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FRAUEN IM SINN


Verlag Krug & Schadenberg

Literatur deutschsprachiger und internationaler

Autorinnen (zeitgenössische Romane, Kriminalromane,

historische Romane, Erzählungen)

Sachbücher und Ratgeber zu allen Themen

rund um das lesbische Leben

Bitte besuchen Sie uns: www.krugschadenberg.de

Catherine Hall

Rückblende

Roman

Aus dem Englischen

von Andrea Krug

Krug & Schadenberg

Für Sandra D. – in Liebe

Inhalt

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

Siebenundzwanzig

Achtundzwanzig

Neunundzwanzig

Dreißig

Einunddreißig

Zweiunddreißig

Dreiunddreißig

Vierunddreißig

Fünfunddreißig

Sechsunddreißig

Siebenunddreißig

Achtunddreißig

Neununddreißig

Vierzig

Einundvierzig

Zweiundvierzig

Dreiundvierzig

Vierundvierzig

Fünfundvierzig

Sechsundvierzig

Siebenundvierzig

Achtundvierzig

Neunundvierzig

Fünfzig

Einundfünfzig

Zweiundfünfzig

Dreiundfünfzig

Danksagung

Die Autorin

Man findet es inmitten all dessen ebenso schwer, seine Worte zu setzen, wie seine Gedanken zu ertragen. Der Krieg hat die Worte erschöpft; sie sind geschwächt, sie sind verkommen … HENRY JAMES, 1915, Zeitungsinterview

»Will vom Krieg leben / Wird ihm wohl müssen auch was geben.« BERTOLT BRECHT, Mutter Courage und ihre Kinder

Eins

Suzie, ich glaube, ich habe ein Problem.

Ich bin nicht mehr in Kabul. Ich bin auch nicht in London. Ich bin in Brighton.

Problem hin oder her, es liegt ein Trost darin, an der äußersten Spitze von England zu sein, an der Küste, dort, wo Land und Meer aufeinandertreffen. Ich könnte meine genaue Position in einer Sekunde auf der Landkarte finden, und nach all den Zeiten, in denen ich keine Ahnung hatte, wo ich war, wo ich irgendwo feststeckte, wo es dunkel war und hoffnungslos und gefährlich, ist das eine echte Erleichterung.

Ich sitze in einem dieser altmodischen Korbsessel – Loom Chair heißen sie, glaube ich – auf einem Balkon. Nun ja, es ist nicht wirklich ein Balkon, sondern eine dieser innenliegenden Veranden, die man in Seebädern findet, wie Gewächshäuser kleben sie an der Wand, im ersten Stock. Eine gulkhana nennen sie es in Afghanistan, ein Blumenzimmer für die Damen, in dem sie sitzen und die Wintersonne genießen können, obwohl Blumenzimmer ein großes Wort für so einen kleinen Raum ist, eben groß genug für einen Sessel und einen kleinen Glastisch und Pflanzen, jede Menge Pflanzen, überall, sie hängen von der Decke, stehen in Töpfen auf jeder freien Fläche, klettern am Fensterrahmen hoch. Fast könnte ich meinen, im Dschungel zu sein, aber nach allem, was geschehen ist, lasse ich es wohl lieber.

Ich kann das irrwitzige Geglitzer des Palace Pier sehen, das auf das Wasser fällt und vom tiefschwarzen Meer zurückgeworfen wird. Warte, ich öffne eben das Fenster, ich möchte die Seeluft riechen, auch wenn es draußen eisig kalt ist. – So, sie strömt herein, als ob die Flut sie in die Wohnung triebe. Ich höre die Wellen brechen, beständig und besänftigend, ruhig.

Ich brauche ein wenig Besänftigung. Ich fühle mich seltsam heute, wie immer, wenn ich zurückkehre, gefangen zwischen unterschiedlichen Welten. Heute Morgen, hoch in den Bergen, hörte ich den Ruf zum Gebet, während ich meine Sachen packte. Jetzt wummernde Musik und die Rufe junger Leute, die in der Stadt unterwegs sind.

