12 fette Frauen

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Die Kartoffeln der letzten Nacht

In der Wohnung von Carmens Mutter, die sich im 12. Stock eines Steilshooper Plattenbaus befindet, herrscht ein regelrechter Menschenauflauf. Während ich das denke, denke ich auch an meine Pizza im Backofen, die ich gerade noch rechtzeitig abgeschaltet habe. Mein Magen knurrt, aber ich schenke ihm keine Beachtung, sondern versuche Carmen in der Menge zu entdecken. Da ist sie. Mit Pandaaugen von der verschmierten Wimperntusche rennt sie mir entgegen, ihre sonst so gestylte Löwenmähne hängt schlapp herunter. Sie schluchzt „Paulaaaa" und drückt sich an mich. Ihr Freund Rami kommt ebenfalls auf mich zu, so blass, wie man als Halb-Inder nur sein kann. „Was ist denn nur passiert?", frage ich. Die anwesenden Polizisten debattieren laut mit einer Nachbarin, die in absolute Hysterie ausgebrochen ist, und irgendein trainierter Schnösel macht Fotos. Was genau fotografisch festgehalten wird, ist mir nicht klar. Denn eine Leiche sehe ich nicht. Genau das verwirrt mich. All der Lärm und keine Erklärung, kein Anhaltspunkt.

Carmen versucht sich zu fassen. „Sie ... sie hat sich vom Balkon gestürzt:"

„Wie bitte?!" - "Ja. Mama hat sich ... sie hat", Carmen muss eine Pause machen. „Sie hat sich das Leben genommen". Sie löst sich aus unserer Umarmung, um sich die Augen zu reiben. Rami streichelt ihr liebevoll über die Schulter. Er sieht total schockiert aus. Genau wie ich. „Aber Carmen, deine Mutter war der optimistischste Mensch der Welt! Und wir haben doch gerade am ... am Dienstag, genau, am Dienstag zusammen zu Abend gegessen! Und dann hat sie uns die Karten gelegt, wie sie es bei Astro TV gelernt hat. Und sie hat nur Gutes kommen sehen. Wie ... wie kann denn das sein?!" Ich verstehe es nicht. Carmen beginnt erneut zu weinen. Rami setzt sich für eine Weile mit ihr aufs Sofa. Der offene Wohnbereich lässt auf nichts Besonderes schließen. Es ist alles sauber und ordentlich. Auf dem Tisch stehen ein paar Kartoffelchips, die Schüssel ist fast halb voll. Eine Illustrierte liegt aufgeschlagen daneben. Klatschpresse. Irgendwas über den königlichen Spross von William und Kate. Das Leben der anderen hat Maria schon immer interessiert. Aber genau das ist es ja: vieles hat sie so sehr interessiert, dass sie sich niemals umgebracht hätte. Ich sehe keinen Abschiedsbrief. Keine Weinflasche, keine Pillen, nichts, was irgendwie auch nur in der leichtesten Form das Thema Selbstmord anskizzieren würde. Ich betrachte erneut den königlichen Spross. Gut, kleine Kinder sind, wie ich finde, nur selten ein ästhetischer Anblick. Bitte verzeih, William, ich reagiere da eher auf Hundewelpen. Aber auf keinen Fall ist der royale Nachwuchs so eine Gesichtsentgleisung, dass man sich aufgrund dieses Artikels vom Balkon stürzen müsste.

Ich bahne mir den Weg durch all die Menschen, von denen ich keinen einzigen kenne, bis hin zum Balkon. Ein dicker Mann und ich sind die einzigen hier. Gedankenverloren zieht er an seinem Zigarillo, die andere Hand tief vergraben in der Tasche seines Trenchcoats. Eine Halbglatze schmückt seinen dicklichen Kopf, die spärlichen Haarsträhnen wehen im Wind und er wirkt selbst beim Ausatmen konzentriert.

„Sie erfüllen aber auch jegliches Klischee eines Ermittlers!", höre ich mich sagen, ganz unbewusst. Er zieht eine Augenbraue hoch und lacht mit tiefer Stimme. Dann streckt er mir die Hand, die zuvor in der Tasche war, entgegen

„Clausen. Und Sie sind?"

