Der schöne Sommer

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III.

Von da an kam Amelia sie häufig abholen, um auszugehen oder mit ihr zu plaudern. Sie trat ins Zimmer und redete laut und ließ Severino nicht schlafen. Wenn Rosa am Nachmittag erschien und nach Ginia rief, waren die beiden schon zum Ausgehen bereit. Amelia rauchte ihre Zigarette zu Ende, wenn sie eine hatte, und erteilte Rosa, die ihr die Geschichte mit ihrem Pino erzählt hatte, Ratschläge. Man merkte, dass sie sich ungern in ihrer Portiersloge aufhielt, und da sie den ganzen Tag nichts zu tun hatte, begnügte sie sich mit der Gesellschaft der Mädchen. Amelia scherzte auch mit Rosa, über die sie lästerten, wenn sie allein waren, tat, als glaube sie ihre Geschichten nicht, und lachte ihr ins Gesicht.

Ginia fasste Zutrauen zu Amelia, als ihr klar wurde, dass diese trotz aller Lebhaftigkeit ein armes Ding war. Ginia erkannte das nun, wenn sie nur ihre Augen betrachtete oder ihren schlecht geschminkten Mund. Amelia ging ohne Strümpfe, weil sie gar keine hatte; sie trug immer dieses schöne Kleid, weil sie kein anderes besaß. Ginia kam zu diesem Schluss, als sie einmal merkte, dass auch sie selbst sich verrückter fühlte, wenn sie ohne Hut ausging. Wer sie nervte, war Rosa, die das sofort durchschaut hatte. »Lohnt es sich etwa, so ein Leben zu führen«, sagte Rosa, »wenn man sich dann ins Bett legen muss, weil das Kleid einen Riss hat?« Mehrmals fragte Ginia sie, warum sie nicht wieder Modell stand, und Amelia sagte, um Arbeit zu finden, dürfe man nicht arbeitslos sein.

Es wäre schön gewesen, den ganzen Tag nichts zu tun und dann zusammen durch die Stadt zu schlendern, wenn es kühler wurde, aber so elegant zu sein, dass, während sie die Schaufenster betrachteten, die Leute sie betrachteten. »So frei zu sein, wie ich es bin, macht mich wütend«, sagte Amelia. Ginia hätte viel darum gegeben, Amelia mit Begeisterung über viele Dinge sprechen zu hören, die ihr gefielen, denn wahre Vertrautheit ist, zu wissen, was der andere sich wünscht, und wenn einem die gleichen Dinge gefallen, fühlt man sich weniger befangen. Doch Ginia war nicht sicher, ob Amelia, wenn sie gegen Abend unter den Arkaden bummelten, das ansah, was sie selbst ansah. Man konnte nie darauf schwören, dass ihr dieser Hut oder jener Stoff gefiel, und musste immer darauf gefasst sein, dass sie lachte, wie sie es mit Rosa machte. Da sie den ganzen Tag allein war, sagte sie nie, was sie gern Schönes tun würde, und wenn sie etwas sagte, meinte sie es nicht ernst. »Ist dir, wenn du auf jemanden wartest, noch nie aufgefallen, wie viele Schweinsgesichter und Hühnerbeine vorbeikommen? Ein herrlicher Zeitvertreib.« Vielleicht scherzte Amelia, aber vielleicht stimmte es, dass sie die Viertelstunden so verbrachte, und Ginia dachte jedenfalls, dass sie recht dumm gewesen war, an jenem Abend durchblicken zu lassen, wie gern sie einmal beim Malen zusähe.