Meine Taschen liegen in der Ecke, wo ich sie fallengelassen habe, als ich hier ankam. Ich habe noch nicht ausgepackt. Das hat dich immer verrückt gemacht – stimmt’s? –, wenn ich nach Hause zurückkam und mein Zeug wochenlang in der Ecke lag und ich immer nur das rausgeholt habe, was ich gerade brauchte. Aber auch Geschenke, immer, für dich – darin zumindest war ich gut.

Ich weiß, es hat nicht viel Sinn, zurückzudenken. Ich weiß, dass wir nicht zu dem, was wir einmal waren, zurückkehren können. Doch ich wünschte, ich könnte ins Bett kriechen und meine Arme um dich schlingen und ich wüsste, ich wäre zu Hause.

Ich bin jedoch nicht zu Hause, wo immer das sein mag. Erinnerst du dich an Edith, meine uralte fabelhafte Großtante? Dies hier ist ihre Wohnung, direkt an der Strandpromenade von Brighton. Oder besser gesagt, das war ihre Wohnung – jetzt ist es meine. Sie hat sie mir hinterlassen, als sie starb, heute vor zwei Wochen. Ich wusste nicht, dass Edith Krebs hatte; ich hatte nicht gemerkt, dass etwas nicht stimmte, als ich sie das letzte Mal sah, damals im März. Dafür könnte ich mich jetzt noch treten. Als der Anruf kam, war ich noch in Afghanistan. Ich schaffte es nicht mal rechtzeitig zur Beerdigung – es passierte einfach zu viel. Üble Sachen diesmal, Suze, wirklich üble Sachen, was bedeutete, dass ich nicht wegkonnte.

Ich habe Edith geliebt. Sie hat mir meinen ersten Fotoapparat geschenkt, da war ich acht, um Aufnahmen von den Tieren im Londoner Zoo zu machen. Sie hat mir Geschichten erzählt von den Elefanten, die sie als junges Mädchen in Indien gesehen hatte, alle in zeremoniellen Farben geschmückt, die Köpfe bunt bemalt und Howdahs auf dem Rücken. Ich leckte mein Eis ganz langsam, fasziniert, und beobachtete, wie ihre Armreifen beim Reden klimperten.

 

Es ist merkwürdig, ohne sie in der Wohnung zu sein – sie passte so gut zu ihr. Jedes Stück Meißener Porzellan, der Perserteppich auf dem Boden, die Jadevase auf dem Sandelholztisch – all diese Dinge haben eine Geschichte, und dort, inmitten all dieser Dinge, saß Edith immer in ihrem Sessel, bereit, mir diese Geschichten zu erzählen, während wir Kaffee tranken, der in winzigen Espressotassen serviert wurde, die sie 1968 in Rom gekauft hatte, in einem Laden gleich um die Ecke der Via Condotti.

Sie rauchte zwei Zigaretten am Tag, eine nach dem Mittagessen und eine am Abend zu ihrem ersten Whisky, den sie ihren chota peg nannte, im Gedenken an ihre Jahre in Indien. Jetzt tue ich das Gleiche – zum Gedenken an sie. Ich habe mir von dem zollfreien Johnnie Walker eingeschenkt und mir eine Marlboro angesteckt.

Auf Edith: Möge sie in ihrem nächsten Leben ebenso außergewöhnlich sein, wie sie in diesem war.

Der Alk und die Ziggis wirken nicht so wie sonst immer. Mein Geist ist aufgewühlt, dreht alles um und um. Gewöhnlich schalte ich das Radio ein, wenn ich irgendwo neu ankomme, um ein Gefühl dafür zu kriegen, was los ist. Ediths alter Radioapparat steht auf dem Sideboard, versehen mit Haftstreifen für Radio 4 und den World Service, aber ich lasse ihn aus. Ich möchte nicht wissen, was in der Welt los ist, zumindest im Augenblick nicht.