„Paula Groß. Eine Freundin der Familie."

„Eine Freundin von Maria?"

„Ja. Und von Carmen. Und von Carmens Freund Rami."

„Aus mehr Leuten besteht die Familie nicht?"

„Nein." Ich schüttle den Kopf.

„Wo ist Carmens Vater?"

„Durchgebrannt, mit einer Jüngeren. Aber schon vor 20 Jahren. Warten Sie, es gibt noch einen Onkel. Jürgen, Marias älterer Bruder. Der lebt in St. Pauli. Er besitzt dort eine Kneipe, das Nachtlicht."

„Löblich, gut informiert." Herr Clausen schmunzelt zufrieden

„Vielleicht", sage ich. „Ein paar Dinge weiß ich nur ungefähr. Carmen hatte mal eine Schwester, Jennifer. Sie ist verschwunden, vor über 15 Jahren. Aber sprechen Sie das bloß nicht an.“

Clausen nickt. „Jede Familie hat so ihre Geheimnisse."

Als ich das Geländer des Balkons berühre, trifft es mich wie ein Schlag.

„Herr Clausen ...", ich beginne meinen Satz langsam, kann ihn aber eigentlich kaum zurück halten. „Sie wissen, Carmens Mutter war sehr dick."

„Ja?"

„Ja. Also, wirklich dick. Sie hat ganz bestimmt über 150 kg gewogen."

„So etwas vermuteten die Leute von der Gerichtsmedizin, also, nach dem Aufprall … "

Ich verziehe kurz das Gesicht, rede aber weiter. „Ich wiege auch einiges."

Er sieht mich prüfend an. „Wollen wir jetzt über die Tricks und Kniffe der Weight Watchers debattieren – oder warum sprechen Sie diese Thematik an?"

Trocken. Und ein bisschen verbittert. Herr Clausen gefällt mir. „Gern ein anderes Mal. Worauf eigentlich hinaus will: Sehen Sie das Geländer, an dem wir stehen? Ich bin etwa 1,70 m groß. Das Geländer geht mir bis über die Taille, fast bis zur Brust. Ich müsste mich sehr anstrengen, darüber zu klettern. Für einen spontanen Selbstmord ohne Aufputschmittel, Hocker, Komplizen ... sehe ich da anatomisch keine Chance. Es würde mir zumindest schwerfallen. Und Maria war nicht mal 1,60 m groß."

Clausen verschluckt sich am Rauch seines Zigarillos. Dann fasst er sich und sieht mich ernsten Blickes an: „Paula Groß. Bis vor zwei Sekunden war ich noch chronisch gelangweilt von allem. So chronisch gelangweilt, dass ich das Offensichtliche ... übersehen habe." Er schüttelt den Kopf. Seufzt. Schüttelt erneut den Kopf. Dann reicht er mir seinen Zigarillo: „Nehmen Sie einen Zug. Wir haben einen Mordfall zu lösen."

Spät am Abend in Bahrenfeld: Carmen, Rami, ich und meine kalt gewordene, halb fertige Pizza sitzen auf dem Sofa in der Wohnküche. Niemand redet, ich nippe an meinem vierten Weinglas. Vielleicht auch am fünften. Carmen trinkt mittlerweile aus der Flasche. Gut, dass ich immer einen Vorrat da habe. Das ist vermutlich das Einzige, das sich an meinem Leben seit der Studentenzeit grundlegend geändert hat. Alkoholhaltige Getränke sind immer im Haus. Alles andere lasse ich regelmäßig ausgehen, aber bei Wein verstehe ich keinen Spaß mehr, so kurz vor der 30. Vielleicht ist das auch nur ein Anzeichen der Ende-Zwanzig-Krise von der jetzt alle Welt spricht.

