12 fette Frauen

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Bevor meine erste Schicht im

 Nachtlicht

anfängt, haue ich mich noch für ein paar Stunden aufs Ohr. Im Halbschlaf höre ich noch mein Handy klingeln, blende es allerdings aus. Erst als jemand nicht aufhört, an der Tür Sturm zu klingeln, gebe ich mein Nickerchen auf und erhebe mich grantig. Es ist meine Nachbarin Mandy aus dem Erdgeschoss.  „Oh, hast du geschlafen?", fragt sie, als sie meinen Gesichtsausdruck in der Kombination mit dem Abdruck meines Kissens im Gesicht bemerkt.   „Hm."  „Sorry! Kann ich ganz kurz Lotti bei dir lassen?" Sie schiebt den kleinen Menschen schon durch die Tür. „Es ist ein Notfall! Tilly ist noch bei der Tagesmutter und die hat eine Panne am Auto und jetzt kann sie ihn nicht vorbeibringen weil sie sich weigert, die öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen. Und ich will nicht im Feierabendverkehr mit zwei Kindern Bus fahren. Bitte Paula. Es dauert auch nur eine halbe Stunde, vielleicht 45 Minuten, aber bestimmt nicht länger."  „Mandy, ich hab heute Nachtschicht auf dem Kiez und ich muss in einer Stunde los ..."   „Auf dem

Kiez

? Okay, erzähl mir das später, ich beeil mich, danke Paula. Tschüsschen!"  Und weg ist sie. Lotti steht vor mir und schaut mich verwirrt an.   „Du hast doch gar keine Zeit für mich, Paula, wenn du gleich zur Arbeit musst. Können wir dann nichts spielen?"  Sie ist dieses Jahr fünf geworden und schaltet schneller als ihre eigene Mutter.   „Doch, Lotti, ein Puzzle können wir noch schaffen." Ich versuche sie anzulächeln und merke dabei, dass meine Gesichtszüge noch schlafen. Dann krame ich Mandys Notfallspielsachentasche aus einer Ecke, die tatsächlich regelmäßig zum Einsatz kommt und ziehe Lottis Minnie Mouse-Puzzle heraus. „So Lotti", sage ich. „Du fängst schon mal an und ich mache mich kurz schick für die Arbeit, okay?"  „Okay", Lotti nickt tapfer und kippt die Puzzleteile auf meinem Schlafzimmerfußboden aus. Ich schließe fix meine Küchentür, weil ich nicht sicher bin, ob ich beim schnellen Durchkehren alle Teile des Aquariums erwischt habe und gehe ins Bad um mir ein neues Gesicht aufzumalen. Durch die offene Badezimmertür höre ich Lotti singen. Ich tippe auf Miley Cyrus'

'Wreckingball'

und muss den Kopf schütteln. Mandy ist eben manchmal eine richtige

Mandy

. Während meine Schwester und ich mit fünf Rolf Zuckowski gehört haben und die schlimmsten musikalischen Fehltritte die Neue-Deutsche-Welle-Schallplatten meiner Mutter waren, wachsen Lotti und Tilly mit Miley Cyrus auf. ‚

Hoffentlich haben sie das Musikvideo nie gesehen'

, denke ich, als es schon wieder an der Tür klingelt. Ich werfe mir im Spiegel einen genervten Blick zu. Heute ist der zweite Tag meiner Arbeitslosigkeit und die erwartete und irgendwie auch erhoffte Langeweile scheint einfach nicht aufzukommen.  „Hat Mama was vergessen?", ruft Lotti von nebenan.   „Ich hoffe nicht", rufe ich zurück. Um ehrlich zu sein habe ich aber die selbe Vermutung. ‚Kluges Kind, dumme Mutter', denke ich, als ich den Summer drücke. Ich lasse einfach die Wohnungstür offen und tusche weiter meine Wimpern.  „Hallooo?", ich höre eine Männerstimme in meinem Flur. Als ich mich irritiert nach links drehe, steht in meinem Flur, und auf Grund dessen nicht vorhandener Größe, fast neben mir, ein Fahrradkurier. "Hab isch hier Einschreiben für Frau

