Hockneys Leben

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Der Humor des griechischen Dichters hatte es ihm gleich angetan. Eines seiner Lieblingsgedichte trug den Titel Warten auf die Barbaren, und eine Zeile kehrte immer wieder: «Die Barbaren kommen heute.» Der letzte Vers offenbarte, dass die Barbaren, deren Kommen man so gefürchtet hatte, nun doch fernbleiben würden, und es hieß: «Diese Menschen waren irgendwie doch auch eine Lösung.» Wie wahr! Und wie sehr man ständig nach heuchlerischen Ausflüchten suchte! Wie sehr es den Menschen an Kühnheit und Freiheit mangelte! Die beiden Dichter, der griechische und der amerikanische, drückten all das aus, was David fühlte, und zwar in schlichten Worten, die er verstehen konnte, nicht so wie Proust, dessen Aussage sich ihm nicht erschloss. «And his arm lay lightly around my breast – and that night I was happy», schrieb Whitman über die Liebe zwischen zwei Männern. Die Zweifel des vergangenen Jahres waren endgültig ausgeräumt; man musste malen, was für einen selbst zählte. David war gerade dreiundzwanzig geworden. Es gab nichts Wichtigeres als Begehren und Liebe. Er musste beim Malen die Verbote unterlaufen, so wie es Whitman und Kavafis mit Worten gelungen war. Dazu konnte ihn kein anderer ermächtigen, kein Professor und kein Künstler. Diese Entscheidung musste er selbst treffen, sie betraf seine Kreativität, seine gelebte Freiheit.

In die nächste Bilderserie, die er an der Hochschule malte, schmuggelte er Worte oder sogar Sätze ein; einige stammten von Walt Whitman, beispielsweise We two boys together clinging, andere hatte er als Graffiti an der Tür der Männertoiletten in der U-Bahn-Station Earls Court gelesen, etwa «Ruf mich an unter …» oder «Mein Bruder ist erst siebzehn». Die Figuren waren geometrisch, wie auf Kinderzeichnungen, erkennbar durch ihr Haar, ihren Mund, ihre Zähne, ihre Teufelsohren oder den erigierten Penis. Um sich selbst in seine Bilder einzuschreiben, borgte sich David von Walt Whitman einen kindlichen Code, der darin bestand, dass er die Buchstaben des Alphabets durch Ziffern ersetzte; die Ziffern 4.8 erschienen winzig klein auf der Leinwand und ersetzten seine eigenen Initialen, die Ziffern 23.23 standen für Walt Whitman. Die Zahlen waren so winzig und fein gemalt, dass man sie auch bewusst übersehen und Davids neue Werke in einem rein ästhetischen Kontext interpretieren oder den Einfluss von Pollock oder Dubuffet ausmachen konnte. Seine Professoren merkten nichts (oder sie taten wenigstens so). Er hatte eine ausgezeichnete Möglichkeit gefunden, das System zu überlisten.

Er litt nicht mehr unter der inneren Orientierungslosigkeit des Vorjahrs, er malte unablässig, ein Bild nach dem anderen. Sein Tagesablauf nahm feste Formen an: Er kam früh, wenn noch niemand außer Ron in der Hochschule war, und malte zwei Stunden lang in Ruhe, bis die anderen Studenten eintrafen. Gegen 15 Uhr, wenn seine Mitstudenten ihre Staffeleien stehen ließen und Tee tranken, verzog sich auch David und ging ins Kino, allein oder mit Ann, der hübschen rothaarigen Freundin eines seiner Kommilitonen, die amerikanische Filme ebenso liebte wie er. In die Hochschule kehrte er zurück, wenn die anderen nach Hause gingen, und arbeitete weiter bis spät in die Nacht. Wo hätte er auch sonst hingehen sollen? Aus dem winzigen Zimmer, das er sich mit einem Bekannten geteilt hatte, war er ausgezogen und wohnte nun auf demselben Grundstück und zum selben Preis in einem Gartenhäuschen. Das Alleinsein gefiel ihm, aber sein neues Domizil war so wenig komfortabel, dass er dort nichts anderes tun konnte als schlafen.

