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Zehn
ELIZABETH WILLOUGHBYS TAGEBUCH

5. Januar 1915

Ein Brief von Robert!

Frankreich, 28. Dezember 1914

Liebe Elizabeth, ich hoffe, Du hattest ein frohes Weihnachtsfest! Mein Weihnachten war ereignislos, was das Beste war, was wir uns erhoffen konnten, obwohl etwas ganz Außergewöhnliches geschah: eine Feuerpause, stell Dir vor, eine Art Waffenstillstand. Inoffiziell, versteht sich. Anscheinend haben einige unserer Tommies und der Feind Weihnachtslieder und Grüße ausgetauscht, und am Weihnachtstag selbst trafen sie sich im Niemandsland, um Fußball zu spielen. Ich weiß, dass das in den Zeitungen stehen wird, trotz aller gegenteiligen Bemühungen, also verrate ich nichts, indem ich es Dir erzähle.

Meine Jungs hatten nicht viel damit zu tun. Weihnachten ist für sie ein Tag wie jeder andere, obwohl mein Sanitäter in der Nacht zuvor auf die deutschen Schützengräben wies, wo ich eine Reihe kleiner, von Kerzen beleuchteter Bäume sah.

»Wie Diwali«, sagte er.

Habe ich Dir jemals von Diwali, dem hinduistischen Lichterfest, erzählt? Ich habe es als Junge in Kalkutta geliebt. Die ganze Stadt leuchtet; man stellt überall Lichter auf – in den Häusern, auf den Straßen – um Wohlstand und Glück einzuladen.

Glück können wir wahrhaftig gut gebrauchen. In den letzten Wochen war es besonders scheußlich, da sich das Wetter noch verschlechtert hat. Die Männer sind in übler Verfassung, und die Moral ist auf dem Tiefpunkt.

Mir fehlen die Worte, um den Morast zu beschreiben: ein elender, stinkender Schlamm, der überall lauert und sich an den Stiefeln festsaugt wie eine grässliche Kreatur aus der Tiefe. Vor zwei Tagen fand ich drei meiner Sepoys fast bis zu den Achseln darin steckend, zusammengekauert und im Schlaf stöhnend. Ich weckte sie und holte sie raus und fand für jeden einen Mann, der sie warm rieb und für ein paar Stunden außerhalb des Schützengrabens ins Trockene brachte, bis der Morgennebel sich auflöste und ich keine andere Wahl mehr hatte, als sie wieder hineinzubeordern, was sich furchtbar falsch anfühlte.

Aber es gibt auch eine gute Nachricht inmitten all dieser Düsternis. Mein Urlaub ist genehmigt worden: eine Woche, beginnend am 7. Februar. Ich werde Mutter und Vater in Aldershot besuchen, und dann würde ich sehr gerne zu Dir kommen. Die letzten zwei Monate sind sehr langsam vergangen und gleichzeitig sehr schnell, wenn das überhaupt einen Sinn ergibt.

Ich hoffe, dass es Dir gutgeht!

In Liebe

Robert

Armer, armer Robert. Ich kann mir nur schwer vorstellen, wie das Leben in den Schützengräben ist, obwohl ich nach dem Zustand unserer Patienten eine ungefähre Ahnung habe. Ich freue mich so sehr darauf, ihn wiederzusehen und eine richtige Unterhaltung zu führen. Seinen Brief habe ich erst heute Abend erhalten; die Zeitungen haben bereits berichtet, wie er es vorausgesagt hat, und Photos vom Waffenstillstand veröffentlicht. Nach allem, was man über die Sauerkrauts, die Nonnen überfallen und Kinder verstümmeln, in eben diesen Zeitungen gelesen hat, ist es seltsam, deutsche Soldaten zu sehen, die neben gewöhnlichen Tommies stehen und Weihnachtslieder singen. Abgesehen von ihren Uniformen sehen sie fast genau gleich aus.