 Kloß

!"   „Frau

 Groß

!"  „Genau, mein isch das, ja. Müssen zie hier Autogramm."  Aus meinem Schockmoment heraus unterschreibe ich blitzschnell. Dann sagt er noch: „Zie haben da was an Ihre Gezicht." Und schon ist er weg. Wie es aussieht, halte ich nun meine offizielle Kündigung in der Hand ... und habe einen Teil meiner Wange mit getuscht.  Lotti steht vor mir, zeigt mit ihrem kleinen Zeigefinger auf mein Gesicht und lacht. „Du bist ein Indianer! Das sieht lustig aus! Haha!"  Ich werfe den Umschlag in eine Ecke und zücke meinen Kajal. „Stimmt, Lotti. Du hast das gut erkannt. Was willst du sein? Auch ein Indianer? Oder eine Katze?"  „Eine Katze! Eine Katze! Miaaau!", sie hüpft vor Begeisterung.  ‚Okay', denke ich. ‚Ich bin eine dicke, arbeitslose Single-Frau an die 30 ... aber das entbindet mich ja nicht automatisch von meinem sozialen Gewissen.'   Fertig angemalt spielen wir noch kurz eine Weile

Katze und Indianer,

 wobei ich von Lotti lerne, dass Katzen Indianer fressen („

Auch dicke Indianer, hihi"

) bis Mandy gerade rechtzeitig in der Tür steht. Leicht abgehetzt schaffe ich es noch pünktlich zum

 Nachtlicht

, in dem heute meine Einarbeitung stattfindet. Kuddel steht schon vor der Tür und gemeinsam warten wir voller Vorfreude auf Jürgen. Insgeheim wollte ich schon immer Barfrau sein, vor allem in so einer herrlichen Ur-Hamburger Kaschemme. „Da kommt er!", ruft Kuddel, der Jürgen zuerst gesehen hat. „So Kinder!", Jürgen ist bester Laune.   „

Los geht das!"





Erste Ermittlungen



Gegen Ein Uhr morgens stehe ich allein im

Nachtlicht

. Kuddel ist heut früh nach Hause gegangen, weil er morgen Hochzeitstag hat.

Hochzeitstag

. Nichts an Kuddel kam mir je verheiratet vor, aber nun gut. Ich nippe an meiner Flasche Astra, schlendere dann rüber zur Jukebox und treffe eine neue Musikauswahl. Schon ein wenig besser, aber immer noch langweilig. Ich überlege, einfach auf den Tresen zu steigen und zu performen, schüttle dann allein wegen der Vorstellung den Kopf (es läuft Europe:

Final Countdown

, da sind auf jeden Fall große Gesten möglich) und setze mich wieder auf meinen Barhocker. Keine Nachricht von Saïd, dafür 12 Nachrichten von meiner Schwester („Paula, kannst du mir am Wochenende mit der Steuer helfen? - Ich koch dir auch was Schönes!! - Also, das wäre echt total nett von dir. Wir sind auch allein, Heiner ist mit den Jungs übers Wochenende weg. - Dann machen wir uns einen Mädelstag *gg* - Sag mal, wie's dir passt. - Alles ok, große Schwester? - Gibt auch Kuchen!! - Oder Torte, wenn du magst - Hallooo?!?! - Alles gut bei dir, Fräulein? - PAULA! Ich rede mit dir!" ... ), einen Kettenbrief von Mutti (im Stil von "Ein kleiner Engel wacht heute Nacht über dich ... wenn du diesen Kettenbrief unterbrichst, tötet er dich im Schlaf!!") und eine von Ferdi, der fragt, ob wir uns treffen können. Gesendet um 0:31h, also noch gar nicht so lange her. Ich schreibe ihm, dass er ins

Nachtlicht

kommen kann, falls er noch wach ist. Dann beantworte ich die panischen Nachrichten meiner Schwester, die natürlich um diese Uhrzeit schon schläft, tippe meiner Mutter einen kurzen Text, der meine Meinung zu Kettenbriefen relativ deutlich macht („Hör auf, mir so einen Scheiß zu schicken! Sonst organisier ich jemanden, der

wirklich

 dafür sorgt, dass alle Blumen in deinem Garten eingehen und du sieben Tage lang unreine Haut bekommst!"). Als ich den Blick vom Handy abwende, betritt Ferdi den Laden. Als hätte er hinter der nächsten Ecke gestanden und nur auf mein