Im September war ein neuer Student gekommen, der Amerikaner Mark, offen homosexuell wie Adrian. Er hatte aus den USA etwas mitgebracht, das David sich eilig von ihm auslieh: Zeitschriften mit Fotos von blonden, muskulösen jungen Männern in Slips, die mehr offenbarten, als sie verhüllten. Wenn er sie betrachtete und spürte, wie sein Verlangen geweckt wurde, fragte er sich erneut, warum etwas so Schönes, das so viel Genuss verschaffte, versteckt werden musste. Die Zeitschriften wurden in den Vereinigten Staaten gedruckt. Zwei seiner drei engsten Freunde auf der Hochschule waren Amerikaner. In der Stadt, in der er seine Jugend verbracht hatte, war er nie wissentlich einem Schwulen begegnet, und jeder sexuelle Kontakt zwischen zwei männlichen Erwachsenen, auch wenn er einvernehmlich war, galt nach britischem Recht als Straftat. Die jungen blonden Männer, die auf den Seiten von Physique Pictorial triumphierend ihren Bizeps zur Schau stellten, weckten in ihm den Wunsch, auf der Stelle nach Amerika zu fliegen. «Solltest du mal nach New York kommen, bist du bei mir herzlich willkommen», hatte Mark zu ihm gesagt, als könne er einfach in den Zug steigen und mal eben nach New York fahren wie nach Bradford. Ein Flugticket kostete bestimmt mehrere Hundert oder gar Tausende Pfund. Es war ein fremder Planet. David hatte Großbritannien noch nie verlassen.

Er war Mark, Adrian und Ron dankbar für den Hauch von Freiheit, der neuerdings durch sein Leben wehte. Wenn er zu Weihnachten oder Ostern zu seinen Eltern nach Bradford fuhr, freute er sich auf die gute vegetarische Mahlzeit, die seine Mutter kochte, und auf die Gespräche mit den Eltern und den Geschwistern. Sie forderten ihn auf, von seinem Leben in der Großstadt zu erzählen, und David erklärte ihnen, was amerikanischer abstrakter Expressionismus war; er sprach über die Ausstellung der zeitgenössischen jungen Künstler, für die die Kritik den Begriff «Pop Art» erfunden hatte. Er erzählte von dem jungen Kunsthändler, dem die vier Gemälde, die er ausgestellt hatte, um seine malerische Virtuosität zu demonstrieren, sehr gut gefallen hatten. Ein vielversprechender Beginn. Aber wie hätte er über die Fotos aus Physique Pictorial sprechen sollen, über Marks und Adrians Homosexualität, über die Männer, mit denen er auf U-Bahn-Toiletten Blicke wechselte, und über seinen Wunsch, mithilfe der Malerei eine Realität darzustellen, über die er Stillschweigen bewahren musste? Sein älterer Bruder war verheiratet, der jüngere verlobt. Keiner fragte David, ob er eine Freundin habe. Das Thema wurde einfach ausgeklammert, so als besitze ein Künstler keinen Körper – oder als wüssten alle Bescheid, wollten es aber nicht wahrhaben.

Doch David hatte einen Körper. Und ein Herz.

Eines Tages führte einer seiner Mitstudenten am Ende eines feuchtfröhlichen Abends am Royal College einen neuen Tanz vor, der sich Cha-Cha-Cha nannte. David sah ihm von seinem Stuhl aus zu, und als Peter ihn anlächelte und die Hand ausstreckte, um ihn zum Tanzen aufzufordern, ging ihm dieses Lächeln durch und durch. Es traf ihn mitten ins Herz. Liebe auf den ersten Blick. Er war aufgewühlt und wie benommen, seine Ohren brannten. Er hatte keine Lust zu tanzen. Er sah lieber zu. Er verlangte noch eine Demonstration, und noch eine, und konnte den Blick nicht von dem grazilen Körper wenden, den Hüften, die abwechselnd laszive Schwünge nach rechts und nach links vollführten, und den sinnlichen, wie zum Kuss aufgeworfenen Lippen, mit denen der junge Mann für ihn sein «cha-cha-cha» sang. Peter war aufreizender als Marilyn, aufreizender als die lebendige Puppe aus dem Song von Cliff Richard, den David so mochte. Living Doll. Eine Jungen-Puppe. Doll Boy. David hätte ein Königreich für einen Kuss gegeben, aber er war höflich und schüchtern und wagte es nicht, und vor allem wusste er, dass Peter eine Freundin hatte. Monatelang verfolgte ihn die Erinnerung an diesen Anblick. An den Abend, an dem Peter mit seinen geschmeidigen Hüften und aufgeworfenen Lippen für ihn getanzt hatte. Dieses brennende Verlangen, diese Sehnsucht nach Peters Verlangen, nach seinem Körper hätte er gern in seinen Bildern ausgedrückt; es war ein Verlangen, das ihn zerriss, denn auf der einen Seite gab es den Sex, auf der anderen die Liebe, und beides ließ sich nicht in Einklang bringen. Er erlebte es nur dann, wenn er vor seiner Staffelei stand und sich beim Malen von The Cha Cha that was danced in the Early Hours of 24th March 1961 quicklebendig fühlte und vor innerer Erregung bebte, wenn er auf dem Hintergrund von kräftigem Rot, Blau und Gelb die Bewegungen von Peters Körper nachempfand und in winzigen Buchstaben an verschiedenen Stellen «I love every movement», «penetrates deep down» und «gives instant relief from» einfügte. Das war kein Gemälde. Das war das Leben.