Elf

Es ist Guy Fawkes Night, Suze. Ich habe mich nicht geändert. Die Vorhänge sind zugezogen, und ich trage Ohrstöpsel, um den Lärm auszublenden. Dieses Geblitze und Geknalle, das schreckliche Pfeifen, wenn das Feuerwerk losgeht, werden mich immer an Mörserattacken erinnern. Weißt du noch das Silvesterfeuerwerk auf dem Primrose Hill, als ich mich zu Boden warf und mir die Ohren zuhielt? Ich konnte nicht anders, es war eine reine Reflexhandlung.

Ich werde mich nicht noch einmal zur Närrin machen. Ich bleibe lieber daheim und fahre mit meiner Geschichte fort.

Afghanistan, Mai 2011. Zehn Jahre nach dieser ersten Reise. Ich würde mich nicht an die vorderste Front begeben. Das geht heute nicht mehr, es sei denn, man ist bei den Truppen eingebettet, um Fotos durch den Filter dessen, was die Armee erlaubt, zu machen. Das wollte ich nicht noch einmal mitmachen. Mich interessieren immer schon die Dinge, die ich nicht sehen soll, die Dinge, die sie lieber verborgen halten.

Ich würde in Kabul eingesperrt sein, aber das war mir recht. Zum ersten Mal handelte ich gegen meinen journalistischen Instinkt und hielt mich von der Hauptstory fern. Hätte ich mitten im Geschehen sein wollen, wäre ich mit allen anderen nach Ägypten, Libyen oder Syrien gereist, auf der Jagd nach der Story, um die News sofort nach den Geschehnissen zu haben. Afghanistan ist ein langer Krieg, ein müder Krieg, ein langwieriger Krieg, ein Krieg, der auf dreißig Jahre andere Kriege folgt. Osama bin Laden ist weg, und der Großteil der Presse auch. Die Welt hat sich weitergedreht, auch wenn die Truppen bleiben und die Taliban zurück sind, sich in Hochburgen sammeln, stärker werden, sich neu formieren und darauf warten, dass die Ausländer abziehen.

Das mit der freien Tätigkeit hatte beim ersten Mal nicht so richtig geklappt, wie du weißt. Ich war zu unerfahren, konnte nicht wirklich mithalten. Es kostet eine Menge, aus einem Krisengebiet zu berichten, und ich erkannte bald die Vorteile einer Lebensversicherung, von Satellitenkommunikation, von Unterstützung am anderen Ende des Telefons. Also kehrte ich zu einem richtigen Job zurück, zu Anrufen des Büroleiters, zu kurzfristigen Flügen an schreckliche Orte, um Fotos von all dem Entsetzlichen zu machen, das dort geschah, und sie meinem Redakteur zu schicken in der Hoffnung, dass niemand vor mir dort gewesen war.

Nach einem Jahrzehnt hatte ich genug. Es gab diesen einen Moment im Irak, als ich Fotos von Raketen am Nachthimmel machte und mir plötzlich klar wurde, dass ich dort nicht sein wollte. Die Welt brauchte nicht noch ein Bild von einem ausgebrannten Panzer in der Wüste. Zumindest nicht von mir. Ich wollte die Art, wie ich Dinge tat, ändern, wollte Kontrolle gewinnen, wollte selbst entscheiden, wohin ich ging und was ich tat. In der Vergangenheit, vor nicht allzu langer Zeit, als Elizabeth noch lebte, zogen die Männer auf die Schlachtfelder und kämpften es aus. So sauber und ordentlich ist es nicht mehr. Der Krieg ist das kleine Kind, das sich an die Hand seiner Mutter klammert, nachdem sie mit einer Machete enthauptet wurde. Der Krieg ist der Vater, der sein totes Kind niederlegt, damit es von einem Bulldozer begraben wird, ehe sich die Krankheit ausbreitet. Der Krieg, das sind Flüchtlingslager, Hungersnot, Cholera.

Es gibt mehr in Afghanistan als den Konflikt, aber dieser Konflikt ist mit allem anderen verbunden: mit den Kriegswitwen, die vor den Restaurants der Expats betteln, den kleinen Jungs, die arbeiten müssen, statt zur Schule zu gehen, und den Heroinabhängigen, die keinen anderen Ausweg sehen. Das sind die Dinge, die ich fotografieren wollte, Dinge, die nicht in die Nachrichten gelangen, Dinge, die nicht extrem genug sind, um es in die Zeitungen zu schaffen, aber elend genug für die Menschen, die sie leben müssen. Ich war nicht sicher, was ich in Kabul vorfinden würde, aber ich wusste, dass es Geschichten zu erzählen gab.