 Go

gewartet.  „Hi", er kommt mit einem besorgten Lächeln auf mich zu und versucht, mich über den Tresen hinweg zu umarmen.   „Hey", sage ich, "willst du 'n Bier?"  Er nickt, ich reiche ihm ein Astra und mache mir auch ein neues auf. Jürgen hat schließlich gesagt, Getränke sind im Lohn enthalten.  Die Jukebox spielt nun „Dancing with myself" von Billy Idol. Der Song meines Lebens.   „Darfst du jetzt überhaupt Bier trinken?", fragt Ferdi mit ernster Miene.   Ich verschlucke mich und spucke einen Schluck Bier über den Tresen, ein anderer sprudelt mir aus der Nase.   Ferdi klopft mir auf den Rücken.  „Geht schon", sage ich. Dann atme ich einmal tief durch und fahre fort: „Ich bin gar nicht schwanger."  „Was?!", Ferdi schaut mich verwirrt an.   „Nur dick", sage ich etwas kleinlaut.  „Aber Bianca hat ..."   „Ja", unterbreche ich ihn „

Bianca

."  „Sie hat es allen erzählt. Zwar hinter vorgehaltener Hand, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es

jeder

weiß." Er schüttelt den Kopf. „Warum denkt sie sich so etwas aus?", fragt er ungläubig.  „Nein, also, so war es nicht.", verteidige ich mich und werde immer kleinlauter. In dem Moment hatte mir die Idee so gut gefallen. „Ich hab so getan als ob. Weil sie doch jetzt mit Nico liiert ist. Nachdem nun die ganze Agentur weiß, dass wir mal was hatten, war sie schrecklich wütend auf mich und hat mich beleidigt. Da wollte ich ihr einfach eins auswischen, verstehst du."   „Hm", macht Ferdi. „Nicht wirklich. Aber gut. Meinst du echt, dass sie mit Nico

zusammen

 ist? Ich glaube, das ist eher eine Liaison der Gattung

Meine kleine blonde Matratze

. Ich mein, eine enge Beziehung hat der doch nur zu sich selbst."  „Hm", mache ich. „Meinst du, ich hab jetzt einfach all ihre Hoffnungen zerstört?"  „Na, vor allem

 sein

Image unter den Kollegen!"  „Weil jetzt alle wissen, dass er mit einer

dicken Frau

geschlafen hat?"  „Nein, so ein Quatsch", er sammelt sich kurz. „Weil er mit

 dir

geschlafen hat, Paula. Und dich

angeblich

geschwängert hat, ohne sich um dich und das Kind zu sorgen.

Das

hat sein Image zerstört.“ Er verdreht die Augen und spricht weiter: „Doch nicht der Fakt, dass er mit dir geschlafen hat.

Das

 macht ihn doch eher zu einem Glückspilz."  „Ja,

 klar

", sage ich etwas grantig. Ist ja nett von Ferdi, dass er mich verteidigt. Aber man muss dabei ja nicht gleich unrealistisch werden. Wir trinken schweigend unser Bier.  "War es bei

Fit Shake

wirklich so schrecklich?", frage ich nach einer Weile.  Er zuckt mit den Achseln. „Keine Ahnung. Die haben ein absolutes Pokerface aufgesetzt. An manchen Stellen hat die Frau aus dem Marketing gelacht, worauf ich sie dann einfach charmant angelächelt habe. Am Ende der Präse hab ich mich das erste Mal umgesehen und Nico war einfach verschwunden. Na ja, ich hab mich für die Aufmerksamkeit bedankt, alle Hände geschüttelt, in Ruhe mein Notebook abgebaut und mich von der Marketingfrau zum Mittagessen mitnehmen lassen. Die haben da eine Kantine und

 hey

- es gab zwar Salate, aber auch Pizza und anderes richtiges Essen. Sie heißt Jaqueline, sieht aber zum Glück nicht so aus und hat ein Schnitzel bestellt. Allerdings hat sie zu unseren Ideen nichts mehr gesagt, das

dürfe

 sie nicht, meinte sie. Sie haben sich an dem Tag noch zwei weitere Agenturen angesehen und gestern noch eine und die Entscheidung fällen sie spätestens Anfang nächster Woche. Ich hatte nicht das Gefühl, dass wir uns tatsächlich blamiert haben."  Ich seufze. Manchmal ist der Kleine wirklich unglaublich naiv. „Weil sie dich