Er hatte im Herbst so viel gemalt, dass er, wie die Grille, die den ganzen Sommer über gesungen hat, im Winter keinen Penny mehr für Leinwand und Farben besaß. Glücklicherweise gab es die Abteilung Grafik, die den Studenten kostenlos Material stellte. David hatte keine Wahl. Doch bei seinen Radierungen ging er nicht anders vor als bei den Gemälden, er tat, was ihn interessierte, er ritzte seine ureigenen, von Whitman oder Kavafis inspirierten Visionen in die Platte. Im April bot ihm ein Kommilitone für vierzig Pfund ein Flugticket nach New York an, das er selbst nicht nutzen konnte. Vierzig Pfund für einen Flug nach New York? Das war ein Angebot, das man nicht ablehnen konnte. David schwor sich, das Geld aufzutreiben. Er würde es sich erarbeiten.

An einem regnerischen Apriltag hatte er, als er die Tür seines Gartenhäuschens am Earls Court hinter sich zuzog, gerade noch zehn Shilling in der Tasche – seine gesamte Barschaft. Es goss in Strömen. Auf der anderen Straßenseite stand ein Taxi. Die Fahrt zum Royal College kostete fünf Shilling, die Hälfte seines Vermögens, die nicht weit entfernte U-Bahn dagegen nur wenige Pence, aber in diesem Fall stünde ihm noch ein zehnminütiger Fußweg zur Hochschule bevor. Plötzlich überkam ihn der heftige Wunsch, das zu tun, was für viele Londoner ganz normal war: die Straße überqueren, die Taxitür öffnen, sich in die trockene, bequeme Fahrgastkabine setzen und mit selbstverständlicher Autorität sagen: «Zum Royal College, bitte.» Und das tat er denn auch.

 

In der Hochschule erwartete ihn ein Brief. Als er den Umschlag aufriss und ein dreifach gefaltetes Blatt herauszog, flatterte ein Stück Papier zu Boden. Er hob es auf. Es war ein Scheck über einhundert Pfund, ausgestellt auf seinen Namen. Verblüfft starrte er darauf, in der festen Überzeugung, seine Phantasie spiele ihm einen Streich. In dem beigefügten Brief beglückwünschte ihn ein gewisser Mr. Erskine, von dem er noch nie etwas gehört hatte, zu einem Preis, der ihm für seine Radierung Three Kings and a Queen zuerkannt worden war. David hatte in der Tat eine Radierung mit diesem Titel angefertigt, aber er hatte sie nie zu einem Wettbewerb eingereicht. Er verstand es nicht. Es war ein Rätsel, oder ein Scherz der Götter. Gerade eben hatte er aus einer Laune heraus, ohne einen Gedanken an die Zukunft, seine letzte Barschaft ausgegeben, und nun belohnte ihn eine gute Fee mit hundert Pfund. Später, als er bereits auf Reisen war, erfuhr er, dass es sich bei der guten Fee um einen Professor des Fachbereichs Grafik handelte, der Davids Radierung auf einem Regal gefunden und sie, ohne ihn zu fragen, der Jury zugeschickt hatte. Doch für David war diese Information zweitrangig – aus seiner Sicht spielte das Taxi die entscheidende Rolle.

Kurz vor Sommeranfang gelang es ihm, mehrere Bilder und einige Grafiken zu verkaufen. Im Juli setzte er sich mit dreihundert Pfund in der Tasche ins Flugzeug nach New York. Er war gerade vierundzwanzig geworden. Am Kennedy Airport nahm ihn Mark in Empfang.