Ich nahm ein Flugzeug nach Dubai, dann ein weiteres nach Kabul, flog stundenlang über rotgezackte Berge, Schneegipfel und Schattentäler, hartes, geheimnisvolles Terrain, das mich an die Männer denken ließ, die sich dort über Jahrzehnte immer wieder versteckt haben, um ihren Feinden ein Schnippchen zu schlagen. Als die Berge in flache, unbarmherzige Ebenen übergingen, wusste ich, dass wir es fast geschafft hatten. Bald war die staubige Erde von den geraden Linien eines braunen Gitters durchzogen, gesprenkelt mit kleinen Flecken von Grün. Als das Flugzeug tiefer ging, sah ich Häuser in den Gitterquadraten, ein jedes zusammengekauert innerhalb der Mauern seines Grundstücks. Hangars, gestrichen in der Farbe des Sandes, jede Menge Militärflugzeuge und Hubschrauber, dann die Landebahn, der entscheidende Moment des Aufsetzens.

Da wären wir wieder, dachte ich und bedeckte mein Haar mit einem Schal.

Flughäfen in Kriegsgebieten sind irreführend, an ihnen haften sozusagen die letzten Reste von Normalität, sie sind ein Niemandsland zwischen den Kampfgebieten und dem Rest der Welt, wo die richtigen Papiere noch immer die richtigen Menschen an die richtigen Orte bringen. Ein Ort, an dem es Warteschlangen gibt und Regeln, ordentliche Sitzreihen, Werbung für Coca-Cola. Sobald man jedoch nach draußen tritt, ist man mit der Realität konfrontiert. Am Kabul International Airport war die Ankunftshalle menschenleer, bis auf ein paar grimmig dreinblickende private Sicherheitsleute, die auf einreisende Botschaftsangehörige warteten. Als ich nach draußen trat, den Rucksack auf dem Rücken, die Kamerataschen vorne umgehängt, schlug mir eine Welle gnadenloser trockener Hitze entgegen. Aus Angst vor Selbstmordattentätern lassen sie keine Autos in die Nähe des Flughafens, und so war es ein langer Weg über den Parkplatz bis zu den Taxis. Ich fühlte mich auf Schritt und Tritt beobachtet. Schließlich hatte ich es geschafft. Ich fand ein Taxi, sagte dem Fahrer, wo ich hinwollte und machte es mir bequem für die Fahrt in die Stadt.

Ich war auf große Veränderungen in Kabul gefasst, aber eine Sache war geblieben: der Geruch von Scheiße. Als ich das erste Mal hinkam, hatte ich gedacht, dass die Luft in derartiger Höhe frisch sein würde, aber das war sie damals nicht und sie ist es auch jetzt nicht. Als wir den Flughafen hinter uns ließen, sah ich die Gräben voller menschlicher Ausscheidungen, die in der Sonne trockneten und nur auf den Wind warteten, der den Gestank aufnimmt und durch die Stadt wirbelt.

 

Es war viel mehr los als 2001 – mehr Verkehr, mehr Menschen auf den Straßen. Die Stadt breitete sich in den Hügeln aus, Anhäufungen von Lehmziegelhäusern, die aussahen, als hätte man sie an die Berghänge geklatscht, neben gesichtslosen kantigen Gebäuden, umgeben von mit Stacheldraht versehenen Mauern: die Häuser der Warlords.

Es gab immer noch viele zerbombte Wände und Stahlträger, die aus dem gesprengten Beton ragten. Kinder spielten zwischen den Ruinen der verlassenen Wohnblocks. Aber es gab auch eine Menge Neubauten. Als wir die von Schlaglöchern übersäte Straße entlangholperten, kamen wir an endlosen Gebäuden aus Glas vorbei, die riesig und glänzend aufragten.

»Hochzeitshallen«, sagte der Fahrer.