Wenn sie jetzt ausgingen, war es Amelia, die den einen oder anderen Ort auswählte, und Ginia ließ sich willig führen. Als sie in das Tanzlokal jenes Abends zurückkehrten, erkannte Ginia, die sich damals so gut amüsiert hatte, weder die Lampen noch das Orchester wieder, nur die Kühle, die von den offenen Balkonen hereinwehte, gefiel ihr. Das bedeutete aber, dass sie sich nicht gut genug angezogen fühlte, um zu den Tischchen hinunterzugehen, doch Amelia hatte begonnen, sich mit einem jungen Mann zu unterhalten, der sie duzte, und als die Musik verstummte, tauchte noch einer auf, der ihnen zuwinkte, und Amelia wandte sich um und fragte: »Meint der dich?« Da freute sich Ginia, dass jemand sie wiedererkannt hatte, aber der junge Mann war verschwunden, und ein anderer, unsympathischer, der mit ihr getanzt hatte, ging rasch vorbei, ohne sie zu sehen. Ginia kam es vor, als hätten sie am ersten Abend nie an einem Tisch gesessen, außer um Atem zu schöpfen, jetzt dagegen warteten sie eine ganze Weile unter dem Fenster, und Amelia, die sich als Erste setzte, sagte laut: »Das ist auch ein Vergnügen.« Gewiss, die anderen Mädchen im Saal waren nicht besser gekleidet als Amelia, und viele trugen keine Strümpfe, aber Ginia sah vor allem die weißen Jacken der Kellner und dachte an die vielen Autos, die draußen standen. Dann begriff sie, dass es dumm von ihr war zu hoffen, da drinnen sei irgendwo Amelias Maler.

In jenem Jahr war es so heiß, dass man jeden Abend ausgehen musste, und es schien Ginia, als habe sie nie zuvor verstanden, was Sommer eigentlich bedeutete, so schön war es, jede Nacht auszugehen und durch die Alleen zu schlendern. Manchmal dachte sie, jener Sommer würde niemals enden, und zugleich, dass man sich beeilen musste, ihn zu genießen, denn wenn er zu Ende wäre, würde bestimmt etwas geschehen. Deshalb ging sie nicht mehr mit Rosa in das alte Lokal oder in ihr Kino, sondern machte sich manchmal allein auf den Weg und lief schnell in ein Kino im Zentrum. Was Amelia konnte, konnte sie auch. Amelia kam eines Abends und sagte, während sie das Haus verließen: »Gestern hab ich Arbeit gefunden.«

Ginia war nicht erstaunt. Sie hatte es erwartet. Ruhig fragte sie, ob sie sofort anfange. »Schon angefangen, heute Morgen«, sagte Amelia. »Zwei Stunden.« – »Jetzt bist du sicher froh«, sagte Ginia.

Dann fragte sie, um was für ein Bild es sich handle. »Kein Bild. Er macht Skizzen von mir. Er zeichnet mein Gesicht. Ich rede, und ab und zu wirft er ein Profil hin. Es ist keine Arbeit für länger.« – »Also stehst du gar nicht Modell?«, fragte Ginia. »Was glaubst du denn«, sagte Amelia, »dass Modellstehen nur heißt, sich auszuziehen und nackt dazustehen?«

»Gehst du morgen wieder hin?«, fragte Ginia.

Amelia ging am nächsten Tag wieder hin und dann noch mehrere Male. Am Abend danach erzählte sie lachend von dem Maler, der nie stillstand und der sie fragte, ob sie je jemand so gemalt habe, hin und her laufend, wie er es tat. »Heute Morgen hat er eine Aktzeichnung von mir gemacht. Er weiß genau, wie es geht. Zuerst tastet er sich langsam heran. Aber dann bringt er dich mit vier Strichen aufs Papier und braucht dich nicht mehr.« Ginia fragte sie, wie er sei, und Amelia sagte: »Ein kleines Männchen.« – »Wie hast du ihn gefunden?« – »Durch Zufall. – Komm mich morgen abholen«, sagte Amelia. Sie verabredeten, am Samstagnachmittag gemeinsam hinzugehen.

Den ganzen Weg über, in der Sonne, brachte Amelia sie an jenem Nachmittag zum Lachen. Über eine Wendeltreppe gelangten sie in einen großen halbdunklen Raum, in den nur ganz hinten durch einen Spalt zwischen den Vorhängen ein wenig kühles Licht fiel. Ginia war mit klopfendem Herzen auf den letzten Stufen stehengeblieben. Amelia rief laut »Guten Tag« und ging im Halbdunkel bis in die Zimmermitte, und aus den Vorhängen trat ein Mann – fett, mit grauem Bärtchen –, der mit den Händen wedelnd sagte: »Nichts zu machen, Mädchen. Heute muss ich weg.« Er trug ein langes, helles Hemd, das sich als schmutzig gelb herausstellte, als er sich umdrehte und den Vorhang ein wenig beiseite schob, um Licht hereinzulassen. »Heute wird nicht gearbeitet, Mädchen, heute muss man an die Luft.«