Eine solche Hitze hatte David noch nie erlebt. Sie war feucht, drückend, unerträglich, und er schwitzte so stark, dass sein Hemd ständig an der Haut klebte, aber er war in der Stadt, von der er geträumt hatte, einer Stadt voller Lichter, Lärm und Lebendigkeit, in der man um drei Uhr nachts ein Bier oder die Zeitung kaufen konnte. Und wie viele Schwulenbars es hier gab! Und wie viele vegetarische Restaurants! Museen auch, gewiss, und er besuchte sie natürlich. Doch dazu war er nicht hergekommen. Times Square, Christopher Street, East Village. Die Kinos, die Sex-Shops, die Clubs, die Pontons am Hudson River, wo die Männer mit nacktem Oberkörper umherliefen, diese ganze Saloppheit eines brütend heißen Sommers. Er wohnte bei Mark, dessen Eltern ein Haus auf Long Island besaßen, und lernte einen Freund von Mark namens Ferrill kennen, der sein Liebhaber wurde. Sein erster Liebhaber, mit dem er sich nicht verstecken musste. Es gab nun zwei Stadtführer, die ihm halfen, das schwule New York zu entdecken.

Eines Nachmittags erweckte ein TV-Werbespot das Interesse des Trios. Er zeigte ein junges Mädchen mit goldblond gefärbtem Haar, das aus einem Flugzeug stieg, sich in die Arme eines Mannes warf, Billard spielte und mit einem Hund an der Seite, einem strahlenden Lächeln auf den Lippen und wehenden Haaren durch die Sonne lief, während eine weibliche Stimme fragte: «Stimmt es, dass Blondinen mehr Spaß haben?» Dann unterbrach ein männlicher Erzähler die Musik: «Clairol-Blond ist ein Lebensgefühl. Genießen Sie es!» Die drei jungen Männer, die allesamt für den Film Some Like it Hot schwärmten, auf den der Spot offensichtlich anspielte, wechselten vielsagende Blicke.

Eine Viertelstunde später verließen sie den nächstgelegenen Drugstore mit einer Tüte, die das magische Produkt enthielt. Unter Gekicher lasen sie die Anweisungen, mischten im Badezimmer die Bestandteile zusammen, zogen sich aus und shampoonierten sich unter der Dusche. Dann konnten sie zusehen, wie sich die Metamorphose vollzog. Sie verwandelten sich in drei große Wasserstoffsuperblonde. Sie lachten, bis ihnen die Tränen über die Wangen liefen, besonders als Marks Vater gegen Abend aus seinem Geschäft kam, die drei Gestalten auf seinem Sofa erblickte und fast einen Herzanfall bekam. Kein Zweifel, Blonde hatten mehr Spaß im Leben.

David betrachtete sich im Spiegel und war fasziniert. Es war wie mit dem Taxi in London. Reine Magie. Man handelte aus einer Laune heraus, ohne die Folgen zu bedenken, nur so aus Spaß, und man wurde belohnt. Darin bestand das Geheimnis des Lebens. Er war blond geworden, wie die Models in Physique Pictorial. Bis dahin hatte er sich weder schön noch hässlich gefunden – andere bezeichneten ihn gelegentlich als hübsch –, und nun hatte er sich innerhalb kürzester Zeit in einen frappierend blonden Mann verwandelt, den man nicht übersehen konnte. Er war sehr angetan von seiner neuen Haarfarbe, nicht weil «Blonde mehr Spaß haben», sondern weil er sich neu erschaffen hatte. Er war seine eigene Erfindung. Es war wie eine zweite Geburt. Die neue Haarfarbe kündete von seiner Identität als Schwuler – sein wahrstes, intimstes Ich –, und gleichzeitig war sie ein Kunstgriff, eine Maske, eine Täuschung. Natur und Künstlichkeit waren demnach keine Gegensätze, ebenso wenig wie Gegenständlichkeit und Abstraktion, Poesie und Graffiti, Zitat und Originalität, Spiel und Realität. Man konnte alles miteinander kombinieren. Das Leben war, wie die Malerei, eine Bühne, auf der man spielte.