Draußen vor ihnen befanden sich eine bizarre Ansammlung von Palmen und Pyramiden und eine Nachbildung des Eiffelturms, die hoch in den Himmel ragte. Auf den Dächern der Gebäude waren Neonschriftzüge in Dari und Englisch angebracht – ausgefallene Namen wie Sham-e Paris oder Kabul Dubai. Blumengeschmückte Stretch-Limousinen glitten heran und parkten vor ihnen. Es sah mehr nach Las Vegas aus als nach Kabul.

Die Dämmerung brach herein, Vogelschwärme zogen über den Himmel. Je dunkler es wurde, desto mehr Lichter gingen auf den Hügeln an, und Holzrauch erfüllte die Luft.

Das Taxi hielt vor der Pension, die Faisal für mich im Norden der Stadt gefunden hatte. In meinem Zimmer setzte ich mein Gepäck auf dem Boden ab und sah mich um. Es war alles ziemlich standardmäßig: ein Einzelbett, ein Schreibtisch, ein wackliger Kleiderschrank, alles aus billigem Holz. Ein Plastikeimer für die Wäsche. Schmuddelige weiße Wände, ein dünner blauer Teppich. Es gab, zumindest für den Moment, Internetzugang. Ich fuhr meinen Laptop hoch und ging online.

Faisal und ich trafen uns am nächsten Tag in einer chaikhana, einem Teehaus in der Altstadt, im ersten Stock eines alten Gebäudes. Schläfrige Ventilatoren kräuselten die Luft. Wie üblich war ich die einzige Frau an einem solchen Ort, meine Fremdheit machte mich ehrenhalber zu einem Mann. Faisal stand auf dem Balkon und wartete. Er sah sehr gut aus, wohlhabend und klug.

Als er mich sah, lächelte er.

»Jo«, sagte er. »Ich freue mich so, dich zu sehen.«

Ich hätte ihn am liebsten in die Arme genommen und gedrückt, aber ich wusste, dass selbst ein Händeschütteln ihm Unbehagen bereitet hätte, also lächelte ich einfach.

»Ich freue mich auch sehr, dich zu sehen, Faisal«, sagte ich.

»Geht es dir gut?«

»Mir geht es sehr gut.«

»Und deiner Familie?«

Faisal weiß, dass ich keine Familie habe. Es war seine Art zu fragen, ob ich verheiratet sei. Ich wusste nie genau, was Faisal über diesen Aspekt meines Lebens dachte. Anders als seine Schwestern war er viel zu höflich, um es zu sagen.

Wir bestellten Tee.

»Deine Kinder, Faisal, wie geht es ihnen?«

Er kramte in seiner Tasche und holte Fotos von einem Jungen und einem Mädchen hervor, etwa sechs und acht Jahre alt.

»Sie sind wunderschön.«

»Du musst sie kennenlernen, und meine Frau Sonia auch.«

»Natürlich.«

Ich dachte an Leila und Sushila, wie sie gekichert hatten, als sie mir die Nägel lackierten. »Wie geht es deinen Schwestern?«

Er zögerte, dann sagte er: »Es geht ihnen gut.«

»Ich würde sie auch gern sehen.«

»Vielleicht.«

Faisal hatte erreicht, was er angestrebt hatte – er war Arzt geworden, und ein guter dazu. Er war leitender Oberarzt in einem der Krankenhäuser in Kabul und daher zu beschäftigt, um wieder mit mir loszuziehen, also hatte ich ihn per E-Mail gefragt, ob er jemanden kenne, der mich unterstützen könne. Als ich sagte, ich würde eine Frau bevorzugen, war er anfangs etwas ratlos, aber jetzt hatte er einen Vorschlag.

»Ihr Name ist Rashida. Sie ist die Tochter eines Kollegen, der auch ein sehr guter Freund ist. Sie hat gerade ihren Abschluss in Journalismus gemacht und sucht Arbeit. Es wäre eine gute Erfahrung für sie, und ich denke, sie könnte dir nützlich sein.«

»Großartig!«

Er zögerte.

»Was?«

»Du weißt, dass sie nicht alle Dinge tun kann, die ein Mann tun kann. Ihr werdet Begleitung brauchen, wenn du bestimmte Orte aufsuchen möchtest.«

»Das ist in Ordnung«, sagte ich. »Wir können uns einen Fahrer nehmen – wir werden sowieso einen brauchen. Und den Rest kriege ich schon hin.«

»Ich weiß«, sagte er.