Ginia hatte sich nicht von der Treppenstufe gerührt. Im Gegenlicht sah sie von weitem Amelias Beine. Leise sagte sie, mehr zu sich selbst: »Amelia, lass uns gehen.«

»Wäre das die kleine Freundin, die mich kennenlernen möchte? Sie ist ja noch ein Kind. Lass dich mal im Licht anschauen.«

Unwillig stieg Ginia die letzte Treppenstufe hinauf, während sie die neugierigen grauen Augen auf sich ruhen fühlte und nicht wusste, ob Alter oder Verschlagenheit aus ihnen sprach. Gleichzeitig hörte sie Amelias Stimme – schneidend, verärgert –, die sagte: »Aber wir hatten doch einen Termin.«

»Was willst du machen?«, sagte der Maler. »Was willst du machen? Ihr seid doch auch müde. Zum Arbeiten braucht man Ruhe. Bist du nicht froh, wenn ich dir freigebe?«

Daraufhin ging Amelia zu einem Stuhl und setzte sich in den Schatten der Vorhänge, und Ginia schien es, als stünde sie schon wer weiß wie lange da, ohne zu wissen, wie sie auf die Blicke der beiden reagieren sollte, die einander und dann wieder sie musterten. Ihr war, als scherzte der Kerl, aber nicht mit ihnen; er redete noch weiter mit Amelia, sprach abgehackt, sagte ständig »Was willst du machen«. Dann sprang er unvermutet zurück, so klein und dick, wie er war, und schob die Vorhänge weiter auseinander. In dem großen leeren Raum roch es nach frischem Kalk und nach Firnis.

»Wir sind verschwitzt«, sagte Amelia. »Lassen Sie uns wenigstens im Kühlen verschnaufen. Nicht wahr, Ginia?« Als sie das sagte, drehte sich der Maler mit dem Bärtchen wieder um und öffnete die großen Scheiben, die auf den Himmel hinausgingen. Mit übergeschlagenen Beinen sah Amelia ihm zu und lachte. Am Fenster stand eine Staffelei, darauf eine Leinwand, die mit hingeworfenen und wieder abgekratzten Farbflecken bedeckt war. »Wenn man nicht jetzt arbeitet, solange Licht ist, wann wollen Sie dann arbeiten?«, fragte Amelia. »Ich wette, Sie gehen mich mit einem anderen Modell betrügen.« – »Mit der ganzen Welt betrüge ich dich«, rief der Maler gebückt. »Glaubst du, du bist mehr wert als eine Pflanze oder ein Pferd? Ich arbeite auch, wenn ich spazieren gehe, was glaubst denn du?« Und dabei stöberte er in einem Kasten unter der Staffelei und warf Zeichenblätter, Schachteln und Pinsel durcheinander. Amelia sprang vom Stuhl auf, nahm den Hut ab und zwinkerte Ginia zu. »Warum machen Sie nicht eine Skizze von meiner Freundin?«, schlug sie lachend vor. »Sie hat noch nie für jemanden Modell gestanden.«

Der Maler hatte sich umgewandt. »Genau das tue ich«, sagte er. »Ihr Ausdruck interessiert mich.«

Einen Bleistift in der Hand, begann er, mit geneigtem Kopf, sich den Bart streichend, in einem gewissen Abstand um Ginia herumzugehen, und starrte sie an wie ein Kater. Ginia, in der Zimmermitte, wagte nicht, sich zu rühren. Dann forderte er sie auf, ins Licht zu treten, und ohne sie aus den Augen zu lassen, lehnte er ein Blatt an die Leinwand auf der Staffelei und begann zu zeichnen. Am Himmel sah man eine gelbe Wolke und Dächer; mit klopfendem Herzen fixierte Ginia die Wolke und hörte Amelia irgendwo im Raum etwas sagen und hin und her gehen und schnaufen, aber sie blickte sie nicht an.

