Tasuta

Lahme Flügel

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Märgi loetuks
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Außerdem liegt für die meisten Erdmenschen so kurz nachdem sie ihren Körper wie einen abgetragenen Wintermantel abgelegt haben, ihr Leben mit all seinen Verfehlungen schon wieder so weit zurück, dass sie meistens gar keine Lust mehr dazu haben, sich noch in irgendeiner Form dazu zu äußern.

Aber mit der Nummer kommen sie bei den Himmelhunden nie durch, die bohren weiter. Zeit spielt bei denen keine Rolle. Es sei denn, sie betrifft ihren sechswöchigen Jahresurlaub, in dem Fall haben sie es dann in der Regel doch etwas eiliger.

Finden Sie jedoch eine Menge guter Taten, dann ist der Erdenmensch meistens schwer begeistert und lässt sich gerne ausgiebig feiern. Aber auch da verstehen die Himmelhunde wenig Spaß, sie haben generell wenig Sinn für Humor. Und das weiß jeder im großen weiten Himmelreich…

Später wird das Ganze dem Boss vorgelegt, komprimiert und nochmals fein säuberlich aufbereitet – in der himmelseigenen Druckerei, die liefern eine 1a-Qualität.

Wir Engel sind und bleiben aber immer an der Seite unserer Schützlinge, ist doch klar. Schließlich kann man die armen Erdmenschen doch nicht alleine mit diesen übermotivierten Reportern in einem Raum lassen – und das ohne Anwalt! Sowas geht gar nicht, nicht mit unseren Lieblingen, die wir das ganze Leben bis zur großen Reise durch den Tunnel in die obere Etage begleitet haben. Und der Boss kann ja auch nicht überall sein, obwohl er das in der Tat meistens sogar ist.

Aber er macht den Himmelhunden gewöhnlich einen dicken Strich durch die Rechnung, was ihnen überhaupt nicht passt. Fast immer landen die Seelen ein bis zwei Ebenen höher als von den Reportern empfohlen, der Boss ist nämlich gutmütiger als man allgemein annimmt. Die allermeisten Fälle kommen viel besser weg als erwartet, und nur die wenigsten landen in den unteren Etagen, wo es wenig komfortabel ist, aber nicht so düster und kalt wie noch ein paar Stockwerke tiefer.

Allerdings gibt es dort keine Water-to-Wine-Parties, ach, ich sollte natürlich Wasser-zu-Wein-Feste sagen, sorry, mein internationaler Hintergrund… Ab dem 3-Sterne-Himmel ist das überall Usus, zumindest feiertags… Da wird eigentlich immer gefeiert, auf allen Ebenen. Im Siebten Himmel – wo Ultra-All-Inclusive der normale Standard ist – gibt es allerdings jeden Tag alles, was das nicht mehr ganz so lebendig schlagende Herz begehrt. Da ist sozusagen „Water-to-Wine-Time-FOREVER“ das Motto, das hört sich im Englischen aber wirklich besser an.

Der Sohn vom Boss ist ein echt cooler Typ – läuft immer in seinen alten, ausgelatschten Sandalen herum und hat lange Haare, die er meist offen trägt (Udo Walz würde hier ratz-fatz eine Lösung anbieten…). Aber er ist beliebt, der Junior, egal, wie er aussieht. Ein bisschen so ein Alt-Hippie, der nie erwachsen werden wollte. Er gibt eigentlich immer gerne einen aus und trinkt auch auf allen Ebenen einen mit. Dementsprechend willkommen ist er auch überall. Wo immer er auftaucht, alle freuen sich…

Ich jedenfalls bin im 6-Sterne-Himmel, manche sagen auch sechster Himmel dazu oder neumodisch „Ebene 6“, ansässig – ich glaube, ich erwähnte es schon. Das ist sozusagen schon kurz vor der Zielgeraden. Allerdings ist es so, dass viele, viele auf dieser Stufe hängenbleiben. Denn im Siebten Himmel, also ganz nahe beim Boss, ist es so, dass man eine riesengroße Null auf dem Kerbholz haben muss und dass einem auch alles Weltliche völlig egal sein sollte – jetzt und ein für allemal. Erst dann kriegt man das einfache Ticket für die Glückseligkeit in Ewigkeit. Und diesen letzten Schritt schaffen viele nicht, so sehr sie sich auch bemühen.