„Wusstet ihr, dass die meisten Deutschen so erbärmlich sind wie wir und nur billigen Wein trinken?" frage ich in die Runde. „Der Anteil der wirklichen Weinkenner in der Bevölkerung liegt bei unter fünf Prozent. Alle anderen kaufen, ich sag mal, preiswert. Billigwein eben. Ich dachte immer, mein Vier-Euro-Wein sei schon stark am Rande der Asozialität, aber ich habe mich geirrt", beende ich meinen Monolog und frage mich kurz, ob es das Wort Asozialität überhaupt gibt. Carmen, die zwischen Rami und mir sitzt, nimmt thematisch passend noch einen ordentlichen Schluck. „Warum weißt du so was?", fragt Rami. Angetrunken lache ich in mich hinein. „Also, Rami. Wie du weißt, ach, was sag ich, wie allgemein bekannt ist, habe ich in meinem Leben so unglaublich erfolglos Männer aller Nationalitäten gedated. Carmen, erinnerst du dich an den Italiener?" Carmen nickt. „Jedenfalls, der Italiener: Paulo, ein Mann der großen Worte und vor allem Freund blumiger Adjektive, hat mich bei unserem ersten Date eine Weinverkostung machen lassen. Und gezahlt hat er auch. Was mein Glück war. Er hat mir das erzählt. Der kannte sich aus, mit Wein zumindest. Und das Lustige ...", diese eigentlich so tragische Situation, der Wein und die Geschichte lassen mich unkontrolliert laut auflachen, „das Lustige ist, dass mein Lieblingswein bei der Verkostung ein italienischer Primitivo war. Ein italienischer Primitivo. Haha! Genau wie der Typ! Der war auch ein italienischer Primitivo! Alle Männer, an die ich gerate, sind Primitivos."

Jetzt muss Carmen auch lachen. Das erste Mal heute. Sie schüttelt sich.

Rami schaut irritiert und sagt nur: „Gut, dass Inder nicht für Wein bekannt sind, das hätte alles negativ auf mich zurückfallen können."

Carmen dreht sich zu ihm und lacht: „Gut, dass ihr Inder generell nichts habt, das euch irgendwie negativ anhaftet. Und jetzt fahr mich bitte schnell mit deiner Rikscha nach Hause, Schatz. Meine Mutter ist tot und ich bin betrunken und müde."

Carmen und Rami, oder kurz „Carmi" (die Bezeichnung hassen sie, zu Recht) schwanken aus meiner Wohnung Richtung Taxi. Wobei eigentlich nur Carmen schwankt – und meine Wahrnehmung von Rami. Der trinkt nämlich keinen Wein und erträgt fleißig alles, was uns mit Wein passiert. Aus dem Fenster sehe ich sie zum Taxistand laufen und probiere in meinem betrunkenen Gehirn, den Tag Revue passieren zu lassen. Aber irgendwie ist alles mächtig verschwommen. Mein Prachtgoldfisch. Mein Exfreund, der nie mein Freund war. Und wer sagt schon Ex-Liebhaber? Gibt es dieses Wort überhaupt im täglichen Sprachgebrauch? Und wievielen Menschen passiert so etwas täglich? Und was, wenn deine Mutter stirbt? Und es ist Mord! Hat Ulla die Schwingungen gespürt? Und hat der Clausen mal Punkte gezählt bei den Weight Watchers, aber am Ende nur sein Gewicht gehalten? Was stimmt denn nur nicht mit dem Universum? Was läuft denn nur schief? Ich leere mein Weinglas, mache noch kurz ein dümmliches Lachgeräusch wegen des italienischen Primitivos, falle in mein Bett und kurz darauf in einen tiefen Schlaf.

Mitten in der Nacht werde ich wach. Ein komischer Traum von einer der Erzieherinnen aus der Kita, in der ich meine erste Berufsausbildung gemacht habe, hat mich aus dem Schlaf gerissen. Beate. Beate war zwei Meter groß und zwei Meter breit. Beate war bei den Weight Watchers. Ich war nie ein Fan von Kartoffeln, aber Kartoffeln scheinen wenige WW Punkte zu haben. Beate aß sehr häufig Kartoffeln, das weiß ich noch. In meinem Traum sitzt sie am Tisch mit einer riesigen Schüssel voller Kartoffeln, die sie nur so in sich hinein schaufelt. 20 Kartoffeln, 21 Kartoffeln, 22 Kartoffeln. Essgeräusche, Kartoffelreste an ihrem Mund, einzelne Klumpen die beim Schlingen zurück in die Schüssel fallen. Ich bin schweißgebadet und mir ist etwas übel. Ich verfluche mein Unterbewusstsein, das den gestrigen Tag anscheinend nicht gut weggesteckt hat und hole mir ein Glas Wasser aus der Küche. Bei dem Blick auf die Uhr fällt mir auf, dass es schon sechs Uhr dreißig ist. Ich überlege kurz, wach zu bleiben, einen Kaffee zu trinken, einen Spaziergang zu machen, entspannt zu frühstücken und mit etwas Obst und Quark vital in die Woche zu starten.

