Ardantica

Tekst
Sari: Ardantica #1
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Carolin A. Steinert

Ardantica Teil 1

CAROLIN A. STEINERT


Inhalt

Prolog

Ein Riss in der Wirklichkeit

Gelbe Augen

Naurénya

Theodor van Raiken

Wolfsgeheul in der Schwärze

Obsidian

Dunkelalben

Chayenne

Der Schreckenshelm

Wind aus der falschen Richtung

Ruinenstadt Barsques

Treibsand

Geheimnisse

Drachenbrut

Testamnestia

Epilog

Prolog

F

lügelschlag.

Ein Pfeifen ertönte, gefolgt von einem Donnern. Für einen kurzen Moment war die Nacht von einem leuchtenden Rot erfüllt, dann wurde es wieder dunkel.

Es war jedoch nur der Beginn, ein einzelner Vorbote und es dauerte etwa drei Sekunden, dann erklang das Pfeifen und Donnern erneut, schwoll an und der Himmel begann in allen möglichen Farben zu erstrahlen, während Nebel das natürliche Schimmern der Sterne verdeckte. Überall feierte man das Ende des alten Jahres und den Beginn des Neuen.

In Numäia hatte sich der Großteil der Bevölkerung am Palast eingefunden, wo das Feuerwerk das beste, größte und schönste sein sollte und wie jedes Jahr Bewohner aus ganz Naurénya angelockt hatte. Wie immer war der große Schlossplatz vollkommen überfüllt und es würde nicht lange dauern, bis die ersten Wesen einen harmlosen Streit miteinander anfangen würden. Noch aber war alles friedlich und alle Blicke richteten sich gen Himmel.

Ein grausames Lächeln zuckte über das Gesicht der Gestalt, die sich fernab des Trubels, hoch in der Luft, befand und sich langsam der Universität näherte. Ja, das würde ein interessantes neues Jahr werden …

Der riesige Universitätskomplex lag vollkommen verlassen. Natürlich. Alle wohnten den Feierlichkeiten bei. Die Gestalt blickte gen Osten. Das gedämpfte Donnern der Feuerwerkskörper war bis hierher wahrzunehmen, ebenso wie das phantastische Flackern der Lichter. Doch es war das Letzte, was jetzt von Interesse war. Die gigantische Gestalt wandte ihre Aufmerksamkeit vollends auf die Universität und ein leises Kribbeln im Bauch machte sich bei ihr breit. Es war keine Angst. Nein, Angst, dieses Wort existierte nicht einmal in ihrem Wortschatz. Es war Erregung, Spannung. Endlich war es soweit. Es …

Die Gestalt zuckte merklich zusammen. Ein Licht flackerte in dem nördlichen Gebäude auf. Es schien vollkommen verloren, wie ein gelber Stecknadelkopf inmitten einer schwarzen Masse. Das Wesen runzelte die Stirn und begann zu kreisen.

»Bibliothek«, knurrte die Gestalt und es klang, als schabten Steine übereinander. Was nun? Abbrechen? Nein!

Was passierte, wenn es Lebewesen erwischte? Wieder ein Lächeln. Konnte etwas mehr Eindruck machen, mehr Angst schüren? Vielleicht, wenn … Die unheimlichen Augen begannen vor Begeisterung zu leuchten. Vielleicht wäre das sogar noch besser als geplant. Wenn man es ausweiten könnte? Wie viel Kraft es wohl brauchen würde? Wenn es klappte, könnte es dem Ganzen noch eine viel interessantere Wendung geben. Mehr Druck. Es war beinahe ein unbedeutender Nebeneffekt – wie alles am heutigen Abend – es war lediglich so, dass es dem Zweck der Sache noch eine gewisse Portion Spaß hinzufügte.

Der Schatten am Nachthimmel schloss die Augen, hob die Hände und ließ die Magie aus sich herausströmen. Es sah aus, als ob plötzlich lange schwarze Finger nach dem Land rund um die Universität griffen. Stetig tasteten sie sich vorwärts, blieben kleben, zogen sich weiter, vermehrten sich und verschonten nichts! Kurz darauf begannen sie, die Fassaden der Gebäude zu erklimmen, verdichteten sich zu Ranken und schwollen an zu einer riesigen, mächtigen Masse.