Ich habe immer damit zu tun, mich neu zu sortieren, wenn ich von einem Job zurückkomme, aber diesmal fühlt es sich anders an. Afghanistan ist nicht der schlimmste Ort, an dem ich gewesen bin … nein, vergiss es – Kriege zu vergleichen ist sinnlos. Was ich meine, ist, dass die Gewalt sich nicht direkt vor mir abspielte. Krieg in Sierra Leone oder im Kongo ist manisch; in Afghanistan ist er mehr wie eine chronische Depression. Ich musste mich nicht vor Scharfschützen wegducken und traf auch nicht auf bekiffte Kids mit wilden Augen und Kalaschnikows. Es gab keine Berge von Leichen, die unter der Sonne verrotteten, keine Bomben, die die ganze Nacht hindurch einschlugen. Aber unter der Oberfläche ahnte man, dass die Dinge köchelten, eine dreckige, gefährliche Suppe, die jeden Moment überkochen und einen siedend heißen Schlamassel anrichten konnte.

Sie kochte über. Sie richtete einen Schlamassel an, der noch nicht beseitigt wurde. Ich kann nicht aufhören, daran zu denken. Ich kriege es nicht aus dem Kopf.

Ich habe nach Ablenkung gesucht, habe herumgestöbert und versucht, mich davon abzuhalten, an all das zu denken. Auf einem der Bücherborde steht ein altes Holzkästchen, grob gezimmert und zwischen dem prachtvollen Porzellan und dem erlesenen Silber fehl am Platz. Ich erinnere mich nicht, es je zuvor gesehen zu haben. Vielleicht hat Edith es absichtlich für mich dort hingestellt.

Ich werde es öffnen, Suze. Schauen wir mal, was darin ist.

Gesagt, getan. Es riecht muffig, trocken, nach altem Papier und Tinte.

Ein brauner Umschlag ist herausgefallen, Fotos stecken darin, verblasste Schwarz-Weiß-Aufnahmen. Ich lege sie auf dem Kaminvorleger aus.

Ein Gruppenbild: förmlich, Männer stehen vor einem indischen Palast, reichlich filigranes Dekor und ziselierte Säulen, Kuppeln, Türme und Minarette. Die Männer tragen Uniform und Turban, die langen Bärte sind sorgsam getrimmt. Sie gucken mit starrer Miene in die Kamera. Sie weisen Verletzungen auf: Beine in Gips, Arme in Schlingen. Manche haben überhaupt keine Beine oder Arme, bloß bandagierte Stumpen.

Eine Krankenstation: lange Reihen von akkurat gemachten Betten, in jedem sitzt aufrecht ein Soldat in weißem Pyjama und mit weißem Turban, passend zum Bettzeug.

Ein Operationssaal: eine Liege im Zentrum unter einer Deckenlampe, ein Waschtisch, Instrumente fein säuberlich ausgelegt, Flaschen mit Desinfektionsmittel auf einem Beistelltisch. Sieben Mitarbeiter in OP-Bekleidung. Allesamt Weiße, bis auf einen, der aussieht, als sei er Inder, wie die Patienten. Allesamt männlich, bis auf eine Frau: eine Krankenschwester.

Am unteren Rand dieses Fotos steht etwas geschrieben:

PAVILION HOSPITAL, BRIGHTON 1915.

In dem Kästchen befindet sich noch etwas – ein kleines Buch, in Leder gebunden, die Seiten gefüllt mit einer engen schwarzen Schrift.

Ich verspüre ein kleines Prickeln der Aufregung – wie immer, wenn mir eine Story begegnet.

Zwei
ELIZABETH WILLOUGHBYS TAGEBUCH

1. Dezember 1914

Mit großer Freude beginne ich dieses Tagebuch, das meinen Bericht über diesen Krieg darstellen wird. Ich gebe nicht vor, dass es mehr als das sein soll: Ich spreche nur für mich selbst, ich lege meine Eindrücke und Erfahrungen schriftlich nieder, damit ich in späteren Jahren zurückblicken und mich erinnern kann.