 

Dann lege ich mich wieder hin.

Um 9 Uhr werde ich erneut wach. Ich habe wohl meinen Wecker nicht gehört – vielleicht habe ich ihn aber auch nie gestellt. Ich muss an Beate und die Kartoffeln der letzten Nacht denken und lachen. „Die Kartoffeln der letzten Nacht" wäre auch ein herrlicher Romantitel. Offenbar bin ich noch betrunken.

Ich komme viel zu spät in die Agentur, auch wenn ich mich heute mit allem sehr beeile. Ein Abdruck meines Kopfkissens ziert noch meine Wange, nicht mal Make-up konnte ihn kaschieren.

„Paula! Auch schon da?" Nico, der Geschäftsführer, kommt mir mit seiner üblichen aufgesetzt guten Laune entgegen, in seinem Blick erkennt man aber deutlich, dass er meine einstündige Verspätung nicht gerade charmant findet und auch generell verstimmt zu sein scheint.

„Kümmerst du dich bitte heute allein um die Pitch-Präsentation für die Fit Shake-Kampagne?", fängt er mich ab. „Es scheint ein Virus umzugehen. Ferdinand kümmert sich in der Beratung heute allein um das Tagesgeschäft und in der Kreation habe ich zwar noch nicht von allen Nachricht erhalten, aber bis jetzt bist du allein. Bianca hat letzte Woche schon einiges an Bildmaterial vorbereitet, ansonsten sind wir relativ schlecht aufgestellt, da das verantwortliche Team anscheinend schon am Wochenende krank war und einfach nicht gearbeitet hat ... Samstag und Sonntag war niemand hier, auch wenn wir es so besprochen hatten. Herrgott!", er schüttelt grantig den Kopf. „Das ist ein großer Kunde der uns viel Geld ins Haus bringen würde. Also gib dir bitte Mühe, wir brauchen dringend Neugeschäft. Ach, und schreib bitte auch die Texte der Powerpoint-Präsentation. Und ein paar Headlines fehlen auch. Vermutlich sogar alle. Vielleicht hat Ferdinand heute Abend Zeit, das Ganze einmal mit dir durchzugehen. Er wird nämlich morgen die Präsentation halten. Wir können es uns nicht leisten, dich als Arter vor diese Horde Fitness-Freaks zu stellen.", er mustert mich kritischen Blickes. „Du hast sicher ohnehin nicht das richtige Outfit parat und gehst mit dem USP nicht konform, da brauche ich Ferdi, um die Tonality zu treffen. Also, bereite alles bitte so vor, dass Ferdi und ich es morgen präsentieren können. Ich meine, ich werde der Präsentation beiwohnen, Ferdinand wird präsentieren, wenn du Fragen haben solltest ... dann frag auf keinen Fall mich, ich bin heute sehr beschäftigt, klärt das also bitte untereinander. Danke."