 

Als Amelia sie rief, damit sie sich die Zeichnung ansähe, musste Ginia die Augen schließen, um sich an das Halbdunkel zu gewöhnen. Dann beugte sie sich langsam über das Blatt und erkannte ihren Hut, doch das Gesicht schien ihr das einer anderen, ein schlafendes Gesicht, ausdruckslos, mit geöffnetem Mund, als spräche es im Schlaf. »Es ist beunruhigend«, sagte Barbetta, »hat dich wirklich noch nie jemand gezeichnet?« Er bat sie, den Hut abnehmen und sagte, sie solle sich setzen und mit Amelia reden. Im Sitzen sahen sie sich an und hatten Lust zu lachen, während der Maler weitere Blätter füllte. Amelia gestikulierte und sagte zu ihr, sie solle nicht an die Pose denken.

»Beunruhigend«, sagte Barbetta noch einmal und betrachtete sie von der Seite, »man möchte meinen, das jungfräuliche Profil hat keine Form.« Ginia fragte Amelia, ob sie nicht Modell säße, und Amelia sagte laut: »Heut hat er dich entdeckt. Da lässt er bestimmt nicht locker.« Während sie so redeten, fragte Ginia, ob sie Amelias Porträts der vergangenen Tage sehen dürfe. Da erhob sich Amelia und holte eine Mappe aus dem hinteren Teil des Raums. Sie legte sie ihr geöffnet auf die Knie und sagte: »Hier.«

Ginia wendete mehrere Blätter um, und beim vierten oder fünften war sie schweißgebadet. Sie wagte nichts zu sagen, weil sie die grauen Augen dieses Mannes auf sich fühlte. Auch Amelia sah sie wartend an und fragte schließlich: »Gefallen sie dir?«

Ginia hob das Gesicht und versuchte zu lächeln. »Ich erkenne dich nicht«, sagte sie. Dann blätterte sie alle nacheinander noch einmal durch. Danach war sie ruhiger. Schließlich saß Amelia angezogen vor ihr und lachte.

Töricht fragte sie: »Hat er die gemacht?« Amelia, die nicht begriff, erwiderte laut: »Ich ganz bestimmt nicht.«

Als Barbetta fertig war, wäre Ginia gern wieder so geblendet gewesen wie vorher, um die Augen zu schließen und zu warten. Doch Amelia rief, sie solle kommen, und vor dem großen Blatt war auch Ginia erstaunt. Es zeigte viele Male ihren Kopf, willkürlich aufs Blatt geworfen, manchmal schief, manchmal mit einer Grimasse, die sie nie gemacht hatte, aber die Haare, die Wangen, die Nasenflügel waren echt, waren ihre. Sie sah Barbetta an, der lachte, und es schien ihr unmöglich, dass dies die gleichen grauen Augen sein sollten wie zuvor.

Dann hätte sie Amelia am liebsten verprügelt, denn diese begann zu sticheln und darauf zu beharren, dass eine Stunde eine Stunde sei und dass Ginia für ihren Lebensunterhalt arbeite. Sie erwiderte, sie sei ganz zufällig mitgekommen und wolle ihr nicht ins Handwerk pfuschen. Barbetta lachte in seinen Bart und sagte, er müsse gehen. »Kommt, ich spendiere euch ein Eis. Aber dann verschwinde ich.«

IV.

Am nächsten Morgen gingen sie wieder zusammen hin, denn diesmal sollte Amelia Modell stehen. »Wehe«, sagte Amelia, »wenn du mir noch einmal den Platz wegnimmst. Dieser Halunke weiß, dass du dich mit einem Eis abspeisen lässt, und nutzt es aus, dass du noch Jungfrau bist.« Ginia war nicht mehr so zufrieden wie vorher, und gleich nach dem Aufwachen hatte sie an ihre Porträts gedacht, die noch zwischen den Aktzeichnungen von Amelia lagen, und an das schreckliche Herzklopfen, das sie bekommen hatte. Sie hegte noch die winzige Hoffnung, sie könne sich ihre Gesichter schenken lassen, nicht, weil sie sie unbedingt wollte, sondern damit sie nicht der Neugier jedes x-beliebigen ausgesetzt blieben. Sie konnte es einfach nicht fassen, dass ausgerechnet Barbetta, dieser fette alte Papi, Amelias Beine, Rücken, Bauch und Brustwarzen gezeichnet, daran radiert und herumgepfuscht hatte. Sie wagte ihr nicht ins Gesicht zu sehen. Diese grauen Augen und dieser Bleistift hatten sie fixiert, vermessen und erforscht, schamloser als ein Spiegel, und sie hatte stillgehalten oder womöglich herumgealbert und geplappert.