»Und wann kann ich sie treffen?«

»Vielleicht morgen Nachmittag? Ich werde klären, ob sie verfügbar ist. Es gibt ein Lokal namens Flower Street Café. Da gehe ich manchmal mit meinen europäischen Kollegen hin.«

»Die Flower Street kenne ich«, sagte ich und sah die Stände mit den staubigen Sträußen Plastikrosen vor mir.

»Es ist nicht direkt in der Flower Street, sondern in Qala-e Fatullah, in der Nähe deiner Pension. Sie können dir den Weg erklären. Treffen wir uns dort um drei.«

Am nächsten Nachmittag fuhr ich eine staubige, leere Straße hinunter zum Flower Street Café. In der Pension hatte man auf einem Taxi bestanden, worüber ich am Ende froh war, denn die blanken Betonwände sahen mir nicht gerade nach einem Café aus. Als wir vor einer Metalltür anhielten, saß ich einen Moment lang da und fragte mich, ob wir am richtigen Ort waren, dann entdeckte ich ein handgeschriebenes Schild.

Ich stieg aus dem Taxi und klopfte an die Tür. Ein Guckloch glitt auf und ein Wachmann schaute mich an.

»Flower Street Café?«, fragte ich.

Er grunzte und ließ mich ein. Ich betrat einen kleinen Innenhof, wo ein weiterer streng aussehender Wachmann stand, eine Kalaschnikow über die Schulter geschlungen. Er wies auf meine Tasche.

»Sie haben Waffe?«

Ich schüttelte den Kopf und öffnete die Tasche, nervös wegen meiner Kameraausrüstung, aber nach einem kurzen Check nickte er, und ich trat durch eine weitere Tür.

Ein schmaler Pfad führte zu einem Garten mit Rosen und einem Rasenstück, auf dem Tische unter heiteren roten Sonnenschirmen aufgestellt waren. Am fernen Ende befand sich ein von Weinreben umrankter Pavillon, in dem mehrere Leute saßen, die ins Gespräch vertieft waren oder an ihren Laptops arbeiteten. Faisal entdeckte ich nicht, also schlenderte ich ins Haus. Hier ging es noch geschäftiger zu als im Garten, es war voller weiterer Expats bei der Arbeit, die stirnrunzelnd auf Bildschirme blickten, Telefone neben sich, Tassen mit Kaffee in Reichweite.

Ich kehrte in den Garten zurück, suchte mir einen Tisch im Schatten und bestellte bei dem freundlichen Kellner einen Mango-Smoothie. Ein paar Minuten später erschien Faisal.

»Das ist Rashida«, sagte er. »Und das ist ihr Bruder Ahmed.«

Ahmed war offensichtlich mitgekommen, um mich unter die Lupe zu nehmen. Charme schien mir die beste Strategie.

»Hallo«, sagte ich. »Schön, euch kennenzulernen.«

Er nickte nur, aber Rashida lächelte. »Ich freue mich auch sehr, dich kennenzulernen.«

Es entstand eine Pause, während der Kellner erschien, um die Bestellungen aufzunehmen. Dann kamen wir zur Sache.

»Rashida, Faisal hat mir erzählt, dass du Arbeit suchst. Ich würde mich freuen, wenn du mir behilflich sein könntest«, sagte ich und schaute dabei sowohl Ahmed als auch sie an.

»Was genau soll sie tun?«, fragte Ahmed. »Was hoffst du fotografieren zu können?«

»Ich will mir ansehen, was der Krieg für ganz normale Menschen bedeutet.«

Er schaute skeptisch drein.

»Ich will keine ISAF-Truppen fotografieren«, fuhr ich fort. »Und ich bin nicht auf der Suche nach Taliban.«

Sowohl er als auch Rashida wirkten verwundert.