angraben

 wollte", sage ich, „natürlich musste sie dir dafür ein gutes Gefühl geben."  „Meinst du?", Ferdi grinst.  „Schon, ja."  „Jedenfalls ... als ich dann wieder in der Agentur war und nach dir gesucht habe, da hat Bianca mir erzählt, dass Nico dich gefeuert hat. Ihn habe ich übrigens auch seit der Präsentation nicht gesehen. Ganz merkwürdig."   „Hm."  „Ich bin froh, dass du nicht schwanger bist, Paula. Ein Kind von Nico ... das muss wirklich nicht sein."  Ich habe Ferdi voher noch nie etwas sagen hören, das die Firma oder Nico selbst auch nur in irgendeiner Form anzweifelt. Er ist der loyalste Mensch der Welt. Und jetzt gibt es schon den zweiten negativen Kommentar von sich. Ich feiere einen kleinen inneren Reichsparteitag und schenke uns zwei Schnäpse ein.    Um 3 Uhr mache ich den Laden zu. In Anbetracht meines konstant vorhandenen Pegels, fühle ich mich relativ nüchtern. Ferdi allerdings wirkt mächtig angetrunken.   „Sollen wir noch zu dir gehen?", lallt er, „noch einen Schnaps nehmen?"   „Neee", sage ich.  „Oder Kaffee!", er hält mich am Arm fest.  „Ne, lass mal. Du musst früh raus. Und ich hab eine Verabredung mit einem Ermittler vom Morddezernat."  „Was hast du?!"  „Erzähl ich dir wann anders mal in Ruhe."  „Na gut!", er umarmt mich zum Abschied relativ lange, vermutlich, weil er sich selbst kaum auf den Beinen halten kann und wankt dann Richtung S-Bahn. Ich laufe zu Fuß nach Hause und performe unterwegs ein bisschen zu "MMMBop" von den Hansons und vermisse die 90er: da war die Welt noch voller unmöglicher Farbkombinationen, die aus unerklärlichen Gründen funktioniert haben. Und Leggings waren keine bequeme Kompromisslösung, sondern angebracht.    

Can you tell me who will still care?


Mmmbop ba duba dop ba, du bop ba duba dop ba du - yeeeey, yeah!


 







Clausen geht bereits vor dem Gebäude auf und ab. Er zieht an seinem Zigarillo, während sein offener Trenchcoat im Hamburger Wind fast wie ein Superman-Cape hinter ihm her weht. Dem Betrachter wird somit ein guter Blick auf seine beeindruckende Plauze ermöglicht, welche sich unter einem dunkelblauen Wollpulli mehr als nur abzeichnet. Ich schüttle den Kopf über den