Und weg ist er. Bevor ich überhaupt ein Wort sagen konnte. „Du gehst mit dem USP nicht konform" – Wie bitte?! Seitdem Nico und ich nach einer Firmenfeierlichkeit gemeinsam auf der Reeperbahn versackt und später bei ihm erwacht sind, begegnet er mir immer häufiger mit total überspitzter Verachtung. Als hätte ich ihn betrunken gemacht und zum Akt gezwungen. Dabei war es eher andersherum – und eigentlich sogar fast ganz schön. Nachdem einige Mexikaner (die Schnäpse, nicht die Zentralamerikaner) den Stock in seinem Arsch und seine Lippen endgültig gelockert hatten, hat er mich mit Komplimenten zu meinen Kurven geradezu überhäuft. Aber vor allen Leuten zugeben, dass man auf eine Korpulente steht? Daran ist nicht zu denken, nicht für Nico jedenfalls. Das passt nicht zu seinem Image, seinem Sportwagen und seinem Penthouse. Auch wenn es zu ihm passen würde, zu seinem kleinen zart besaiteten Inneren, das niemand kennt. Schade eigentlich, mit Ende 30 noch so ein Versteckspiel spielen zu müssen. Aber das Ganze ist mittlerweile circa ein Jahr her, ich begegne ihm ganz normal (denke ich jedenfalls), eben auf professioneller Ebene. Aber er, als mein Chef, konnte es ganz offensichtlich nie komplett verwinden. Jetzt behandelt er mich wie eine Praktikantin, obwohl ich als Art Director eingestellt bin und sogar Führungsverantwortung habe. Wenn kein Virus umhergeht, jedenfalls. Ich mache mir und Ferdi einen Kaffee (Praktikanten-Style!) und gehe in die Beratung, wo er ganz allein im Tunnel der 1000 unbeantworteten E-Mails festhängt. Ferdi ist seit über einem Jahr Volontär bei NordMedia - übrigens eine inhabergeführte Werbeagentur, die mal als Medienagentur begonnen hat, nicht so hip wie die Hamburger Erstligisten, aber durch die kontinuierliche Ausbeutung ihrer Mitarbeiter dennoch sehr solide aufgestellt. Auch wenn Nico, Nicolas Nord (mein Chef heißt wie eine Ü-Ei-Figur), gern weitere Kunden begeistern würde. Natürlich gefiele ihm das, denn er verlässt nach all seinen mysteriösen Außer-Haus-Terminen (wir vermuten, er geht ins Fitnessstudio, macht seinen Motorbootführerschein, geht golfen, zum Barbier o.Ä.) ja auch um 18 Uhr das Büro und bekommt die geleisteten Überstunden der Belegschaft kaum mit. Jedenfalls, Ferdi, ehrgeiziges Kind aus reichem Hause, der auf eine Eliteuniversität ging und sein BWL-Studium mit eins abgeschlossen hat, ist ausgerechnet hier gelandet. In der Kundenberatung bei NordMedia und hat innerhalb von zwei Jahren gerade mal den Sprung vom Praktikanten zum Volontär geschafft, auch wenn er hier eigentlich das beste und wohl auch attraktivste Pferd im Stall ist. Wenn ich er wäre, dann würde ich den Job einfach schmeißen und mit Papas Yacht im Mittelmeer rumtreiben, Mädels aufreißen, Cocktails schlürfen, was man so macht als junge maskuline Elite.

Ich reiche ihm seinen Kaffee. „Paula!", erst jetzt bemerkt er mich. „Ich bin ja doch nicht allein hier." Er freut sich. „Danke für den Kaffee! Hat Nico dir schon von der Präse erzählt?"

Ich nicke. „Ja, das hat er."

„Sag mal, hast du eine Fahne?"

„Möglich."

Er lacht. „Ich könnte mir auch direkt wieder ein Bier aufmachen. Ich habe bestimmt schon zehn Telefonate geführt, die meisten in Vertretung. Alle Kunden wollen heute was, viele kommen sogar mit neuen Projekten an. Und wir können ohnehin keine einzige Deadline einhalten, denn die Kreation ist leer. Also, du bist die Kreation. Und dieser behämmerte Fit Shake hat Prio eins. Mal im Ernst – wer trinkt denn bitte so einen Scheiß? Wenn ich Proteine will, dann brate ich mir ein Stück Fleisch. Vielleicht ist so was maximal eine Ernährungsergänzung, okay. Aber nur noch Shakes trinken?" Er schüttelt den Kopf und seufzt. „Apropos trinken – haben wir Bier im Kühlschrank? Spätestens um 16 Uhr mach ich mir eins auf."

Ich grinse. „Da bin ich dabei. Gib mir ein Zeichen. Ich werde wahrscheinlich vor 16 Uhr meinen Blick nicht vom Monitor abwenden. Aber den Pegel konstant zu halten scheint mir sinnvoll."