Sie hängen fest, wie mit Pattex angeklebt…

Bis zur Ebene 6 hat der Boss nämlich noch alles ein bisschen unterteilt, nach seinen fünf Weltkonzernen, dem Christentum, dem Islam, dem Hinduismus, dem Buddhismus und dem Judentum. Weil es erfahrungsgemäß doch immer noch Ärger gibt, selbst im Himmel, wenn alle zusammengemixt sind und jeder recht haben will. Und schon gehen die Streitereien wieder los, das weiß man von den Besuchszeiten, denn da kann man die anderen Erdmenschen, die das Zeitliche gesegnet hat, in ihren jeweiligen Sterne-Himmeln besuchen. Schrankenlos!

Aber was viele nicht wissen: Auch DAS wird ganz genau beobachtet – und für manche fällt das Urteil nach den Treffen dann gar nicht so erfreulich aus.

In unregelmäßigen Abständen kommt es also wieder zur Ansage von ganz oben: „Ab, auf die Erde zurück! Lektion wiederholen!“ Kontinent, Religion und Geschlecht wird regelmäßig gewechselt, das ist so ähnlich wie bei der Bettwäsche. Öfter mal was Neues, damit keine Langeweile aufkommt. Aber allzu viele Varianten gibt es da ja sowieso nicht. Dann heißt es eben: ALLES AUF ANFANG!

Und schon sind die Erdmenschen wieder auf der Rückreise, bekommen ein frisches Mäntelchen übergeworfen, müssen den ganzen Kram von Nuckeln, Windeln und Zähnchenkriegen wieder über sich ergehen lassen – und wir Engel haben ein neues Projekt an der Flugbacke. Und aus den fast ganz oben angekommenen Himmelsmenschen werden wieder „selbstbestimmte Täter“, also Leute, die eigenmächtig alles nochmal falsch machen können, was sie schon fast überwunden geglaubt hatten.

Manchmal ist es aber auch zum Federnausreißen…

Beim Auszug aus den oberen Sphären protestieren die Leute meistens lautstark, um es mal vornehm auszudrücken. Denn –hatten sie sich gerade ihrer Meinung nach endlich eingewöhnt und wussten – zumindest ein bisschen – wo der Osterhase im Himmel entlang hoppelte, da mussten sie auch schon wieder die nächste Erdenrunde antreten. Da waren einige eher wenig begeistert und forderten massiv eine erneute Diskussionsrunde mit den Reportern, dem zuständigen Flugpersonal oder gar dem Boss persönlich. Die ganz Gerissenen forderten ein Ad-hoc-Meeting mit dem Junior, weil sie sich von ihm noch das größte Verständnis erhoffen. Aber da war eigentlich auch nichts zu holen.

Der Junior war generell spendabel, auch mit erneuten Auslandsaufenthalten im irdischen Milieu. Und wenn der Boss oder sein Filius einen neuen Einsatz befohlen hatte, dann gab’s kein Bleiben, sondern nur ein „Zurück!“. Und zwar zur Erde.

Auf ein Neues…

Und der Wein musste in Zukunft wieder selbst bezahlt werden. Wie ärgerlich.

***

Ich sitze also gerade im Schwesternzimmer, dachte noch so, Mensch, hier könnte auch mal wieder renoviert werden, die von der Kasse sparen aber auch, wo sie können – da kommt so eine Dame im Fledermauskostüm mit langem Schleier auf mich zu, geradezu furchterregend ohne jeden Liebreiz, ungeschminkt und mit der typischen kleinen Armbanduhr (Lederbändchen!) und stellt sich barsch vor: „Schwester Lieselotte, ich bin hier für Sie zuständig! Die meisten nennen mich aber Lotti.“

Na, das kann ja heiter werden, war mein zweiter Gedanke, daran konnte so ein Spitzname auch nichts ändern. Die Fledermaus war ein Drache, wie er im Buche stand, dazu noch ein übergewichtiger, was sie noch uneleganter machte. Ein richtiger Trampel, der nur einen Gesichtsausdruck kannte: missmutig! Bestimmt hatte die eine Ehrennadel für Humorlosigkeit in ihrer kargen Vitrine stehen, so verbissen, wie sie daherkam.

Ich hatte mir das vollkommen anders vorgestellt in diesem angeblich renommierten Sanatorium mit erstklassigem Ruf.

„Fried-Karl Heinrich Moser, der Name“, versuchte ich höflich zu beginnen, aber da unterbrach sie mich auch schon: „Das ist mir vollkommen klar, Herr Fried-Karl Moser. Sie sind ja bekannter als ein bunter Hund – himmelsreichweit! Aber bilden Sie sich bloß nicht ein, dass ICH Sie Engel Karlchen nenne. Von derartig plumpen Intimitäten mit Patienten nehme ich generell Abstand, nur, dass wir uns da gleich richtig verstehen, Herr Fried-Karl.“

Mann, Mann, Mann – aber ich sollte sie ganz zutraulich „Lotti“ nennen? Was war denn das für ein vertrockneter Pinguin, den sie da auf mich losgelassen hatten? Die FlügelGesundheitsKasse hat wohl schon seit Längerem keine Qualitätsprüfung mehr in diesem Hause durchgeführt…

Hier war dringend der Überwachungsverein gefragt, das musste ich mir unbedingt merken!