Eine schwarze Welle überrollte das Universitätsgelände von Naurénya. Der Himmel wirkte noch dunkler als zuvor, denn im Gegensatz zur Hauptstadt bedeckte kein Feuerwerk das Firmament, sondern dunkle, heransausende Brocken. Sie stießen hinab und verschmolzen mit der schwarzen Masse, die unaufhörlich anschwoll und durch Ritzen, Schornsteine und offene Fenster drang und somit das Innere der Gebäude erreichte. Die zähe Masse griff nach absolut allem, was vorhanden war und bedeckte es. Das Wesen zitterte und richtete seine Aufmerksamkeit auf das nächste Haus.

Das kleine Licht in der Bibliothek flackerte und ein Schrei des Entsetzens ertönte. Dann wurde es still und dunkel.

Das Wesen lächelte, doch dieses Mal war es ein gequältes Lächeln. Es kostete so unglaublich viel Kraft. Noch nie hatte jemand so etwas Großes geschaffen. Die ausgestreckten Hände zitterten, doch das Wesen brach den magischen Strom nicht ab. Der Plan war es, über den Wald, bis weit ins Birmgebirge im Nordwesten vorzudringen. Nur sicherheitshalber.

Doch als der Körper immer mehr zu Beben begann, versiegte der Magiestrom. Der Schatten in der Luft taumelte, sank hinab und stieg langsam wieder in die Höhe. Es hatte jegliche Kraft und Energie gekostet. Müde Augen begutachteten das Werk voll erschöpfter Zufriedenheit.

Ein Gebrüll erklang. Dann durchzuckte ein Feuerstrahl die Nacht und erhellte kurz die Umgebung – ließ die entstandene Schwärze kalt und gefährlich glänzen. Das Wesen lachte leise, keuchend und verschwand schließlich als Schatten in der Dunkelheit – genauso unbemerkt, wie es erschienen war.

Doch die Schwärze blieb, während in der Ferne weiter Feuerwerkskörper bunte Bilder am Himmel malten.

Ein Riss in der Wirklichkeit

L

eyla drückte die schwere Portaltür auf und schlüpfte durch den schmalen Spalt hindurch, der sich auftat. Kaum hatte sie die Tür losgelassen, fiel sie mit einem dumpfen Poltern wieder hinter ihr zu. Sie hasste diese Türen! Warum zur Hölle mussten sie so schwer aufgehen? Hätte man sie bei den Sanierungsarbeiten nicht ersetzen können? Oder wenigstens ölen? Etwas in der Art jedenfalls. Ihr Blick glitt nach oben und sie seufzte. Noch mehr als die Türen hasste sie diese Treppen. Missmutig bewegte sie sich darauf zu und stapfte gedankenverloren hinauf. Bald begann sie zu schnaufen. Sie war schon recht spät dran, aber ein kurzer Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es immer noch genug Zeit war, um alibihalber auf die Toilette zu gehen.

Keuchend erreichte Leyla das eindeutig zu weit oben gelegene, erste Stockwerk. Ihr Herz wummerte von innen gegen ihre Brust. Sie atmete tief ein und schüttelte ärgerlich den Kopf. Sie wusste, dass sie nicht sonderlich sportlich war, aber diese verdammten Treppen! Die brachten wirklich jeden zum Schwitzen. Sie bog Richtung Toilette ab – und eigentlich mal wieder nur, um etwas zu Atem zu kommen, bevor es in den zweiten Stock ging. Sie streckte schon die Hand nach der Klinke aus, tat noch einen Schritt vor, als die Welt um sie herum plötzlich schwarz wurde. Sie zuckte zusammen, machte einen Satz rückwärts und blinzelte.

»Stehst du an?«, fragte eine blondgelockte junge Frau, die direkt hinter ihr stand.

»Äh …«, meinte Leyla und schüttelte dann verwirrt den Kopf. Mit großen Augen sah sie der Frau, die sich nun an ihr vorbeischlängelte, nach. Als diese die Toilettentür öffnete, konnte Leyla einen kurzen Blick auf ihr eigenes blasses, von Sommersprossen überdecktes Ich im Spiegel, direkt gegenüber der Tür, erhaschen. Dann fiel die Tür ins Schloss. Leyla starrte auf das weißlackierte Holz. Was war das gewesen? Was waren das dort für schwarze Fäden?

Sie zögerte, wollte erneut einen Schritt vorwärts machen, hielt aber inne.

»Oh man ey«, murmelte sie und drehte nervös an ihrem Ohrring. Dann wandte sie sich abrupt um und nahm die Treppen hinauf zum zweiten Stock ins Visier.