»Störe ich euch heute Morgen nicht?«, fragte Ginia sie, während sie in das Haustor einbogen.

»Hör zu«, antwortete Amelia, »wolltest du mich Modell stehen sehen, ja oder nein? Das nächste Mal werde ich aufpassen, mich nicht mehr mit höheren Töchtern einzulassen.«

Im Atelier waren alle Fenster aufgerissen und die Vorhänge geöffnet, und während sie auf Barbetta warteten, kam die alte Dienstmagd die Treppe herauf, um ein Auge auf sie zu haben. Ginia fragte sich, wo sich Amelia wohl zum Posieren hinstellen würde, doch Amelia stritt schon mit der Alten und ließ sie alle Fenster schließen, weil die Morgenluft den Raum auskühlte. Die Frau sprach nicht, sondern brummte und hatte ein so muffiges und behaartes Gesicht, dass Amelia sie ungeniert auslachte.

Schließlich kam Barbetta, zog sich den Kittel über und legte los, die Staffelei wurde nach hinten getragen, und die Palette kam zum Vorschein. Dort hinten im Atelier stand ein Bettsofa, und sie zogen alle Vorhänge zu bis auf den letzten, damit alles Licht auf diese Ecke fiel. Ginia fühlte sich in diesem Durcheinander überflüssig, und ihr schien, als sehe auch die Alte sie scheel an.

Als die Alte ging, zog sich Amelia neben dem Sofa aus, und Ginia beobachtete, wie Barbettas große Hand, einen Kohlestift zwischen den Fingern haltend, an der Staffelei ein weißliches Papier grundierte. Ohne sie anzusehen, sagte Barbetta zu ihr, sie solle sich setzen, und man hörte auch Amelias Stimme. Ginia blickte aus dem Fenster über die Dächer, als säße sie erneut Modell, und dachte, dass sie recht dumm war. Sie überwand sich und drehte sich um.

Ihr erster Gedanke war, Amelia müsse frieren und Barbetta sehe sie kaum an, und der wahre Störenfried sei allein sie selbst, weil sie nur aus Neugier da war. Amelia – braun, wie sie war – wirkte schmutzig, und es war peinlich, sie so zu sehen. Sie saß auf dem Sofa, die Arme auf einer Stuhllehne und das Gesicht verborgen, und zeigte deutlich das Bein von der Hüfte bis zur Ferse und die ganze Seite und die Achsel.

Nach kurzer Zeit langweilte Ginia sich. Sie beobachtete Barbetta, wie er wischte und wieder strichelte, betrachtete seine konzentrierte Miene, tauschte ein Lächeln mit Amelia, aber sie langweilte sich. Sie bekam wieder Herzklopfen, als Amelia zum ersten Mal aufstand, sich dehnte und das Höschen aufhob, das vom Sofa gefallen war, aber es war ein dummes Herzklopfen, das sie auch gespürt hätte, wenn sie allein gewesen wären, Herzklopfen, weil sie erkannte, wir Frauen sind alle gleich beschaffen, und wenn irgendwer Amelia nackt sah, war es, als sähe er auch sie, Ginia. Sie konnte nicht mehr stillsitzen.

Mit auf die Arme gelegtem Kopf sagte Amelia zu ihr: »Ciao, Ginia.« Das genügte, um sie zu erfreuen und zu beruhigen. Einen Augenblick davor hatte sie bemerkt, dass Amelias Fesseln gerötet waren, und sie überlegte, ob auch sie, hätte sie sich ausziehen müssen, solche Striemen gehabt hätte. »Meine Haut ist noch jünger«, sagte sie sich. Dann fragte sie laut: »Hat er dich je in Farbe gemalt?«

Barbetta antwortete ihr: »Mit Farben macht man keine Skizzen. Sie kommen mit der Sonne zum Fenster herein. Hier drin gibt es keine Farben.« – »Na klar«, sagte Amelia, »er ist zu geizig. Farben sind teuer.« – »Du hast ja keine Ahnung«, schrie der Alte, »die Farbe muss man achten, das ist es, und du weißt gar nicht, was das bedeutet, denn abgesehen von deinem Make-up bist du völlig farblos. Da ist an dieser kleinen Blonden schon mehr dran.« Amelia zuckte die Schultern und hob nicht einmal den Kopf.