Es ist kein Zufall, dass ich jetzt beginne: Endlich habe ich einen guten Grund zum Schreiben. Morgen werde ich eine Stelle im ROYAL PAVILION antreten. Man könnte sich fragen, wozu an einem Ziel für Tagesausflügler Krankenschwestern benötigt werden sollten. Die Antwort lautet, dass es nicht länger ein Ausflugsziel ist: Der Palast ist jetzt ein Militärkrankenhaus.

Ich hatte das von Hugo erfahren; seine Pfadfindergruppe half letzte Woche beim Ausräumen, um Platz für die Betten zu schaffen. Voller Neuigkeiten kam er nach Hause. Anscheinend hatte der König höchstpersönlich den Bürgermeister angewiesen, ein Lazarett daraus zu machen. Für mich ist das Spannende daran: Die Patienten werden Inder sein – Soldaten, die für uns an der Front gekämpft haben.

Dies war die Ankündigung in der Gazette, die ich ausgeschnitten habe, um sie aufzubewahren:

Tapfere Soldaten aus unserer großen indischen Kolonie sollen nun, nachdem sie so edelmütig für ihren König-Kaiser gekämpft haben, in einem königlichen Palast im berühmtesten britischen Badeort versorgt werden. Es klingt wie ein Kapitel aus einem wundervollen Roman. Es wird der Welt beinahe unglaublich erscheinen. Es wird dem Brighton Pavilion einen Namen verleihen wie nie zuvor. Generationen noch ungeborener Brightoner werden staunen, wenn sie über diese Zeit lesen.

Natürlich habe ich sofort an Robert gedacht. Wenn ich einen Mann heirate, dessen ganzes Leben der indischen Armee gewidmet ist, wie könnte ich es besser nachvollziehen, als indem ich seine Soldaten pflege? Vielleicht stammen einige von ihnen sogar aus seinem Regiment, das erst letzten Monat den langen Weg von Bombay hierhergekommen ist. Als ich davon hörte, bin ich sofort hinunter zur Oberschwester geeilt und habe gefragt, ob mein Name ins Spiel gebracht werden könnte. Anfangs war sie zögerlich und meinte, es hätte einen furchtbaren Aufruhr wegen der ganzen Sache gegeben, aber nach einigem Zureden sagte sie schließlich, dass sie mich für eine Stelle vorschlagen würde, wenn Mama und Papa einverstanden wären. Als ich darum bat, schaute Mama besorgt drein und sagte, sie hoffe, dass die Patienten nicht in einem allzu schrecklichen Zustand seien, und Papa grunzte und raschelte mit seiner Zeitung und meinte, er sei stolz auf mich, weil ich in seine Fußstapfen träte.

Das tue ich natürlich nicht, denn er ist Chirurg und ich bin bloß Krankenschwester, aber ich freute mich trotzdem.

Ich habe beschlossen, es Robert noch nicht zu erzählen. Ich werde bis zu seinem nächsten Heimaturlaub warten. In unseren Briefen scheinen wir nie das ausdrücken zu können, was wir wirklich meinen, und er ist kein eifriger Schreiber, weshalb ich mich töricht fühle, wenn ich ihm Seiten um Seiten schreibe. Ich werde warten, bis er zurückkommt, dann habe ich mich im PAVILION eingearbeitet und kann ihm zeigen, was ich tue, anstatt zu versuchen, es mit Worten zu erklären.

Drei

Was taten sie hier, diese Soldaten? So weit weg von zu Hause kämpften sie in einem Krieg, der nichts mit ihnen zu tun hatte. Ich vermute, das ist gar nicht so ungewöhnlich. Arme Männer lassen sich immer anheuern – ich habe genug Zehn-Dollar-Taliban gesehen, um das zu wissen. Ich frage mich, was sie davon hielten, zur Genesung in einem Königspalast untergebracht zu sein. Wie seltsam muss ihnen das erschienen sein, vielleicht aber auch nicht seltsamer als die Schützengräben an der Front.