Ihre Uhr ging nach. Das wurde ihr just in dem Moment klar, als sie die Tür zum Vorlesungsaal öffnete und ihr nicht nur Stille entgegenschlug, sondern sich auch etwa hundert Augenpaare auf sie richteten. Furchtbar! Sie spürte, wie ihr Gesicht eine Farbe annahm, die derer ihrer Haare sicherlich Konkurrenz machte und sah sich hektisch um. Ziemlich weit hinten im Saal bewegte sich eine Hand leicht nach oben und Leyla sah zu, dass sie in eben jene Richtung eilte.

»In beiden Mengen ist die jeweilige Operation assoziativ«, der Dozent interessierte sich wenig für Leylas Zuspätkommen. Immerhin war er es gewohnt, dass seine Studenten tagtäglich nacheinander ankleckerten. Er fuhr unbeirrt fort, während Leyla den für sie freigehaltenen Platz erreichte. Erleichtert stellte sie fest, dass sich die Aufmerksamkeit der anderen Studenten wieder auf den Dozenten gerichtet hatte. Nur ein Kommilitone musterte sie eingehend.

 

»Dass ich das nochmal erleben darf«, grinste der blonde junge Mann sie an. »Leyla Sealak ist tatsächlich zu spät und das sogar schon im zweiten Semester. Ich dachte, du wartest damit wenigstens bis kurz vorm Abschluss.«

»Ach, sei still«, sagte sie lächelnd und fasste sich ins Gesicht. Sie glühte immer noch, aber langsam beruhigte sich wenigstens ihr Herzschlag. Wie sie es hasste zu spät zu kommen. Angestarrt zu werden und …

»Hey, Majik! Kommst du am Samstag auch mit zur Semesterbartour?«, flüsterte jemand. Neugierig lehnte Leyla sich vor, um zu sehen, wer gefragt hatte. Sie hatte die junge Frau mit dem silber gefärbten Haar zu Majiks Linken noch nie gesehen – glaubte sie zumindest.

Majik schüttelte den Kopf.

»Bin nicht da«, sagte er und gab sich dabei nicht die geringste Mühe leise zu sprechen, während er sich gedankenverloren in seinem harten Stuhl zurücklehnte und etwas eingehend betrachtete. Leyla folgte seinem Blick. Natürlich. Majik hatte nicht eine mathematische Gleichung mitgeschrieben, geschweige denn sich irgendwelche Notizen gemacht. Er hatte seinen neuen Comic aufgeschlagen und daran weitergearbeitet. Leyla runzelte die Stirn, zog ihre eigenen Unterlagen aus der Tasche und sah Majik mit einer Mischung aus Neugierde und Missbilligung an. Er lachte, deutete mit dem Kopf erst auf das Mädel zu seiner Linken, zuckte mit den Schultern und machte dann eine Kopfbewegung gen Comic. Verschwörerisch legte er einen Finger an die Lippen. Er deckte das Bild kurz ab und bedeutete Leyla damit, dass sie noch nicht gucken durfte. Dann nahm er seinen Bleistift zur Hand und vertiefte sich in seine Arbeit. Leyla seufzte und blickte über seinen gesenkten Kopf hinweg zu der jungen Frau, die ihre Aufmerksamkeit wieder auf Algebra gerichtet hatte.

Es war nicht so, dass Leyla Wert darauf legte zu einer Bartour zu gehen, aber es knabberte doch schon ein bisschen an ihr, dass niemand auf die Idee kam, sie zu fragen. Eingeladen wäre sie schon gerne geworden. Aber vermutlich kannte sie nicht mal jemand – höchstens als Majiks Anhang.

Leyla war nicht gut darin neue Kontakte zu knüpfen, ganz im Gegenteil zu Majik, der, seitdem sie angefangen hatten in Potsdam zu studieren und in Berlin zu leben, schon gefühlt hunderte von Menschen kannte. Wenn sie gemeinsam einen Seminarraum betraten, begrüßte er die meisten – teilweise mit Namen – und sie grüßten ihn, während Leyla versuchte, sich im Schatten in die vorderen Reihen zu schleichen. Daraus wurde selten etwas, denn Majik holte sie stets zurück in die letzten Reihen. Verständlicherweise, denn er hasste Mathe. Der einzige Grund warum er Mathe studierte, war sie, Leyla. Na ja und sein Vater, der ihm die Hölle heiß gemacht hatte, als herauskam, dass Majik Kunst und Design studieren wollte. Letztendlich …