„Fried-Karl wird natürlich auch immer gerne genommen“, versuchte ich die Situation ein bisschen aufzulockern.

Aber der Schuss ging auch nach hinten los.

„Ihr Flapsigkeiten können Sie sich sparen, Sie sind hier, um wieder flügelfit zu werden – damit Sie noch genügend Beiträge in die Rentenkasse zahlen und ihre Aufgaben möglichst lange und in Gesundheit ausüben können. Darauf sollten Sie ab sofort Ihre ganze Kraft lenken – vergeuden Sie also keine Energie mit Anbiedern und billigen Scherzen!“

Billige Scherze?

Soweit ich informiert war, handelte es sich bei meinen Bezügen um die höchste Gehaltsstufe, die für Engel überhaupt zur Verfügung stand. Wie konnten meine Scherze da billig sein?

Am liebsten wäre ich ad hoc wieder in den Zug gestiegen und in den „Gabriel-Distrikt“, wo mein gemütliches Zuhause war, zurückgefahren. Im Übrigen war heute sowieso St. Mauritius-Tag, also der heilige Tag der Briefmarkensammler, und damit stand eine obligatorische Wasser-zu-Wein-Party auf dem Tagesplan. Zuhause, bei uns im Distrikt… Ich hätte also ganz locker etwas viel Besseres zu tun gehabt, als mich ausgerechnet von diesem humorlosen Vogel anschnauzen zu lassen…

Diese Lotti hatte mir jedenfalls schon jetzt meinen Aufenthalt verhagelt, aber gründlich! Für mich war sie jetzt schon zur Drachenschwester par excellence geworden. Basta!

„Der Hausboy zeigt Ihnen Ihre Krankenstube. Um sieben Uhr ist Frühstück, um zwölf Uhr Mittagessen, danach Mittagsruhe, dann geht es um vierzehn wieder zu den Therapien – und um fünf Uhr ist Abendmahl. Ab acht Uhr abends haben alle Patienten auf ihren Stuben zu sein, um zehn Uhr ist Bettruhe und das Licht ist aus - und bleibt aus, klar?“

 

Wahrscheinlich war ich schon ganz blass – denn so einen Tagesablauf hatte ich mein Lebtag nie gehabt. Weder auf der Erde, noch im Himmel, wo ich – außer im Akasha-Tower – doch immer frei über meine Zeit entscheiden konnte, natürlich im Rahmen meiner mir übertragenen Aufgaben, der Betreuung meiner irdischen Schützlinge. Aber so gegängelt hat mich da niemand!

„Das Lotterleben mit freier Zeiteinteilung hat sich für Sie somit erledigt, hier herrschen Disziplin und Ordnung, ganz im Sinne unseres Ehrendoktors, dem werten Pfarrer Kneipp, der uns gelehrt hat, dass Ordnung nicht nur das halbe, sondern im Grunde genommen das ganze Leben ist.“

Fast hatte ich das Gefühl gehabt, als wären meine Flügel noch einmal viel schwerer geworden als vorher.

Diese Ansagen waren ja geradezu belastend! Jetzt musste auch noch der arme Pfarrer herhalten, wenn der das wüsste…

„Den Rehabilitationsplan entnehmen Sie der Ihnen persönlich zugeteilten Mappe auf Ihrer Kammer. Dort finden Sie alle wichtigen Informationen, damit Ihr Aufenthalt so reibungslos wie irgend möglich ablaufen kann und Sie den größtmöglichen Flügelnutzen daraus ziehen können. Seien Sie aber unbedingt jeweils zehn Minuten vor Behandlungsbeginn im Wartebereich, damit es nicht zu Verzögerungen kommt. Zeit ist Himmelsreichsmark! Und die FlügelGesundheitsKasse hat nichts zu verschenken. Ihr Aufenthalt hier belastet die Gemeinschaft schon genug…“

Da hatten wir es wieder.

Alles an diesem Aufenthalt war irgendwie mit Last verbunden…

So traumatisiert, wie ich durch diesen herzlosen Empfang nun war, hätten sie mich auch gleich in die psychiatrische Abteilung des St. Angelius stecken können. Da wäre ich ganz sicher kein bisschen aufgefallen…