Er nickt. Ich gehe in die Kreation, schalte meinen Rechner ein und bin der Fit Shake. Nur irgendwie besoffen und müde. Und etwas hasserfüllt auch. „Du gehst mit dem USP nicht konform.“ Ganz im Ernst, Nico: Wenn der USP ist, dass man von nun an aufs Essen verzichten kann, dann gehe ich damit auf keinen Fall konform. Ich gehe mit dem ganzen Produkt nicht konform. Ich verstehe Biancas Bildmotive nicht, auf denen ohnehin schon schlanke Menschen hysterisch lachen, während sie ihren Protein-Drink schlürfen. So viel Spaß hat man also mit Fit Shake. So viel Spaß hat man, wenn man das Essen einfach weg lässt. So viel Spaß und auch einfach ... so viel mehr Zeit. Man kann drei Minuten ohne Sauerstoff auskommen, drei Tage ohne Wasser und dreißig Tage ohne Nahrung. Wie wäre es aber, wenn man für immer auf Nahrung verzichten könnte? Nehmen wir an, wir ersetzen jede Mahlzeit kontinuierlich durch einen Shake. Essen dauert im Durchschnitt, wenn man bedacht kaut und so, zwanzig Minuten pro Mahlzeit. Einen Shake zu trinken dauert vielleicht drei. Das heißt, wir sparen drei mal siebzehn Minuten am Tag. Das sind 51 Minuten – runden wir also großzügig auf eine Stunde auf. Das ist also wie ... eine Stunde früher Feierabend. Eine Stunde mehr Zeit für die Familie. Für Hobbys und Interessen. Freiheit! Wir wären alle so frei, wenn wir endlich dieses lästige Essen weglassen würden. Wir hätten auch die komplette Mittagspause für uns und könnten endlich Dinge machen, die wirklich Spaß bringen. Ich überlege kurz, was ich in der Mittagspause lieber machen würde als, nun ja, zu Mittag essen. Mir fällt nichts ein. Ich schaue mir die Menschen an, die beim Fit Shake trinken total Spaß haben. Das sind dieselben Menschen, die man regelmäßig auf Plakaten oder in Zeitschriften über einem Salat lachen sieht. Als hätte der Salat einen total lustigen Witz erzählt. Keine gute Geschichte der Welt beginnt jemals mit einem Salat. Und mit einem Protein-Shake? Was machen diese Leute, wenn sie endlich nicht mehr essen müssen? Ich sehe sie manisch um die Alster joggen. Ins Fitnessstudio gehen, sechzig Minuten Rudermaschine, Beinpresse, Bauchpresse (gibt es das?) oder ... im Yoga-Kurs! Entspannung pur, die Auszeit vom Büroalltag. Man hat auch mehr Zeit für die Karriere: Kundenmeetings sind produktiver, die Ideenfindung ist umfangreicher. Aber natürlich ist der Freizeitausgleich ohne Nahrungsaufnahme der schönere Effekt. Zurück zum Yoga, Pilates, Yogates, ... man könnte auch eine neue Sportart für sich entdecken. Eine weitere Fremdsprache lernen und mit all der gewonnen Zeit eine Reise planen, ein Buch schreiben, ... aber energetische Tätigkeiten sind am besten. Eine Organisation oder ein Sozialprojekt unterstützen. Irgendwas founden, heute ist doch jeder Founder. Oder man wird zum Fashionblogger, jetzt sitzt ja auch alles besser, man hat ja abgenommen durch die Shakes. Man eröffnet einen Youtube-Kanal, dort kann man dann natürlich keine Kochtipps mehr geben, aber es gibt vermutlich auch andere Themen. Ich habe Hunger. Ich beschließe, dass mein Ansatz für die Präsentation ein provokanter Testimonial-Ansatz wird. Menschen, die davon berichten, was sich in ihrem Leben alles zum Positiven gewandelt hat, seit sie mit dem Essen aufgehört haben. So ähnlich wie eine Nichtraucher-Kampagne, nur absurder. Denn darum geht es Fit Shake ja: Niemand auf diesem Planeten muss mehr essen müssen! Wir werden soviel mehr Spaß haben. Soviel mehr Spaß habe ich auch, als ich laut lachend die Lines für die Testimonials verfasse. "Fit Shake hat mein Leben verändert! Seitdem ich nicht mehr essen muss, ..."