Leylas Gedanken brachen abrupt ab, als ein schwarzes Flackern am Rande ihres Gesichtsfeldes ihre volle Aufmerksamkeit verlangte. Ihr Kopf zuckte herum. Kurz sah sie ein Blitzen, dann war es wieder weg. Sofort schoss ihr Puls wieder in die Höhe. Was war das gewesen? War das eben an der Toilette doch keine Einbildung gewesen? Hatte sie eine Sehstörung? Augenblicklich scannte ihr Gehirn sämtliche Erklärungen für »flackerndes, schwarzes Sichtfeld«, die sie in der Schulzeit gelernt hatte. Netzhautablösung. Schlaganfall. Kreislaufzusammenbruch. Migräne. Licht. Licht! Sie blickte gen Fenster, zu den hohen Bäumen und versuchte sich durch konzentrierte Atmung zu beruhigen. Es war ein Licht und Schattenspiel. Die Blätter der Bäume draußen bewegten sich sanft im Wind. Sie atmete entspannt aus. Für alles gab es eine logische Erklärung! Man durfte nur nicht immer gleich in Panik verfallen. Dennoch achtete sie die gesamte Vorlesung über auf dunkle Schemen, schwarze Punkte und sonderbar flackernde Flächen.

»Was sagen Sie dazu? Äh …« Der Dozent warf einen Blick auf die erste Seite der Seminarteilnehmerliste. »Herr Dryska?« Majik zuckte zusammen und hob den Kopf.

»Ich …« Er warf einen Blick auf Leylas Block und zuckte erneut zusammen. Der Block war leer. Hilfesuchend sah er Leyla an, doch sie war soeben selbst erst aus ihren Gedanken aufgeschreckt und hob entschuldigend die Schultern.

»Ich weiß nicht«, sagte Majik und der Dozent seufzte resigniert.

»Was ist los mit dir? Zu spät. Keine Notizen. Bist du krank?«, fragte Majik scherzhaft, kaum dass der Kurs beendet war und räumte seine Sachen zusammen.

»Das ist nicht witzig!«, rief Leyla hilflos. »Ich bin vollkommen neben der Spur, ich …« Sie überlegte kurz, ob sie Majik von der Schwärze erzählen sollte, zuckte dann aber nur die Schultern. Warum sollte sie ihn mit ihren Fata Morganen belästigen, er hatte genug im Kopf. Er legte ihr den Arm um die Schultern und zog sie mit sich.

»Ach Kleines, bleib cool. Wir sind jetzt Studenten. Wir machen nichts bis kurz vor den Prüfungen und lernen dann einfach zwei Tage vorher die ganze Nacht durch.«

Sie lachte. »Das hat ja bei dir im letzten Semester unglaublich gut funktioniert, nicht wahr?«, fragte sie scherzhaft und schob die schwarzen Punkte in den hintersten Winkel ihres Gehirns.

»Jaaa«, sagte er gedehnt und verzog das Gesicht. Er war im ersten Semester durch drei Matheprüfungen gerasselt und hätte Leyla nicht mit ihm gepaukt ohne Ende und sein Essay geschrieben, hätte das bei Familie Dryska vermutlich ganz schön was gesetzt.

»Du kannst am Wochenende nicht?«, wechselte Leyla spontan das Thema und Majik verharrte kurz.

»Ja, ich …« Er seufzte. »Können wir unser Treffen verschieben? Weil … Montag ist doch frei – Erster Mai, du weißt schon und da wollte ich nach Hause fahren.«

»Kein Problem«, warf sie prompt ein. »Ich wollte dich auch fragen, ob wir das verschieben können. Ich muss arbeiten. Kanyo hatte mal wieder einen kleinen Wutanfall von wegen 15-Stunden-Woche und so.« Kanyo war Chef in dem Café, in dem sie hin und wieder arbeitete, um das Geld für die eigene Wohnung in Berlin zusammenzukriegen. Unglücklicherweise ließ sie sich dort neuerdings nicht mehr allzu oft blicken, weil sie noch einen zweiten Job als Werkstudentin im Bereich Risk Management angenommen hatte. »Wirst du deinem Vater beim Golfen wieder einmal deinen Zukunftsplänen lauschen müssen?«, fragte sie und er verzog das Gesicht.

»Nicht ganz, aber fast genauso schlimm. Eigentlich fahre ich wegen Katja.«

Jetzt hielt Leyla inne. Sie stoppte kurz und sah ihn von der Seite an, biss sich aber gerade noch rechtzeitig auf die Zunge und schluckte ihre Kommentare herunter. Majik war es dennoch nicht entgangen.