Ein außergewöhnlicher Sommer. Er zog aus dem Haus von Marks Eltern aus, die von dem exzentrischen Gehabe der Freunde ihres Sohnes allmählich genug hatten, und zog nach Brooklyn, wo Ferrill eine gemütliche Zwei-Zimmer-Wohnung besaß, mit einem dicken Teppichboden, in dem die Füße versanken, einem Fernseher und einem richtigen Badezimmer. David kannte bisher niemanden, der in so jungen Jahren bereits so luxuriös wohnte. Aber Ferrills Lebensstil erstaunte ihn noch viel mehr: Freunde und Bekannte gingen bei ihm ein und aus, duschten mit ihm, schlüpften in sein Bett. Freie Liebe, ohne Verpflichtungen, ohne Eifersucht, ohne Schuldgefühle. Nur genießen und Genuss verschaffen. So sah das Leben aus, das David sich wünschte. Bye bye Bradford! Selbst London wirkte im Vergleich zu New York düster.

Als er endlich den Kurator der Grafikabteilung des New Yorker Museum of Modern Art anrief, dessen Namen ihm Mr. Erskine genannt hatte, erwartete ihn eine weitere Überraschung: Nicht nur wusste der Mann, wer er war – er hatte sogar von Erskine einen Brief erhalten, in dem dieser seinen brillanten Schützling empfahl. Und er sah sich die Radierungen, die David aus London mitgebracht hatte, nicht nur an, er kaufte sie sogar! David konnte es kaum fassen. Das Museum of Modern Art in New York kaufte ihm, einem Studenten, Radierungen ab! Welch eine Großmut! Wie leicht das Leben in Amerika war!

Das Geld kam wie gerufen, denn David war blank. Nun konnte er sich einen lässigen hellen Freizeitanzug nach der neuesten Mode kaufen. Und ein Mini-Transistorradio, eines, wie es die Amerikaner mit sich herumtrugen, die er zunächst für schwerhörig gehalten hatte wie seinen Vater, weil ein kleiner Stöpsel in ihrem Ohr steckte. Ferrill erklärte ihm schließlich, dass sie einfach nur Tag und Nacht Musik hörten.

Im September kehrte ein neuer Mensch nach London zurück. Ein großer Blonder im weißen Anzug. Er hatte einige Ideen im Gepäck: Er würde ein großformatiges Gemälde schaffen, nach Art der amerikanischen Abstrakten, für das er viel Platz im Atelier des Royal College beanspruchen konnte; nur wäre es eben kein abstraktes Gemälde, sondern eines mit Figuren. Inspiriert von den altägyptischen Exponaten im MoMA, von Dubuffet und von Kavafis’ Gedicht Warten auf die Barbaren malte er eine aus drei Personen bestehende Prozession, die er A Grand Procession of Dignitaries in the Semi-Egyptian Style nannte. Er schrieb den Titel in das Gemälde hinein, damit offensichtlich war, dass er sich nicht ernst nahm und alles ein Spiel war. Zudem hatte ein Titel von dieser Länge noch einen anderen Vorteil: Er nahm im Katalog der vom Royal College ausgestellten Werke mehrere Zeilen ein und würde bemerkt werden. Gewitzt wie sein Vater, hatte David begriffen, dass Erfolg nicht vom Himmel fiel. In New York hatte er etwas bewundern gelernt, das man in Großbritannien für schlechten Stil hielt: die Gewandtheit, mit der die Amerikaner sich vermarkteten, ohne falsche Scham und schlechtes Gewissen. Er hatte die Aufmerksamkeit der Kritik erregt, nun musste er sie halten. Ein großer Blonder im weißen Anzug, der seine abweichende sexuelle Orientierung nicht versteckte, interessierte sie mehr als ein Maler aus Bradford in West-Yorkshire!

Er amüsierte sich nach Kräften. Unter dem Titel Cleaning Teeth; Early Evening malte er zwei einander zugewandte männliche Figuren, deren Penisse er durch Colgate-Tuben ersetzte (Zahnpflege war in den USA geradezu eine Obsession). Das Bild war ausgesprochen obszön und sehr witzig. Im Bereich Radierung schuf er seine eigene Version der Radierfolge A Rake’s Progress, in der William Hogarth, ein Maler des 18. Jahrhunderts, den Werdegang eines jungen Wüstlings illustriert hat, der in der Großstadt ein ausschweifendes Leben führt. Der Bezug zu diesem klassischen Werkzyklus erlaubte es ihm, seine eigenen New Yorker Abenteuer auf spielerische Weise zu verarbeiten: die Ankunft mit dem Flugzeug, den Verkauf seiner Radierungen an den Leiter des MoMA, die muskulösen jungen Amerikaner, die unter den Blicken des schmächtigen David im Achselshirt durch den Central Park joggen, Männer in Schwulenbars, seine mit Clairol gebleichten Haare, die ihm die Pforten des Paradieses öffnen, und sogar die Mini-Transistorradios, an denen alle Amerikaner hingen, als hätten sie ihre Individualität eingebüßt. Sein perfekter Strich brachte ihm das Lob seiner alten Professoren ein.