Ich fühle mich auch seltsam, ich kann nicht aufhören, an Kabul zu denken. Heute Morgen beschloss ich, einen Spaziergang zu machen, um den Kopf freizubekommen. Ich zog eine alte Jeans an und meine dicken Stiefel, mummelte mich mit Schal und Handschuhen warm ein und machte mich auf den Weg zum Strand. Der kalte Wind, frisch und salzig, traf mich wie eine Ohrfeige. Mit knirschenden Schritten ging ich über die Kieselsteine, froh, dass es kein Sand war, froh über vieles, froh, nicht um Erlaubnis bitten zu müssen, dort zu sein, nicht von neugierigen Augen angestarrt zu werden, einfach gehen zu können, ohne zu denken, und nicht fürchten zu müssen, in die Luft gesprengt zu werden.

Ich rauchte, während ich ausschritt, wie immer, und dachte an dich. Weißt du noch, wie ich immer gesagt habe, es sei keine Sucht und dass es dort, wo ich arbeitete, praktisch ein Erfordernis sei? Zigaretten sind Schmiergeld, wenn du einen Kontrollpunkt passieren willst. Wenn die Scharfschützen aussetzen und du deinen nächsten Schritt planst, füllt eine Kippe die Pause. Soldaten wollen etwas zu tun haben, während sie auf die nächste Ansage warten. Die fünf Minuten, in denen man zusammen raucht, ist man fast einer von ihnen.

Du wolltest nichts davon hören. Du sagtest, ich sei eine elende Süchtige, die das Rauchen nicht aufgeben wolle, und das seien alles nur Ausreden und am Ende würde es mich umbringen. Du hattest natürlich recht, aber es war schwer, viel darum zu geben. In einem Kriegsgebiet denkst du nicht groß an deine langfristige Zukunft.

Am Strand habe ich auch nicht an meine Zukunft gedacht. Ich dachte an die Vergangenheit, als du mich nach Madrid mitgenommen hast, um mir Goya im Prado zu zeigen, weil er – wie du sagtest – mehr über den Krieg gewusst habe als jeder andere Maler. Wir gingen durch kühle Korridore, eine sanfte Mai-Brise wehte durch die offenen Fenster herein. Wir hatten den Morgen zwischen gestärkten Laken im Bett verbracht, Kaffee getrunken und uns gegenseitig mit Orangen gefüttert. Ich konnte ihren Saft noch auf deiner Haut riechen.

Als Erstes hast du mir Die Erschießung der Aufständischen gezeigt, El tres de mayo de 1808. Ich stand da und betrachtete die riesige Leinwand, ein Erschießungskommando, die Gewehre auf einen hell ausgeleuchteten Mann gerichtet. Er sah ihnen entgegen, auf den Knien aufgerichtet, die Arme ausgebreitet wie Christus am Kreuz. Vor ihm auf dem Boden einige Leichen, an seiner Seite weitere Gefangene, voller Panik, weil sie wussten, was als Nächstes kam. Den Ausdruck auf ihren Gesichtern kannte ich nur zu gut.

»Wenn ich das fotografiert hätte«, sagte ich, »hätte ich mich fragen müssen, ob ich nicht zu nah dran war und sie das Ganze für die Kamera inszenierten.«

Du hast nichts gesagt, hast bloß genickt und mich zu seinen Schwarzen Gemälden geführt, die er direkt auf die Wände seines Hauses gemalt hat, kurz nach den Napoleonischen Kriegen, als er fast wie ein Einsiedler lebte. Er hatte Angst, wahnsinnig zu werden, und als ich diese vierzehn Bilder sah – Saturn, der seinen Sohn verschlingt, Bauern, die mit Knüppeln aufeinander losgehen, eine Enthauptung, ein Hexensabbat, alles in Schattierungen von Schwarz und schlammigem Braun –, begriff ich, warum.