»Ja, ja ich weiß. Ich sollte endlich Schluss machen und dieses Mal wirklich. Ihre Eifersucht treibt jeden noch in den Wahnsinn. Sie ist ein Nervenbündel und du kannst sie nicht ausstehen – sie dich auch nicht. Habe ich irgendetwas vergessen?«

»Das war schon eine ziemlich treffende Zusammenfassung, auch wenn ich es etwas anders verpackt hätte. Und ich hätte hinzugefügt, dass du schon acht verdammte Male mit ihr Schluss gemacht hast. Acht! Wo soll das hinführen?«

»Ich weiß, aber … Ach, lassen wir das Thema. Ich habe jetzt keine Lust über sie nachzudenken, sie hat mir gestern Abend schon wieder ein Ohr abgekaut. Am liebsten wäre es ihr, ich würde mein Studium hier schmeißen, zurückgehen und in Ilmenau studieren. Was übrigens nicht zuletzt an deiner Anwesenheit liegt.«

»Na, dein Vater würde sich freuen«, meinte Leyla, hakte sich bei ihm unter und zog nun ihn mit – Richtung Bibliothek. Sie hatten das Thema schon gefühlte hundertmal diskutiert und sie wussten beide, dass es nichts änderte. Majik würde bei Katja bleiben – aus Gründen, die Leyla wohl nie verstehen würde, ebenso wie er in Berlin bleiben würde, um seinem Vater zu trotzen und zu entfliehen.

Plötzlich schien er etwas unstet und versuchte das Gespräch wieder aufzunehmen.

»Also, zurück zum Thema. Wir haben ja am Freitag frei, dann werde ich nach Hause fahren. Da Montag frei ist … Also ich gehe dann noch Dienstagabend mit meiner Familie ins Theater. Weil … Also wegen des Hochzeitstages meiner Eltern und … Du hättest natürlich mitkommen können. Dann hättest du zu deiner Familie und … Aber ich dachte, wegen Katja und …«

Sie kniff die Augen zusammen. »Was ist los?«.

»Ich komme erst Mittwoch zurück. Abends. Spät.«

»Kein Problem. Ich gebe dir meine Mitschriften. Du hast ja Dienstag und Mittwoch eh nur Mathekurse und …« Sie hielt inne und sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Oh.«

»Es tut mir leid, ich wusste nicht, wie ich es anders arrangieren sollte und …« Er sah sie aus seinen tiefbraunen Augen treuherzig an. »Wir feiern am Wochenende nach. Versprochen!«

»Schon okay«, sagte Leyla knapp, zog ihren Arm zurück und drückte die Bibliothekstür auf.

»Ley!«, meinte er etwas flehend.

»Nein, wirklich. Das ist okay, ich verstehe das. Wir können ja auch immer noch nächsten Samstag zu dem Film.«

Er wartete. Vermutlich auf eine ihrer sarkastischen Bemerkungen, die er so mochte. Aber sie schwieg, stopfte ihre Sachen in den Spind und schloss ab.

»Fertig?«

Er nickte seufzend und folgte ihr zu den Bücherregalen.

Die nächsten Tage schienen nur so an Leyla vorbeizufliegen. Gewissenhaft erledigte sie ihre Hausaufgaben, hetzte weiter zur Arbeit und am verlängerten Wochenende hatte sie keine Gelegenheiten über irgendwelche Dinge nachzudenken, da Kanyo sie als Kellnerin für Hochzeitsgesellschaften und Geburtstage einspannte.

Es passte ihr nicht sonderlich, so viel arbeiten zu müssen, aber sie brauchte das Geld und den April beendete sie immerhin mit einem dicken fetten Plus auf dem Konto.

Dienstag, in der Uni, fühlte sie sich allerdings plötzlich ziemlich einsam. Zwar saß sie endlich in der ersten Reihe, aber das befriedigte sie auch nicht. Lustlos kritzelte sie in ihr Notizbuch und konnte es kaum erwarten, endlich nach Hause zu kommen. Wohlwissend, dass der Mittwoch nicht anders verlaufen würde. Und so war es auch.

Ihre Laune erreichte einen absoluten Tiefpunkt. Um sich aufzuheitern, beschäftigte sie sich in Lineare Algebra mit Knobelspielen, statt mitzuschreiben.