romantischen Gedanken

unserer Beziehung, den Carmen mir unterjubeln wollte.  Als er mich sieht, bleibt er stehen und zeigt mahnend auf seine Uhr. „Sie sind spät dran!"  „Entschuldigung. Ich unterschätze die Entfernungen innerhalb Hamburgs immer, wenn ich nicht zu Fuß gehen kann."  Er nickt. „Ja, hier draußen fühlen wir West-Städter uns verloren. Das ist fast wie ein Aufenthalt südlich der Elbe. Kommen Sie."  In seiner Hand hält er eine Liste, die aussieht, als hätte Carmen sie geschrieben. Es stehen Namen darauf: Vornamen, Spitznamen, meistens keine Nachnamen aber dafür die Stockwerke mit dem Vermerk „Tür ganz links" oder „Zweite Tür von rechts".   „Ihre Freundin erinnert sich nicht an alle Namen, weiß aber tatsächlich von allen Frauen, wo im Haus wir sie finden", sagt Clausen.  „Kein Wunder", sage ich, „sie hat ja selbst Jahre lang hier im Haus gewohnt."   „Hm", macht Clausen. Ich frage mich, was er denkt. Dann stehen wir bereits bei Elfriede vor der Tür. „Diese Frau kenne ich", flüstere ich ihm zu und erinnere mich im selben Moment, dass mein Flüstern eigentlich Quatsch ist. „Sie hört sehr schlecht!"  „Pauuula!", Elfriede fällt mir direkt um den Hals, beziehungsweise eigentlich eher um die Hüfte. Sie ist eine kleine, untersetzte Dame um die 80, mit langem grauem Haar, das sie immer zu einem hübschen Dutt zusammen steckt. In ihrer Wohnung duftet es nach Kuchen. Elfriede ist die Omi, die Carmen und ich uns immer gewünscht haben. Gelegentlich schauen wir bei ihr rein, um nach dem Rechten zu sehen. Nur die Gespräche mit ihr fallen einem zunehmend schwerer, denn eine Hörhilfe verweigert sie vehement. „Ist das dein Mann? Bist du jetzt verheiratet?", sie mustert Clausen kritischen Blickes, der sagt nur hilflos: „Ihr Kollege!"  „Ja, ja! Alter Schwede!", sagt Elfriede. „Dass Sie wesentlich älter sind als meine Paula hier, das sehe ich. Ich bin vielleicht schwerhörig, aber nicht blind!". Dann wendet sie ihren Blick wieder mir zu: „Kommt rein, ihr Turteltäubchen! Der Apfelkuchen ist noch warm."  Während wir in ihrer gemütlichen Küche Platz nehmen, beginnt Elfriede zum Glück von sich aus, über den Mordfall zu reden. „Es ist so eine furchtbare Geschichte, Paula. Die arme Maria! Sie war so ein guter Mensch. Als ich es letztes Jahr so im Kreuz hatte, weißt du noch? Da hat sie mir so viel im Haushalt geholfen. Ich kann einfach nicht verstehen, wie jemand so etwas tun kann". Sie stellt Clausen und mir zwei riesige Stücke gedeckten Apfelkuchen vor die Nase und setzt sich zu uns. „Haut rein, ihr Lieben!" Sie lächelt und spricht weiter: „Auch wenn ich sagen muss, ...

wie

 heißen Sie eigentlich?", sie sieht Clausen prüfend an. Der kaut schnell zu Ende und streckt ihr die Hand entgegen. „Clausen!" - „Lauren? Was ist das denn für ein Name? Sind Sie etwa auch noch Franzose? Wir hatten hier auch mal einen Lauren im Haus, der war von ... genau, von Airbus gekommen! Aus Touluz!", sie spricht dabei Laurent und Toulouse betont deutsch aus. Clausen verzweifelt langsam, ich seh's in seinem Blick.  „Nun ja, auch wenn Sie Franzose sind. Ich freue mich natürlich trotzdem! Die Paula, die hatte es ja auch immer nicht leicht mit den Männern. Genau wie die Maria. Nachdem ihr Mann weg war, da hat sie einfach nie wieder jemanden kennengelernt. Was wollte ich eigentlich sagen? Ach, war wohl nicht so wichtig. Aber die Maria, die hat das Beste daraus gemacht, wissen Sie. Hier wohnen so viele nette Leute im Haus und wir hatten ja einander," ihr Blick wird trüb, „

Wir haben ja einander,

das hat sie immer zu mir gesagt. Nachdem mein Willem gestorben ist, wissen Sie, Willem, das war mein Mann. Wir waren 55 Jahre verheiratet. Ich vermisse ihn an den meisten Tagen gar nicht so sehr, einfach nur, dass jemand da ist, das vermisse ich. Er war ein schwerfälliger Mann, ein richtiger Tunichtgut. Aber als dann auch noch

Butschi

 gestorben ist, das war schlimm." „

Butschi

?", flüstert Clausen in meine Richtung. „Ihr Wellensittich", antworte ich. „Der Sittich, genau.", Elfriede hatte uns gehört. Komisch, als würde sie sich aussuchen können, was sie hört und was nicht. „Er konnte sprechen! Ein kluger Vogel war das. Und

alt

 ist er geworden.", sie seufzt.   „Elfriede, wir haben noch ein paar Fragen an dich", beginne ich vorsichtig.  „Ja? Schieß los."   „Wann hast du Maria das letzte Mal gesehen?"  „Na, am Sonntag! Da haben wir Rommé gespielt. Dieses Mal waren wir bei Ayse und Hatice – die wohnen im fünften Stock. Du kennst doch Ayse?"  Ich schüttle den Kopf. „Na, jedenfalls", fährt sie fort „Türkinnen, hört man ja am Namen, dass die nicht von hier sind. Aber ganz nett. Es gibt immer so klebriges Gebäck, wenn wir bei ihnen Karten spielen.", sie zieht die Augenbrauen hoch und wendet sich an Clausen. „Für mich persönlich ist das ja nichts, ich bleib lieber bei meinem Apfelkuchen."  „Der ist auch wirklich gut", sagt Clausen.  „Eben", sagt Elfriede, „da ist man besser auf der Hut! Man weiß ja nie genau, da hängen Teppiche an den Wänden – wer macht denn