So eine gequirlte Scheiße. Ich bin so drin, dass ich manche Motive in der Präse sogar mit selbst eingesprochenen Audiospuren unterlege. Punkt 16 Uhr steht Ferdi neben mir, mit zwei kalten Flaschen Bier in der Hand. Für eine Sekunde kann ich mir tatsächlich vorstellen, am heutigen Tag nur noch zu trinken.

„Seitdem ich nicht mehr esse, habe ich soviel mehr Zeit für Bier. Ich habe zwar nichts abgenommen, dafür aber endlich meine Karriere beendet. Nachdem ich meine Wohnung verlor, fand ich unter einer Brücke neue Freunde mit ähnlichen Interessen. Wir haben sehr viel Zeit füreinander. Es ist wie das Paradies auf Erden, nur etwas kälter."

Ferdi und ich trinken unser Bier vor dem Gebäude, um etwas frische Luft zu schnappen. Ich rauche eine Zigarette und erzähle ihm dabei von meiner Fit Shake Idee. Er muss laut lachen. Dann sagt er: „Findest du es nicht etwas übertrieben?"

Ich nicke. „In der Tat, ja. Es ist fast schon bösartig. Nico wird es vermutlich hassen. Schaffst du es trotzdem, das Ganze ernsthaft zu präsentieren?"

„Klar", er ist überzeugt. Ich glaube ihm aufs Wort. Ferdinand, der Star am Powerpoint-Himmel. Ich kann ihn mir nur zu gut auf Feierlichkeiten der Eltern vorstellen, bei denen er ältlichen Ekeltanten die Hand küssen, trockene Dialoge über Weltgeschehen und Finanzen führen und dabei die ganze Zeit nett und professionell bleiben muss. Er hat dieses Lächeln, das eigentlich kein Lächeln ist. Es ist ein Reflex. Außerdem könnte er mit der richtigen Betonung die Gebrauchsanleitung eines Toasters vortragen und am Ende wäre einfach jeder vom Produkt überzeugt. Selbst wenn der Kunde sich eigentlich ein Waffeleisen gewünscht hätte. Um welche Kundenpräsentation es auch geht, Ferdi ist NordMedias Geheimwaffe. Und das als Volontär mit einem Bruttolohn von 1200 Euro.

Um 21.30 Uhr ist die 30-seitige Präsentation endlich fertig. Ich habe nicht nur eine Printkampagne, sondern auch ein Spotkonzept eingefügt. Außerdem habe ich mir noch ein paar Guerilla-Maßnahmen einfallen lassen, so on top. Kuriose Aktionen wie z.B. den „Shake Day" an dem sich alle Fit Shake-Anhänger an einem öffentlichen Platz (zum Beispiel auf dem Hamburger Rathausmarkt) treffen, wo Power-Plates bereitstehen und 51 Minuten (die Zeit, die man am Tag spart) kollektiv geshakt, also, gewackelt wird. Zuerst dachte ich an Tanzen, aber das war mir dann doch zu altmodisch. Außerdem soll es ein Gewinnspiel geben, bei dem jeder einreichen kann, was er mit einer zusätzlichen Stunde am Tag alles anfangen würde. Die Person mit der originellsten Antwort wird Fit Shake-Testimonial und somit Teil der Kampagne. Ansonsten werden Shakes, Sportkleidung und Fitnessstudio-Abos verlost.

 

Ich gehe alle Punkte mit Ferdi durch, er findet die Präsentation schlüssig, hält sich aber mit seiner inhaltlichen Meinung zurück. Gegen 23 Uhr schalten wir den Rechner aus. Ferdi fühlt sich gut vorbereitet für den Kundentermin, der schon um 8.30 Uhr stattfinden soll und ich bin unglaublich verwundert darüber, dass noch immer kein schlechtes Gewissen bei mir einsetzt. Nico wird außer sich sein, aber was setzt er auch jemanden an das Fit Shake-Projekt, der mit dem USP nicht konform geht?

Ich nehme mir noch ein Bier aus dem Agenturkühlschrank für den Heimweg mit und falle zuhause direkt ins Bett. „Essen! Keine Zeit für den Scheiß." Ich bin Single, fast 30, meine beste Freundin hat ihre Mutter verloren und ich, allem Anschein nach, meinen Verstand.