Ihr Handy klingelte. Zum Glück nur lautlos, aber das Display begann verräterisch zu leuchten. Sie schaute darauf. Es war ihre Familie. Leyla drehte das Handy mit dem Display nach unten, um nicht in Versuchung zu kommen, aus dem Raum zu gehen, um das Telefonat anzunehmen und wartete darauf, dass der Dozent den Kurs beendete. Als das geschah, sprang sie sofort auf.

»Hey«, sagte eine Stimme hinter ihr und jemand tippte ihr auf die Schulter. Überrascht wandte sie sich zu der Kommilitonin um.

»Leyla Sealak, richtig?«, fragte die junge Frau und Leyla versuchte sich zu erinnern, wo sie das Gesicht schon einmal gesehen hatte.

»Ja?«, fragte sie leicht irritiert und etwas nervös darüber, mit einer fremden Person sprechen zu müssen, während sie ihre Tasche packte.

»Ich bin Emma. Ich habe mich bei dir und Majik zum Vortrag über Kryptografie hinzugeschrieben. Ich hoffe, das ist okay.«

Leyla blickte auf und erinnerte sich plötzlich daran, dass dies das Mädchen war, das Majik in der vergangenen Woche auf die Bartour angesprochen hatte. Die silbernen Haare – warum färbte sie sich die Haare grau, dachte Leyla kurz – waren doch recht auffällig.

»Äh. Okay. Ja, gut«, stammelte sie. »Gut zu wissen. Also, äh, wir haben noch keinen Plan. Also ich meine: Gliederung. Wir haben uns noch keine Gedanken zu dem Thema gemacht.«

»Super. Es ist ja auch noch ein bisschen Zeit bis zum Vortrag. Ich melde mich dann später einfach bei euch per Mail und dann können wir ja gemeinsam überlegen, wie wir vorgehen wollen«, sagte die junge Frau lachend und ging. Leyla seufzte. Nachdenklich schulterte sie ihre Tasche und folgte ihr aus dem Raum. Unschlüssig sah sie sich um. Das war der letzte Kurs für heute gewesen. Was sollte sie mit dem restlichen Tag anfangen? Allein? Sie könnte …

Das erneute Klingeln ihres Handys unterbrach den Gedankengang.

»Hey, Mom!«

Während sie erst den Geburtstagsglückwünschen ihrer Mutter, dann ihres Vaters lauschte und sich zum Schluss noch ein gekrähtes Lied ihrer kleinen Schwester anhörte, wanderte sie durch den angrenzenden Park der Uni. Die Maisonne schien herrlich und sie hatte beschlossen einen Relaxtag einzulegen. Das hieß, schön spazieren gehen, ohne sich um irgendetwas Gedanken zu machen, ein Eis essen und am Abend wollte sie mit einem guten Buch in die Wanne.

 

»Danke«, sagte sie und lächelte leicht, als sie auflegte. Sie verstaute ihr Handy in der Tasche, als ein merkwürdiges Geräusch ertönte. Immer noch mit dem Blick in der Tasche, verlangsamte sie ihr Tempo. Ein unheimliches Knirschen und Knacken begleitete ihre Schritte. Sie verharrte, sah noch einmal auf ihr Handy, doch das schien in Ordnung. Sie machte einen weiteren Schritt. Es knirschte. Aus dem Augenwinkel nahm sie etwas wahr. Sie löste ihre Augen von der Tasche und blickte ganz langsam auf.

»Was um …?«, stieß sie panisch hervor und wich zurück. Weiter und immer weiter zurück. Ihr Puls raste. Sie stieß die Luft aus, atmete schnell. Es knackte abermals. Dann stand sie wieder auf dem gepflasterten Weg und starrte mit schreckensbleichem Gesicht in den Schlosspark. Ein leichter Wind säuselte durch die Blätter und irgendwo erklang frohes Vogelgezwitscher.

»Ich werd’ irre«, flüsterte Leyla und suchte mit den Augen angstvoll und doch hoffend, dass sie nicht irre wurde, nach dem, was sie eben gesehen hatte. Aber alles war ruhig. Nur vor ihren Augen bewegte sich die Luft, als würde sie vor Hitze flirren und hauchzarte, schwarze Fäden durchzogen Leylas Blickfeld an dieser Stelle. War doch etwas mit ihren Augen nicht in Ordnung? Leyla stolperte weiter rückwärts. Jetzt wollte sie ganz dringend nach Hause. Ihr Handy klingelte abermals.