so etwas

? Und der Vater spricht kein Wort Deutsch, das mach das Plaudern etwas schwierig. Aber am Sonntag waren nur die Mädchen da. Da haben wir es uns ganz gemütlich gemacht. Eine aus unserer Rommé-Gruppe probiert jetzt

Low-Carb,

das ist Englisch für

wenig Kohlenhydrate.

 Aber ich bin zu alt für eine Diät. Jedenfalls, Maria wollte mitmachen, glaub ich. Aber du kennst, ich mein, du

 kanntest

ja Maria, Paula. Und ihre Vorliebe für Kartoffelchips. Und Dinge, die man mit Käse überbacken konnte. Sie hat einmal gesagt, solange man auf dieser Welt noch Dinge mit Käse überbacken kann, wird sie den Glauben an das Gute nicht verlieren."  „Na, das ist mal ein Wort", Clausen nickt.  „Ja, genau! Es war Mord!", sagt Elfriede verschwörerisch. „Grausam! Ich hoffe, sie schnappen den Dreckskerl!"  „Dreckskerl?", fragt Clausen.  „Na, würde eine Frau so etwas Furchtbares tun? Alle hier im Haus haben Maria gemocht. Sie hatte nie mit irgendwem Streit. Nur einmal ... mit Nilüfer, aus dem Siebten. Aber ich weiß nicht mehr, worum es damals ging und die haben sich auch wieder vertragen. So, ihr Süßen, es ist langsam Zeit für mein Mittagsschläfchen. Schön, dass ihr mal reingeschaut habt!"  Sie bringt uns zur Tür und umarmt uns zum Abschied. „Sag mir, wenn du hörst, wer das getan hat, ja Paula?", dann dreht sie sich zu Clausen. „Und Lauren! Kümmern Sie sich gut um meine Kleine!", Clausen nickt und wünscht Elfriede noch einen schönen Tag. „

Ja

, man sieht, dass Sie sie mögen", schmunzelt diese und schließt die Tür.    Wir nehmen die Treppe in den ersten Stock. „Aber ein guter Apfelkuchen war das", sagt Clausen. „Schön, dass er Ihnen geschmeckt hat, Lauren". Clausen sieht mich grantig an, ich weiß aber, dass er insgeheim amüsiert ist. Man muss Elfriede einfach ins Herz schließen. Ob mein Leben wohl anders verlaufen wäre, wenn ich so eine Oma gehabt hätte? Vermutlich wäre ich einfach nur noch dicker geworden. Während ich so in Gedanken bin, stehen wir schon vor Gisela Bauers Tür. Sie scheint nicht Zuhause zu sein. Clausen seufzt. „Sollen wir nicht vielleicht lieber mit dem Aufzug in den 11. Stock fahren und dann die Treppe runter gehen? Das scheint mir unkomplizierter."   Ich lache. „Wie Sie meinen."    Für den 11. Stock steht "Cindy – zweite Tür von rechts" auf unserer Liste. Der liebliche Name „Krätzer-Wohlberg" ziert hier ein kitschiges Keramikschild, das an der Tür hängt. Unter dem Namen sind drei Enten abgebildet, Papa-Ente ist mit Edding verunstaltet. Clausen drückt auf den Klingelknopf.  Eine Frau Mitte 40 in Bademantel, Schlappen und mit Papilotten im Haar öffnet uns die Tür, in ihrem Mundwinkel hängt eine Kippe. „Was is?", schnauzt sie uns an.   „Clausen vom Morddezernat, Moin. Das ist Frau Groß. Sind Sie Cindy? Wir hätten einige Fragen im Mordfall Maria Kachowski."  „Seh ich so aus oder wat?!", sie verdreht theatralisch die Augen, richtet ihren Kopf zur Seite und brüllt: „Cindy!" Als sich in der Wohnung nichts tut, probiert sie es erneut: „Cindy, los du kleine Tonne, roll rüber! Die Polizei is' da!" ... „CINDY, wird's bald?"   Man hört nun, dass sich eine Tür öffnet. Ein moppeliger Teenager steht im Flur und starrt uns mit großen Augen an. „Hallo?"  „Cindy, Clausen vom Morddezernat, hallo. Dürfen meine Kollegin Frau Groß und ich reinkommen?"   "Phaha", macht Cindy und sieht mich an. "Frau