»Wirklich«, sagte ich schnell. »Ich will nur mit den Menschen reden und Fotos von ihnen machen. Faisal kann euch bestätigen, dass ich immer sehr vorsichtig bin. Ich gehe keine unnötigen Risiken ein.«

Faisal nickte. »Stimmt, das tut sie nicht.«

»Rashida, glaubst du, du könntest mir helfen? Bist du interessiert?«

Sie und ihr Bruder tauschten Blicke, dann nickte sie. »Ja, gern.«

Zwölf
ELIZABETH WILLOUGHBYS TAGEBUCH

7. Januar 1915

Heute kam ein Photograph zu Besuch. Aus seinen Aufnahmen werden Postkarten gemacht, die die Patienten an ihre Familien nach Hause schicken können und die in der Stadt verkauft werden. Ich finde es etwas seltsam, mir diese Bilder neben Bildern vom Aquarium und vom Palace Pier vorzustellen, aber ich nehme an, über Geschmack lässt sich nicht streiten.

Mr. Fry war ein adretter kleiner Mann, der von einem Assistenten begleitet wurde, Mr. Cartwright, dessen Aufgabe es zu sein schien, die umfangreiche Ausrüstung zu tragen, während Mr. Fry dafür sorgte, dass jedes Porträt genau so war, wie er es wollte.

Wir hatten uns viel Mühe mit den Vorbereitungen gegeben: Von ganz oben war die Order gekommen, einen guten Eindruck zu hinterlassen, und so wurden die Patienten hergerichtet, die Betten geglättet, Blumen gepflückt und hübsch arrangiert, aber Mr. Fry machte ein Gewese und wollte, dass wir die Betten den Bruchteil eines Zolls hierhin und dorthin rückten und dann wieder zurück, und sagte, seine Photos müssten die Tatsache widerspiegeln, dass der PAVILION ein Militärkrankenhaus ist und deshalb, wie er es nannte, »perfekte Linien« haben müsse.

Mir bereitete es Sorge, die Betten zu bewegen, während die Patienten darin lagen, aber ich rief mir Colonel MacLeods Order in Erinnerung und wies die Pfleger an, Mr. Frys Anweisungen zu befolgen. Als die Betten positioniert waren, musterte Mr. Fry sie lange, blinzelte, legte den Kopf schief, wandte sich dann an mich und fragte, ob ich die Decken glätten könnte, da sie ein wenig faltig seien.

Obwohl ich leicht indigniert war über seine Andeutung, dass die Betten vielleicht nicht ganz perfekt waren, tat ich, was er wünschte.

Plötzlich war Hari an meiner Seite.

»Sie sollten so etwas nicht tun«, murmelte er. »Erinnern Sie sich?«

»Oh«, flüsterte ich erschrocken. »Ja. Natürlich.«

Während der Pfleger sich durch die Bettenreihe arbeitete, die Decken flachklopfte und glattstrich, drehte ich mich zu Hari um und bedankte mich im Flüsterton. Der Anflug eines Lächelns huschte über seine Lippen, und er quittierte meinen Dank mit einem kleinen Achselzucken.

In der Zwischenzeit hatte Mr. Fry seine Aufmerksamkeit darauf gelenkt, wie wir uns aufstellen sollten. Die Patienten sollten aufrecht im Bett sitzen, die Hände auf der Decke übereinandergelegt, den Blick geradeaus gerichtet, nicht auf die Kamera, die Mr. Cartwright geduldig am anderen Ende des Raumes in Position brachte. Mr. Fry wählte sorgfältig sechs Mitarbeiter aus und hieß uns neben den Betten der Patienten Stellung nehmen.

Der Tag war frisch, aber nicht kalt, und so wurden einige der Patienten überredet, gruppenweise im Garten zu posieren: die Sikhs zusammen, dann die Gurkhas, Dogras und Pathans. Ich fühlte mich an die Schule erinnert, als Mr. Fry sie dirigierte wie für eines dieser scheußlichen Klassenphotos am Ende des Schuljahrs: einige saßen vorne, die anderen standen hinter ihnen, und ich dachte an Miss Hewitt, die uns herumkommandierte, während der Wind in Böen vom Meer her wehte und wir mit unseren Lacrosse-Schlägern zitterten.