»Leyly! Happy, happy Birthday!«, ertönte es und während Leyla zum Bus taumelte und abwechselnd die Augen schloss, stark blinzelte und durch die Gegend starrte, lauschte sie nun den Glückwünschen ihrer Kindergartenfreundin Andrea.

»Ich dachte ja erst, du bist vielleicht in town und hast mir nicht Bescheid gesagt«, rief die und Leyla versuchte sich auf das Gespräch zu konzentrieren.

»Was? Wieso?« Sie sah sich um und blinzelte erneut. Aber da waren keine schwarzen Flecken mehr.

»Ich bin Majik gestern übern Weg gelaufen.«

»Majik?«, fragte sie irritiert.

Dann, langsam, begann ihr Gehirn wieder damit, die Arbeit aufzunehmen.

»Ja, Ilmenau ist halt nicht so groß, ne. Und da dachte ich, ihr macht euch einen fetten an deinem Geburtstag, in der Heimat und du sagst mir einfach nicht Bescheid. War erst echt ein bisschen angepiekst. Aber nee, dann kam Katja angestiefelt und ich dachte mir so: woa, nee, ne?! Und mir war alles sofort klar.«

Leyla musste ein Lachen unterdrücken. Andrea war immer alles sofort klar, auch wenn sie nicht selten die falschen Schlüsse zog. Aber sie revidierte ihre Meinung auch sehr gerne, von daher war das kein Problem.

»Hättest doch mit ihm runterfahren können und wir hätten ’nen Girlsday gemacht.«

»Ich habe Uni, Andy!«, rief Leyla beinahe tadelnd.

»Scheint Majik ja auch nicht zu stören. Hat er heute schon angerufen?«, fragte Andrea sehr interessiert.

»Ja, ungefähr sieben Mal.«

»Du bist nicht rangegangen?«

»Ich habe Uni …«

»Ach, bitte! Wer kennt deinen Stundenplan und die Pausenzeiten besser als er? Du bist sauer! Weil er nicht da ist, an deinem Geburtstag? Vermisst du seine Gesellschaft?« Aus irgendeinem Grund klang Andreas Stimme triumphierend und Leyla wusste, dass sie wieder ihre Schlüsse zog.

»Nein, ich verstehe das«, versuchte sie das Gespräch zu retten, denn sie wusste, was kommen würde.

»Ja, ich finde auch, dass er mit Katja Schluss machen sollte. Ihr wärt das perfekte Paar.«

»Andy!«, tadelte Leyla schwach und stieg in den Bus ein.

»Ist doch wahr«, fuhr Andy ein wenig gekränkt von der genervten Zurechtweisung fort. »Gefühlt ganz Ilmenau weiß, dass er nur mit Katja zusammen ist, weil er dich nicht haben kann. Nur du checkst das nicht. Oder willst es nicht checken.«

Leyla überlegte kurz, ob sie vehement widersprechen sollte, dann sagte sie aber nur: »So lange er nichts sagt, kann ich so tun, als wüsste ich nichts. Er ist mein bester Freund!«

»Bei dir klopft jemand an«, lenkte Andrea ein und Leyla warf einen Blick auf das Display.

»Majik.«

»Na, dann will ich mal nicht die Leitung weiter besetzen. Hasta luego, Süße.« Und mit diesen Worten legte Andrea einfach auf.

»Du bist sauer auf mich«, sagte Majik leise und etwas anklagend, als Leyla wortkarg neben ihm herlief. Tatsächlich hatte es gerade herzlich wenig mit Majik zu tun, dass ihre Stimmung so merkwürdig war. Zweimal hatte sie am gestrigen Tag noch dieses komische Flackern an der Uni gesehen und allmählich machte sie sich wirklich Sorgen. Nur halbherzig hatte sie deswegen Majiks Geschenk begutachtet: Ein Comic mit Leyla in der Hauptrolle – die Figur hatte wirklich verblüffend viel von Leyla, auch wenn sie ihrer Ansicht nach deutlich hübscher war, als Leyla sich selbst fand – und einen »Ich gestalte dir einen rundum coolen Tag«-Gutschein. Sie hatte sich abwesend bedankt und alles in die Tasche gepackt.

»Ich bin nicht sauer«, sagte sie nun.