»Werde du nicht so verrückt«, hast du mir ins Ohr geflüstert.

»Nein«, erwiderte ich. »Das werde ich nicht.«

Ich stand am Meeresufer, sann nach, rauchte und schaute zurück auf die Strandpromenade. Kabul ist braun, tausend Schattierungen von Wüstenstaub. Als ich das erste Mal dort war, lag ich abends im Bett, konnte nicht schlafen und hörte das Krachen und Bersten der Luftangriffe, und ich spielte unser Spiel, bei dem wir darum wetteiferten, alle Wörter aufzuzählen, die wir für eine Farbe kannten.

Schokolade, Khaki, Maus. Kastanie, Haselnuss, Beige. Ocker, Kupfer, Bronze.

Brighton ist weiß (Kreide, Käse), vom Schaum der Wellen bis zu den schmutzigen Möwen und den abblätternden Regency-Villen – und heute sogar der Himmel. Ich wanderte den Strand entlang, bis zu dem Abschnitt, der für Nudistinnen und Nudisten reserviert ist. Ein alter Mann saß in einem Liegestuhl, nackt bis auf ein Paar Flip-Flops, abgeschirmt durch einen gestreiften Windschutz, der in der Brise knatterte. Er fing meinen Blick auf, als ich vorüberging.

 

»Ein schöner Tag dafür«, sagte er.

Und plötzlich war es ein schöner Tag. Ich liebte den Mann und seine unbekümmerte Nacktheit. Als ich in die Wohnung zurückkam, schaltete ich den Gaskamin ein, höchste Stufe, und zog mich komplett aus. Ich holte Elizabeths Tagebuch hervor, setzte meine Sonnenbrille auf und ließ mich in dem Korbsessel in der gulkhana nieder, die Füße auf einem marokkanischen Lederpuff, las und griente vor mich hin und spürte die Wintersonne auf meinem Körper, einfach weil ich es konnte.

Vielleicht wird alles gut, Suze. Vielleicht werde ich nicht verrückt, wie ich es dir in Madrid versprochen habe. Vielleicht wird auch mit mir alles gut.

Vier
ELIZABETH WILLOUGHBYS TAGEBUCH

5. Dezember 1914

Unsere ersten Patienten sind gut untergebracht.

Es sieht ganz anders aus als bei meiner Pflegevorführung vor einigen Wochen. All die schönen Perserteppiche sind entfernt und durch ziemlich tristes khakifarbenes Linoleum ersetzt worden. Im Bankettsaal und im Musikzimmer wurden Bretter an den Wänden angebracht, um die Tapeten zu schützen, und die Vorhänge wurden abgenommen. Es ist viel praktischer, schätze ich, aber ich vermisse die phantastischen Drachen und die lebensgroßen chinesischen Figuren, die aussehen, als würden sie im Mondschein über die Wände spazieren.

Die Küche wurde in einen Operationssaal verwandelt. Nicht dass ich damit viel zu tun haben werde. Als wir uns zum Dienst meldeten, sagte Colonel MacLeod, unser kommandierender Offizier, dass alle medizinischen Behandlungen von britischen Ärzten und einigen Chirurgen vom Indian Medical Service durchgeführt werden würden, assistiert von indischen Ärzten und Medizinstudenten, die hier studierten, als der Krieg begann.

Uns Krankenschwestern, die Queen’s Nurses, erwähnte er mit keinem Wort. Nach einer Weile konnte ich mich nicht länger zurückhalten und hob die Hand, um nachzufragen. Der Colonel runzelte die Stirn und sagte, man habe beschlossen, dass Engländerinnen nicht in der Pflege tätig sein sollten. Ich wartete auf eine Erklärung, aber er nickte nur, als wäre es damit erledigt. Ich war nicht kühn genug, noch einmal nachzufragen, aber während er fortfuhr, das Krankenhausprotokoll zu erläutern, ging es mir nicht aus dem Kopf, und so folgte ich ihm hinterher in sein Büro.