Das Leben lächelte ihm zu. Er wagte es sogar, der Verwaltung des Royal College zu erklären, er sei die hässlichen, dicken, vierzigjährigen Frauen leid, die man ihm als Modelle anbot. Manet, Degas und Renoir wären niemals Manet, Degas und Renoir geworden, hätten sie sich nicht von ihren Modellen inspirieren lassen. Er verlangte einen Mann. Die Hochschule beugte sich seiner Beharrlichkeit und gab nach. Da niemand außer ihm einen nackten Mann malen wollte, engagierte David für sich allein mit dem Geld des College einen sympathischen Burschen aus Manchester, den er kurz zuvor kennengelernt hatte. Mo stellte ihm zwei befreundete Design-Studenten vor, Ossie und Celia, mit denen auch David sich bald anfreundete. Er hatte eine Affäre mit Ossie, der noch verrückter war als er und zur gleichen Zeit auch mit Celia schlief. Bisexuell – wieder ein neues Konzept. Jetzt besaß David in London alle Freiheiten, die er in New York kennengelernt hatte. So sah das unkonventionelle Leben also aus, von dem Adrians und Marks Erzählungen ihn hatten träumen lassen: keine Angst zu haben, man selbst zu sein, wenn man anders war. Toleranz war die Tugend derer, die durch die sozialen Normen oder die herrschende Moral gezwungen waren, sich zu verstecken, obwohl sie niemandem Schaden zufügten.

David hatte sein Studium noch nicht abgeschlossen, als ihm der junge Kunsthändler, der im Vorjahr seine Arbeit bewundert hatte, einen Vertrag anbot. Er würde ihm 600 Pfund für eine Exklusivvertretung zahlen, und noch mehr, falls sich seine Gemälde verkauften. David konnte sein Glück kaum fassen. Alle anderen Künstler, die von Kasmin vertreten wurden, waren Vertreter der abstrakten Kunst und bereits bekannt; er war der Jüngste und der Einzige, der gegenständlich malte. Es musste an seinen blonden Haaren und dem weißen Anzug liegen. In diesem Sommer musste er nicht als Briefträger jobben. Er unternahm mit Jeff, einem jüdisch-amerikanischen Freund, den er in New York kennengelernt hatte, eine Reise nach Italien. Im Herbst konnte er endlich das Gartenhäuschen aufgeben und in eine billige Zwei-Zimmer-Erdgeschosswohnung in Notting Hill umziehen, in die Nähe seiner Freunde Michael und Ann. Bald zogen auch Ossie und Celia in seine Nachbarschaft. Jetzt wohnte er in einem Rotlichtviertel – das Haus gegenüber war Nachtclub und Absteige in einem und verbreitete einen infernalischen Lärm –, aber David verfügte zum ersten Mal über einen zentral gelegenen Ort, an dem er leben und arbeiten und Opern in voller Lautstärke hören konnte. Und seine besten Freunde wohnten praktisch um die Ecke. Bald wurde seine Wohnung zu einem beliebten Treffpunkt; seine Tür war stets offen, man konnte kommen und gehen, wie es einem beliebte. Wie damals bei Ferrill in Brooklyn.

Als er vom Direktor des Royal College per Brief darüber informiert wurde, dass seine Abschlussarbeit über den Fauvismus als ungenügend betrachtet werde und er deshalb sein Diplom nicht erhalten werde, stieß er zuerst ein Wutgeheul aus und fing dann an zu lachen. Es stimmte ja, er hatte die Arbeit vermasselt, denn er hatte sie gar nicht erst eingereicht. Kasmin, sein Galerist, verlangte kein offizielles Dokument. So funktionierte die Welt nun einmal. Auf der einen Seite gab es die Bürohengste, die Engstirnigen, die schnell be- und verurteilten, die Angst hatten, wirklich zu leben; auf der anderen Seite die Kunst, den Instinkt, das Begehren, die Freiheit und den Glauben ans Leben. David hatte allen Grund, sich über die Scherereien mit der Bürokratie lustig zu machen, denn der Leiter der Abteilung Malerei, der seinem besten Schüler eine Goldmedaille verleihen wollte und dies nicht tun konnte, solange dieser sein Diplom nicht erhielt, zwang das College zu einem Rückzieher. David war keineswegs unglücklich über die Medaille. Sie imponierte den Leuten und machte seine Eltern glücklich.