 Groß

in Mode, oder wat? Von der Fit for Fun sind Sie beide jedenfalls nicht.“  „Cindy!", ihre Mutter haut ihr von hinten gegen den Kopf.   „Wat, Mutti? Du heißt Krätzer, als wär das besser. Ja, okay, kommse rein."  Cindy tippelt vorweg, wir gehen an ihrer Mutter vorbei, die noch immer den Kopf schüttelt, dabei murmelt sie etwas von wegen „Das Kind, einfach hoffnungslos, ganz der Vatter ...".  Wir setzen uns zusammen mit Cindy ins Wohnzimmer, das auf den ersten Blick wirkt wie eine Abstellkammer. Zwischen Wäscheständern und irgendwelchen Kisten befindet sich ein Sofa. Auf dem Tisch stehen nur offene Bierdosen, Weinflaschen und Aschenbecher. „Rauchen 'se?", fragt Cindy und geht einen Aschenbecher ausleeren. „Wolln se 'n Bier?"  „Danke Cindy, wir sind im Dienst", sagt Clausen, holt aber seine Zigarillos raus.  Cindy hält mir ihre Zigaretten hin. Ich bediene mich, auch wenn ich das nach circa fünf Minuten mangels Atemluft bedaure.   „Also Cindy, du kanntest Maria?", fragt Clausen.  „Jo", sagt Cindy.  „Hattest du sie gern?", hakt er nach.  „Wat heißt,

gern

 haben. Sie war nett.", sagt Cindy.   „Ja?", bohrt Clausen weiter.  „Ja. Sie hat mir immer mit den Hausaufgaben geholfen. Se ham ja meine Mutter gesehen. Deren Allgemeinbildung hört bei der dritten Klasse auf."  Sie erzählt weiter: „Ich hab dank ihr meinen Erweiterten geschafft. Und ab nächsten Monat 'ne Lehrstelle."  „Oh", sagt Clausen.  „Ja, das hättn se jetzt nicht gedacht, wa", fährt Cindy ihn an.  „Nein, ich meine, äh", er sucht nach den richtigen Worten.  „Das ich toll", schreite ich ein. „Als was machst du die Ausbildung?"  „Als Außenhandelskauffrau", sagt Cindy und sieht sich suchend um, leise spricht sie weiter, „dann kann ich endlich hier ausziehen."  Wir nicken. Bei der letzten Rommé-Runde war Cindy nicht. Ihre Mutter hatte ihr Hausarrest gegeben, da das Altglas nicht weggebracht war.   „Wenn se mich fragen, ist das nicht gerecht", sagt Cindy, „aber wat is schon gerecht im Leben, wa. Maria, die war echt in Ordnung. Und nun ist sie tot. Das Leben ist einfach kacke, so isses nämlich. Und alle, die mir mit diesem Fataloptimismus kommen, von wegen jede Hürde nehmen und so, dem spuck ich persönlich ins Gesicht." Sie drückt ihre Kippe aus.  

Fataloptimismus.

 Verdiente Mittlere Reife. Wir verabschieden uns von Cindy und wünschen ihr alles Gute. Ihre Mutter kriegen wir nicht mehr zu Gesicht.  „Krass", sage ich, als wir auf dem Weg in den 10. Stock sind.  „Tja", Clausen seufzt, „ein leichtes Leben hat in so einem Wohnkomplex vermutlich niemand. Aber immerhin versuchen einige, das Maximum rauszuholen. Und das zu sehen, ist doch eigentlich gut."   Ich bin überrascht über seine fast einfühlsamen Worte, dann stehen wir auch schon vor der nächsten Tür.      Latifa, die sofort öffnet, schätze ich auf Mitte 20. Sie ist unfassbar kurvig, dunkelhäutig und stark geschminkt. Als wir zu dritt in ihrer winzigen Küche sitzen, erzählt sie uns, dass sie als Zwölfjährige aus Südafrika nach Deutschland kam. Ihr Vater war dort Busfahrer und verstarb bei einem Unfall, ihre Mutter kratzte darauf ihre letzten Ersparnisse zusammen und fing mit Latifa in Hamburg ein neues Leben an. Etliche Putzjobs später traf ihre Mutter dann „