»Ich musste dir auf den Anrufbeantworter sprechen, um dir zu gratulieren, weil du nicht ans Telefon gegangen bist. Und als ich dich heute Morgen abholen wollte, warst du schon auf dem Weg zur Uni. Allein. Mit dem Bus!«, sagte er. Es war jedoch kein Vorwurf in seiner Stimme. Sie sah ihn von der Seite an und fühlte sich plötzlich unglaublich mies, als sie sah, wie traurig er dreinschaute. Sie war natürlich auch tatsächlich ein wenig enttäuscht gewesen, aber hatte sie dazu eine Berechtigung?

»Tut mir leid«, sagte sie lächelnd und umarmte ihn. »Ich bin zurzeit nicht gut drauf. Komm, lass uns etwas essen gehen und dann erzählst du mir den neuesten Straßenklatsch von Ilmenau. Ich will mir nur noch schnell die Hände waschen. Ich möchte gar nicht wissen, was da unter meinem Stuhl geklebt hat.« Angewidert sah sie auf ihre Hände. Majik war augenblicklich versöhnt.

»Okay. Ich warte hier auf dich.«

Sie nickte und stieg die Treppe hinauf.

Ein leichtes Prickeln überzog ihre Haut, als sie sich der Toilettentür näherte. Sie sah das Flackern und obwohl sie sich davor gefürchtet hatte, erstaunte es sie nicht wirklich, als die Welt plötzlich wieder schwarz wurde. Es beruhigte sie sogar ein wenig. Wenn es immer an denselben Stellen geschah, konnte das doch nichts mit ihr zu tun haben, oder? Zögernd blieb sie stehen und zum ersten Mal rannte sie nicht weg, sondern sah sich um.

Sie stand in einem Raum von der Größe eines Seminarraums. Durch die hohen Fenster gegenüber fiel kaltes Licht und beleuchtete schwach Regale voller Bücher an der linken Seite, einen alten Sekretär davor und viele schlichtere Tische und Stühle. In der Tat sah es aus wie ein Klassenraum. Ein Klassenraum, in dem jedes einzelne Detail schwarz war. Leyla schauderte und machte ein paar weitere Schritte in den Raum. Ihre Schritte hallten auf dem schwarzen Steinboden wider und verklangen in der Leere. ›Stein!‹, dachte sie und fuhr mit den Fingern über den reichverzierten Sekretär. Es schien, als wäre alles aus Stein. War es ein Filmset? Ein Museum? Sie schüttelte den Kopf. Das war eindeutig ihre Phantasie, die mit ihr durchging. Hatte sie sich überarbeitet? Sie musste mit Majik reden. Eilig ging sie auf die angelehnte Tür zu. Dann zögerte sie. Was wenn sie durch die Tür nicht zurück in die Wirklichkeit kam? Vielleicht war irgendetwas in ihrem Kopf, ein Tumor oder ähnliches und sie war ohnmächtig geworden und befand sich in einer Art Koma? Ihr Nacken fing unangenehm an zu Prickeln und sie erschauderte. Sie hatte das Gefühl, als würden sich unsichtbare Augen in ihren Rücken bohren. Mit aller Macht versuchte sie dem Gefühl entgegenzuwirken, zu widerstehen und weiterzugehen. Dann drehte sie sich doch um. Nur um sich zu vergewissern. Nur schnell schauen und sichergehen, dass niemand hier war, in dieser unheimlichen Fata Morgana.

Ihr Blick huschte von den Regalen links, durch den Raum, über die Tische und Stühle – und war das etwa ein versteinerter Federkiel, ein Tintenfass?! Es war alles so detailreich! – zur rechten Seite. Diese Seite lag im Dunkeln. Ein unbeweglicher schwarzer Vorhang hing vor dem letzten Fenster und das Licht von vorne hatte nicht die Kraft, um in die hintersten Ecken vorzudringen. Leyla machte einen Kamin aus und … aus der Dunkelheit daneben schälten sich zwei furchterregende, leuchtend gelbe Augen.

Sie verlor die Fassung, schrie und machte einen Satz auf die Tür zu, doch noch bevor sie diese erreicht hatte, machte sie ein Flackern aus und stand mit weit aufgerissenen Augen im Universitätsflur. Augenpaare – normalfarbene – richteten sich auf sie. Leyla klappte den Mund zu und hörte auf zu schreien. Sie lächelte nervös und entschuldigend und lief die Treppe hinunter – so schnell sie konnte.

»Die Hygiene hier an der Uni ist wirklich unterirdisch«, hörte sie jemanden sagen, während sie auf die Portaltür zusteuerte. Jemand packte sie an der Schulter. Sie holte Luft, doch der Laut erstarb auf ihren Lippen, als sie Majik erkannte.