Ich sagte ihm, dass es mir furchtbar leidtäte, aber dass ich nicht verstünde, was er gemeint habe, denn die Krankenpflege sei schließlich das, wofür wir ausgebildet worden seien. Er schaute mich unter seinen großen weißen Augenbrauen hinweg an und erwiderte, dass es sich nicht schicken würde. Als ich fragte, warum nicht, räusperte er sich umständlich und meinte dann, ich müsse doch verstehen, dass Indien eine unserer Kronkolonien sei und die Bevölkerung daher unter unserer Herrschaft stehe.

Ich sagte, ich wüsste nicht, was das damit zu tun habe, woraufhin er sich erneut räusperte und erklärte, dass die einheimische Bevölkerung in Indien nie von Engländerinnen gepflegt würde, weil sich ein so »vertraulicher Umgang« nicht zieme, und deshalb würden die Queen’s Nurses nur die Aufsicht führen und die Pfleger anhalten, die »höchsten Standards einzuhalten«.

Abschließend sagte er dann sehr bestimmt, wenn ich mit dieser Sachlage nicht glücklich sei, möge ich ihm das lieber gleich sagen, ehe die Patienten kämen.

»Ich … nein, ich bin glücklich«, erwiderte ich.

Das stimmte natürlich nicht. Ich ging schnell fort und war ziemlich verärgert. Es ist wirklich ein gehöriger Schlag. Ich verstehe einfach nicht, was daran unschicklich sein soll. Wie Papa immer sagt: Auf dem Operationstisch sind wir alle gleich. Wenn Robert nicht wäre, wäre ich versucht, in eines der anderen Krankenhäuser zu wechseln, wo ich wirklich von Nutzen sein könnte, aber ich möchte so gern etwas von seiner Welt erfahren, und deshalb beschloss ich, mir auf die Zunge zu beißen und das Beste daraus zu machen.

Heute Morgen bin ich zum Bahnhof gegangen, um unsere Patienten vom Lazarettzug abzuholen. Es war ein trostloser Tag, es regnete seit dem Morgengrauen, und die Straßen waren voller Schlamm, und es tat mir leid, dass dies ihr erster Eindruck von unserer Stadt sein würde, obwohl ich annehme, dass für diese armen Männer jeder Ort besser ist als der, wo sie gerade herkommen.

Zur Begrüßung hatte sich eine Schar wohlgesinnter Menschen eingefunden, die sich unter ihren Regenschirmen vor dem Bahnhofsausgang drängten. Als die ersten Krankenbahrenträger auftauchten, setzte ein Augenblick des Schweigens ein, ungeplant, aber von allen eingehalten – ein Zeichen des Respekts für die Tapferkeit der Soldaten und für das, was sie erlitten hatten. Dann folgten Jubel und Applaus, worüber ich mich gefreut habe, denn die Männer sind so weit weg von zu Hause und es ist schrecklich wichtig, dass sie sich willkommen fühlen.

Die Männer waren in einem furchtbaren Zustand. Mehr als die Hälfte von ihnen musste auf Bahren getragen werden, die anderen humpelten auf Krücken oder taumelten mühsam voran, die Arme um ihre Kameraden geschlungen. Sie sahen erschöpft aus, als wären sie am Ende einer sehr langen Reise angekommen, was natürlich auch der Fall war: eine endlose Reise über den Indischen Ozean, dann zum Kampf hinein in die Schützengräben in Nordfrankreich; dann, wenn verwundet, wieder hinaus in die Feldlazarette und dann in einen Zug und dann auf ein Schiff, um den Kanal zu überqueren, dann in einen weiteren Zug nach Brighton, Endstation der Strecke.