die Kartoffel ihres Lebens",

wie Latifa es verachtungsvoll aussprach. „Der hatte schon Kinder. Weiße,

schlanke

 Kinder. Von da an war ich abgeschrieben." Sie schenkt uns ganz unaufgefordert ein Glas Limo ein und stellt etwas Knabberzeug auf den Tisch. „Bedient euch! Na, jedenfalls, als ich endlich diese bescheuerte Sprache gelernt hatte, war es auch schon zu spät für einen guten Schulabschluss. Jetzt geh ich zur Abendschule und putze ... wie meine Mutter. Ohne, dass wir überhaupt Kontakt haben", sie verdreht die Augen, „Sie wäre sicher

stolz

 auf mich."  „Abendschule ist doch super!", sage ich.  „

Super

?", sie schaut mich irritiert an. „Hast du mal in Steilshoop eine Abendschule besucht? Die Leute können teilweise nicht mal ihren eigenen Namen schreiben."  Clausen lacht, verschluckt sich fast an einer Erdnuss, lacht aber weiter. Latifa und ich sehen uns irritiert an. Das Thema ist gerade eigentlich viel zu Ernst und was sie da gesagt hat, war viel mehr die traurige Wahrheit als ein Witz. Aber in Anblick des prustenden, verschrobenen Ermittlers, der mittlerweile schon rot anläuft, kann sie nicht anders, als mit einzustimmen. Ich trinke einen Schluck Limo und grinse.   „Die Menschen sind teilweise wirklich unfassbar dumm", fährt sie fort, als Clausen sich beruhigt hat. „Dafür brauchen sie nicht mal einen Migrationshintergrund, glauben Sie mir. Nach meinem Unterricht bin ich abends häufig noch zu Maria rauf gegangen und habe ihr davon berichtet. Sie hat meine Lage gut verstanden. Ihre Tochter, Carmen, ist damals heimlich aufs Gymnasium gegangen, wussten Sie das?"  Ich schüttle den Kopf. „Dass sie aufs Gymnasium gegangen ist, das wusste ich. Aber

heimlich

, nein, davon hatte ich keine Ahnung."  „Hier im Haus erzählt man das besser nicht zu laut. Die Leute denken dann nämlich, man würde sich für etwas Besseres halten. Maria hat damals allen erzählt, Carmen würde ein Praktikum in einem Nagelstudio machen. Das war nämlich ganz in der Nähe ihrer Schule", jetzt lacht Latifa von sich aus. "

Offiziell

 war Carmen drei Jahre lang Praktikantin im Nagelstudio. Und damit sie nicht auffliegt, hat sie in den Schulferien und an manchen Nachmittagen unter der Woche wirklich dort ausgeholfen."  Carmen hat mir tatsächlich schon oft die Nägel gemacht – ich hatte es aber nie hinterfragt. Jetzt schließt sich der Kreis. Ich bin beeindruckt von meiner Freundin und ihrer Mutter. Ich wusste schon immer, dass sie kluge Frauen sind. Aber dass Maria hier im Haus tatsächlich auf einer inoffiziellen Bildungsmission war, erfüllt mich urplötzlich mit so viel Stolz, dass ich spüre, wie mir die Tränen in die Augen schießen.  „Ich habe sie übrigens nicht ermordet, falls Sie deswegen hier sind", sagt Latifa. „Maria war meine Freundin. Bei manchen Nachbarn hier habe ich tatsächlich schon mal drüber nachgedacht, sie vom Balkon zu schubsen", sie friemelt an einer Haarsträhne herum, die sich an ihrem großen Ohrring verfangen hat. „Die wohnen immerhin in Steilshoop, sprechen selbst kein Deutsch, auch wenn es ihre Muttersprache ist, aber als Schwarze wirst du trotzdem immer ange