Ich hatte nicht erwartet, dass ich auf den Bildern des Operationssaals zu sehen sein würde, da ich für gewöhnlich nichts darin zu suchen habe, aber Mr. Fry wollte eine Frau dabeihaben, damit es weniger streng aussah. Ich stand zwischen den britischen Ärzten und Hari und versuchte auszusehen, als ob ich dazugehörte.

Als Mr. Fry fertig war, drehte ich mich zu Hari um, der sich vor der Kamera genauso unbehaglich gefühlt hatte wie ich, und gestand, dass ich froh war, dass es vorbei war und dass es mir schwergefallen war, mich unbefangen zu geben.

»Ich mache mir Sorgen darüber, wofür man sie benutzen wird«, sagte er.

Ich fragte, was er damit meine, und er äußerte die Vermutung, dass man die Postkarten zur Rekrutierung verwenden würde. Wenn die Patienten die Postkarten an ihre Familien schickten, würde jeder in Indien denken, wie wundervoll das Krankenhaus war, und dankbar sein und noch mehr Söhne in den Krieg schicken.

Ich dachte einen Moment darüber nach. »Nun, unser Krankenhaus ist ziemlich gut. Und wir brauchen in der Tat mehr Männer an der Front.«

 

»Ich habe eine Theorie«, sagte er. »Erinnern Sie sich an unser Gespräch über die Bemühungen, den Männern gerecht zu werden und alles getrennt zu halten?«

Ich nickte.

»Und haben Sie von dem indischen Aufstand gehört?«

Ich nickte wieder. Roberts Großvater war bei der Belagerung von Delhi ums Leben gekommen – Robert hatte mir alles darüber erzählt.

»Und wissen Sie, dass er durch das Gerücht ausgelöst wurde, die Patronen für die Armee der East India Company seien mit Schweineschmalz und Rindertalg behandelt worden?«

Ich bejahte, begierig darauf, mein Wissen zu zeigen. »Die Sepoys mussten sie aufbeißen, um das Schießpulver freizusetzen, und das war für Moslems und Hindus gleichermaßen ein Verstoß gegen ihre religiösen Vorschriften.«

Er schien überrascht, dass ich das wusste, und sagte, seiner Theorie zufolge hätten die Briten aus ihren Fehlern gelernt: Sie wüssten jetzt, dass sie diese Dinge richtig handhaben müssten. Mit Tausenden von indischen Soldaten an der Front sei ein weiterer Aufstand das Letzte, was sie wollten. Was sie jedoch wollten, waren mehr Männer, um ihren Feldzug fortzusetzen, und so sei es wichtig zu zeigen, dass man sich um die Inder, die bereits hier waren, gut kümmerte.

»Von den anderen Hospitälern machen sie keine Postkarten, oder? Sie haben den PAVILION ausgewählt, weil er so beeindruckend aussieht.«

Vielleicht hatte Hari recht: Nichts ist so einfach, wie es scheint, und alles Gute geschieht aus verborgenen Gründen, aber ich war mir da nicht so sicher.

»Ich pflege die Männer, weil ich möchte, dass sie sich erholen. Ich will etwas bewirken. Wollen wir das letzten Endes nicht alle?«

Er stand einen Moment lang ganz still und dachte nach; dann lächelte er. »Natürlich. Aus dem Grund bin auch ich hier.«

Erleichtert erwiderte ich sein Lächeln. Ich weiß nicht, warum, aber irgendwie möchte ich, dass Hari Mitra gut von mir denkt.

Er schaute mich etwas seltsam an, als ob er versuchte, etwas zu ergründen, und sagte dann etwas Merkwürdiges. »Ich bin nicht … nicht immer sehr gut in …«

»Worin?«

»Ich meine, ich sehe nicht immer das Beste in einer Situation oder in den Menschen. Das ist ein Fehler, den ich habe, ich weiß.«

Ich war überrascht über die Intimität seines Geständnisses.

»Sie … Sie sind der erste Mensch, seit …«

Er brach ab, holte tief Luft, als wolle er noch etwas sagen, aber dann drehte er sich um und ging schnell davon. Ich stand da und wusste nicht recht, was gerade passiert war und was er hatte sagen wollen. Das frage ich mich auch jetzt noch.

Olete lõpetanud tasuta lõigu lugemise. Kas soovite edasi lugeda?