Es war ein seltsamer Anblick; sie sahen so – nun ja – sehr fremd aus. Der einzige Inder, den ich vor dem heutigen Tag je gesehen hatte, war Mowgli in dem Bilderbuch, das ich als Mädchen besaß, aber hier waren nun gut zwei Dutzend von ihnen, die langsam den Weg über den windgepeitschten Bahnsteig zurücklegten. Das Erste, was mir auffiel, waren viele ziemlich große Schnäuzer und Bärte, lang und schwarz, und dunkle Augen unter sorgfältig gewickelten Turbanen. Einige der Männer waren sehr groß und elegant in der Art, wie sie sich trotz ihrer Verletzungen hielten; andere waren klein, ohne Schnäuzer oder Bärte, und sahen furchtbar jung aus.

Wir brachten sie in Sanitätskraftwagen zum PAVILION, WO die Pracht ihrer Umgebung sie noch zerlumpter erscheinen ließ. Ich kann nun in aller Aufrichtigkeit sagen, dass ich den berüchtigten Schlamm der Westfront gesehen habe: blassbraune, klebrige Klumpen, die an ihren zerfetzten Uniformen und Stiefeln hafteten. Die Männer rochen dumpfig und nach altem Schweiß, ihre Finger waren schmutzig, die Nägel lang und verkrustet. Als ich sah, wie sie sich kratzten, vermutete ich Läuse. Die Aufwärter hatten schon in der Morgendämmerung begonnen, Wasser für ihr Bad zu erhitzen, und ich kann mir die Erleichterung vorstellen, die sie empfunden haben müssen, als sie sich hineingleiten ließen. Ihre Uniformen wurden in den hinteren Teil des Gebäudes gebracht und verbrannt.

Danach ging es darum, ihre Verletzungen so gut wie möglich zu versorgen, und dann brachten wir sie zu Bett, woraufhin sich Stille über den PAVILION senkte, so als ob wir alle, Patienten wie Personal, einen Moment der Ruhe brauchten.

Ich stand im Musikzimmer und schaute zu den außergewöhnlichen Kronleuchtern hinauf, die wie riesige umgedrehte Blumen aussehen, mit gemalten chinesischen Figuren auf jeder einzelnen Glasscheibe. Sie glitzern und funkeln wie magisch und hängen an einer Decke aus Tausenden von goldenen Blättern. Ich glaube, es ist wunderbar für die Patienten, im Bett zu liegen und zu ihnen hinaufzublicken.

Einer der indischen Ärzte sah, wie ich nach oben schaute. »Das sind Lotosblumen«, sagte er.

»Tatsächlich?«, erwiderte ich.

»Ja, sie sind sehr bedeutsam für uns.«

»Für uns?«

Er hüstelte ein wenig. »Inder.«

»Ah.«

»Sie stehen für Reinheit und Ehre.«

»Wie schön«, sagte ich. »Haben Sie –«

In diesem Augenblick stieß einer der Männer ein schreckliches Stöhnen aus, und ich eilte zu ihm. Als ich wieder aufblickte, war der Arzt verschwunden.

Ich könnte es nicht ertragen, wenn Robert so enden würde wie diese Männer hier. Auf dem Heimweg ging ich über die Strandpromenade, lehnte mich an das Geländer und schaute über den Kanal nach Frankreich hinüber, zu ihm hinüber, weniger als hundert Meilen entfernt. Ein starker Wind wehte vom Meer landeinwärts, und ich stemmte mich dagegen und atmete die salzige Feuchtigkeit ein. Plötzlich traf es mich, herbeigetragen vom Wind: ein fernes Grollen, gefolgt von einer Explosion, und ich begriff, dass ich die Kanonen des Schlachtfeldes hörte. Ich lauschte erneut auf das schreckliche krachende Geräusch und erschauderte, denn ich wusste, dass jede dieser Explosionen die sein konnte, die Roberts Leben ein Ende setzte.