Dattelgeschmack, aber ganz gewiss! Wahrscheinlich, so redete sie sich das jedenfalls ein, war es einfach so eine gigantische Nummer, dass das normal arbeitende, menschliche Gehirn gar nicht in der Lage gewesen wäre, das bei vollem Bewusstsein auch nur annähernd zu verkraften! Ja, klar. So musste es gewesen sein…

Irgendwie nervte aber auch die Tatsache, dass ihr selbst so jegliche konkrete Erinnerung daran abhanden gekommen war. Bei allem Respekt! Doch damit nicht genug: Dass Inge und Geli ständig wissen wollten, warum denn „nix mehr läuft mit dem Zuckerschnäuzchen“, nervte sie ebenso gewaltig, genau wie die Tatsache, dass das Zuckerschnäuzchen von Tilmann zwar sehr nett zu ihr war, aber eben auch nicht merklich viel netter als zu den anderen weiblichen Gästen in der Anlage. Was für eine Blamage!!!

Doch, wie es das Drehbuch des Schicksals so wollte, kriegte sie ihn auf dem Nachhauseweg zu ihrem Zimmer einmal spontan zu fassen. Das war die Gelegenheit. Niemand weit und breit, bemerkte sie und dachte: Jetzt oder nie!

„Du, Tilmann, ich wollte da mal was wissen…“, fing sie an.

„Na, wie ich kann ich Dir helfen? Schieß‘ los!“, kam es wie einstudiert aus ihm heraus. Er zog sie kurz an sich, eine freundliche Umarmung, die Lina aber schon wieder dahinschmelzen ließ.

„Also, das mit der ersten Nacht, Du weißt schon, als wir diesen ganzen Knaddel-Daddel in uns hineingebeamt haben…“

„Mach‘ Dir doch keine Gedanken darüber, Lina. Sowas gehört doch zum Urlaub einfach dazu… Keiner hat’s gesehen, dass Du auf der Tanzfläche ausgerutscht bist und wen interessiert’s auch? Die waren doch alle genauso betütelt wie wir beiden…“ Er verstand anscheinend gar nichts!

„Nee, ich meine doch nicht nur das – ich meine, ach, Du weißt schon.“

„Du, Lina, ich weiß generell nicht alles und manches will ich auch gar nicht wissen. Mir reicht es schon vollkommen aus, eine gute Zeit zu haben – und das sollte doch mehr als ok sein – auch für Dich! It’s a Holi-Holiday...“, sang er – ganz der Musiker – gleich noch dazu.

„Aber, ich dachte doch nur…“, stammelte Lina vor sich hin.

„Das Denken, sehr verehrte Frau Siebenborn, soll man besser den Pferden überlassen, denn die haben den größeren Kopf!“, lachte er und klopfte ihr kumpelhaft auf die Schulter. Dann drückte er ihr ein Bussi-Bussi auf die Wange und entschwand. „Ich muss los – die warten vom Kurs schon alle auf mich. Und heute ist Abschlussabend mit Konzert, ich hoffe, Du kommst auch. Und morgen früh bin ich dann mal für länger weg. Feierabend!“

Lina war baff. Wie – er war weg? Und das schon MORGEN?

„Du reist ab?“, fragte sie entgeistert.

„Klar, alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei… Es geht weiter. Ich habe meinen Job hier fast erledigt und nun geht es für ein paar Monate auf USA- und Südamerika-Tour. Frühestens kurz vor Weihnachten schlage ich wieder in Europa auf.“

„Dann kannst Du ja wieder bei mir spielen. Weihnachtslieder und so…“, äußerte Lina spontan und war überrascht, wie gefasst und souverän sie in der Situation geblieben war, dabei war sie im Grunde etwas geschockt von der unerwarteten Ankündigung. Irgendetwas, zumindest ein bisschen mehr an Reaktion, hätte sie schon von ihm erwartet. Auch hätte er doch merken müssen, auf was sie mit ihrem Gestammel eigentlich hinaus wollte. Männer! Schimpfte sie heimlich, die merken’s einfach nicht. Ganz cool und unverbindlich war er geblieben, in jeglicher Hinsicht.

Insgeheim rechnete sie kurz nach: Ihr würden nur noch genau drei Tage bleiben, dann wäre der Zauber von Afrika sowieso schon wieder vorbei. Und Tilmann längst über alle Berge. Kein Wort des Bedauerns. Anscheinend machte ihm das alles gar nichts aus. Typisch Mann, fand Lina. Ihr klopfte das Herz bis zum Halse, sie träumte jede Nacht wirres Zeug im Halbschlaf und fragte sich ständig, ob das mit ihr und Tilmann vielleicht mal etwas Ernstes werden könnte – und er eröffnete ihr so nebenbei, dass er morgen wieder abreisen würde. Ein Teenager hätte nicht naiver sein können als sie. Nur, dass sie schon ein paar Jährchen mehr auf dem Buckel hatte. Aber offensichtlich nichts dazugelernt.

„Meldest Du Dich denn mal von unterwegs?“, rief sie ihm noch nach und bereute es in dem Moment schon wieder, als die Worte ihre Lippen verlassen hatten.

„Vielleicht!“, hörte sie ihn zurückrufen. „Aber ich bin da eher der freiheitsliebende Typ, ich mag keine leeren Versprechungen!“

Leere Versprechungen. Vonwegen. Überhaupt keine Versprechungen machte dieser Mann! Wahrscheinlich hatte er an jeder Ecke irgendeine „Miss Knaddel-Daddel“ oder „Miss Guinness“ oder „Miss Beaujolais“ sitzen, auf die er bei Bedarf zurückgreifen konnte. Was bildete sie sich auch ein auf diesen One-Night-Stand mit einem herumreisenden Ukulelenspieler, der zufällig ein ziemlicher Hingucker war und nun auch noch der Traum ihrer fast schlaflosen Nächte? Sie fragte sich, ob ihr das alles wirklich passiert sein konnte? Dass sie sich in einen Hallodri erster Güte verknallt hatte, der seine Körperflüssigkeiten voraussichtlich international an die Damenwelt verschwendete?

Und ich habe sowas gleich am Wickel, schoss es ihr in den Sinn. Wie gut, dass niemand je davon erfahren würde. Wie gut, dass die Flaggenmädels nix davon ahnten und dass niemand hier in der Anlage war, der sie näher kannte. Mit einer Mischung aus Schmetterlingen und gleichzeitiger Wut im Bauch beschloss Lina, sich ihren kostbaren Resturlaub keinesfalls von diesem windigen Musikus verderben zu lassen. Sie bemühte sich, erwachsen genug zu sein, mit der Sachlage umzugehen. Als Frau in ihrem Alter!

Da musste es ja wohl möglich sein, mal ein erotisches Urlaubshighlight zu genießen, ohne gleich durchzudrehen wie ein unerfahrenes Huhn in der ersten Tanzstunde, wenn der Schwarm ihrer heißesten Träume sie zum Walzer auffordert. Problematisch bei der Sache war nur, dass es ihrem pochenden Herzchen ganz egal zu sein schien, was die Frauenzeitschrift ihres Vertrauens ihr in dieser Situation genauso geraten hätte. Das Gehirn hatte wohl auf „Urlaubsmodus“ geschaltet und war nicht einsatzfähig. Stattdessen merkte Lina, wie ihr die Tränen in die Augen schossen, als sie Tilmann so unternehmungslustig davonlaufen sah. Er hatte anscheinend keinerlei Probleme mit der amourösen Angelegenheit…