 

Als ein Galerist, der eine Gruppenausstellung organisierte, die Künstler bat, ihre Inspirationsquelle zu nennen, schrieb er: «Ich male, was ich will, wann ich will und wo ich will.»

Alles konnte zum Sujet eines Bildes werden: ein Gedicht, etwas, das man sah, eine Idee, ein Gefühl, eine Person. Wahrhaftig alles. Das war die Freiheit. Derek hatte ihm einmal geraten, er solle sein Clown-Image abstreifen, wenn ihm daran lag, dass man seine Arbeit ernst nähme. Aber nein: Man konnte beides sein, ein Clown und ein ernsthafter Maler!

Mit sechsundzwanzig Jahren reiste er zu Beginn des Sommers wieder nach New York, diesmal an Bord der Queen Elizabeth. Er wollte die Radierungen zu A Rake’s Progress fertigstellen und Jeff wiedersehen, den Amerikaner, mit dem er im Sommer zuvor nach Italien gefahren war. Eines Nachmittags lernte er bei Andy Warhol, zu dem ihn sein Freund mitgenommen hatte, einen rundlichen, pausbäckigen, bärtigen Typ kennen, der als Kurator für zeitgenössische Kunst am Metropolitan Museum arbeitete und sich als der witzigste, lebhafteste, scharfzüngigste Mensch erwies, dem er je begegnet war. Gleich am nächsten Tag trafen sie sich wieder. Ein homosexueller Jude, wie alle seine amerikanischen Freunde. Henry war 1940 mit seinen Eltern, die aus Brüssel stammten, mit dem letzten Schiff in die USA emigriert. David fühlte sich körperlich nicht von ihm angezogen, aber er hatte noch mit keinem anderen Menschen eine so spontane Vertrautheit erlebt. Die Worte flogen zwischen ihnen hin und her wie Tennisbälle, einer beendete die Sätze des anderen und sie kamen aus dem Lachen gar nicht mehr heraus. Sie waren nur zwei Jahre auseinander, liebten dieselben Dichter, dieselben Filme, dieselben Künstler, dieselben Bücher und schwärmten sogar beide leidenschaftlich für die Oper. Jenseits des Atlantiks hatte David eine verwandte Seele gefunden.

Zurück in London, bot ihm ein junger Mann, der einen Handel mit Grafiken aufgebaut hatte, einen Deal an: Er würde fünfzig Serien der sechzehn Radierungen von A Rake’s Progress drucken und sie zu hundert Pfund pro Serie verkaufen. Das ergab insgesamt fünftausend Pfund und war die größte Summe, die David oder sonst ein Künstler aus seiner Bekanntschaft je verdient hatte. Die Herstellung einer Serie kostete höchstens zwei, drei Pfund. Es gab Menschen, die hundert dafür zahlten? Welch ein Wahnsinn! Natürlich würde David nicht die gesamte Summe erhalten, da Kasmins Anteil und der des Händlers abgezogen werden mussten. Aber es war ein hübscher Batzen, und ein Teil davon würde ihm gehören. Endlich konnte er für sich und seine Freunde in seiner Wohnung in Notting Hill eine Dusche einbauen. Und das war erst der Anfang: Bald darauf stellten zwei Londoner Galerien Werke von ihm aus, die Sunday Times of London schickte ihn auf ihre Kosten nach Ägypten, damit er dort für sie Buntstiftzeichnungen fertigte, und das Geld, das er mit den Radierserien verdiente, erlaubte es ihm, sich einen Traum zu verwirklichen: Im Januar flog er nach Los Angeles.

Oft sah er im Geist den Direktor der Bradford School of Art vor sich, der ihn erstaunt fragte: «Sind Sie Privatier?» Über dieses Bild schob sich das des fünfzehnjährigen Jungen, der zitternd vor Angst und Aufregung im Kino saß, wo ein Unbekannter mit seiner Hilfe masturbierte. Er hatte einen weiten Weg zurückgelegt.

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