Dann hörte man von irgendwo jenseits der Dächer eine Sirene, und Ginia begann, hin und her zu gehen, und fand auf dem Fensterbrett die Skizzen ihres Gesichts, wagte aber nicht, darum zu bitten. Als sie sie durchblätterte, sah sie auch die Zeichnungen von Amelia wieder und verglich sie im Stillen und fragte sich, ob Amelia tatsächlich diese Posen eingenommen hatte, die teilweise gymnastischen Übungen glichen. War es denn möglich, dass es einem alten Mann wie Barbetta noch Spaß machte, Mädchen abzuzeichnen und zu studieren, wie sie gebaut waren? Er war doch recht sonderbar, dachte sie.

Sie verließen das Atelier nach zwölf, und sie genossen es, wieder unter Leuten zu sein und völlig angezogen umherzugehen und die schönen Farben auf der Straße zu sehen, die, man begriff zwar nicht, wie, aber es stimmte, von der Sonne kamen, da es sie nachts nicht gab. Auch Amelias Unmut war verflogen, und sie bezahlte ihr einen Aperitif und redete nicht mehr von Malern.

Allein auf ihrem Sofa, dachte Ginia an diesem und mehreren anderen Nachmittagen noch lange darüber nach. Im Dunkeln sah sie Amelias schwarzen Bauch wieder vor sich und ihr gleichgültiges Gesicht und die hängenden Brüste. Gab es an einer bekleideten Frau nicht doch mehr zu malen? Wenn die Maler sie nackt malen wollten, mussten sie andere Ziele verfolgen. Warum malten sie keine Männer? Sogar Amelia wurde eine andere, wenn sie sich so bloßstellte. Ginia weinte beinahe.

Doch zu Amelia sagte sie nichts, es freute sie nur, dass diese jetzt etwas verdiente und lieber mit ins Kino ging, wenn sie sich trafen. Dann kaufte Amelia sich Strümpfe und frisierte sich besser, und Ginia ging wieder richtig gern mit ihr aus, weil Amelia gut ankam und sich viele nach ihnen umdrehten. So ging der Sommer zu Ende, und eines Abends sagte Amelia: »Dein Barbetta geht aufs Land, um seine Farben zu suchen und zur Weinlese. Er fing an, mich zu nerven.«

Gerade an diesem Abend hatte Amelia eine neue Handtasche, und Ginia fragte: »Hat er dir ein Abschiedsgeschenk gemacht?«

»Der?«, sagte Amelia. »Dass ich nicht lache! Der wollte, dass du wiederkommst, dir hätte er nichts bezahlen müssen.«

Dann stritten sie sich, weil Amelia es ihr nie gesagt hatte, und gingen beleidigt auseinander. »Sie hat einen Liebhaber gefunden«, dachte Ginia, allein auf dem Heimweg, »sie hat einen Liebhaber gefunden, der ihr Geschenke macht.« Sie beschloss, sich erst dann mit ihr zu versöhnen, wenn Amelia kommen und sie darum bitten würde.

Lustlos, um sich nicht zu langweilen, versuchte Ginia, die alten Freundschaften wieder aufzuwärmen. Schließlich würde sie im nächsten Sommer siebzehn Jahre alt sein, und ihr schien, sie sei nun längst so schlau wie Amelia. Umso mehr, als sie sie nicht mehr sah. An diesen schon kühlen Abenden versuchte sie, Rosa gegenüber die Amelia zu spielen. Sie lachte ihr oft ins Gesicht und ging plaudernd mit ihr spazieren. Sie redete noch einmal mit ihr über Pino. Aber sie zum Tanzen auf den Hügel zu führen, wagte sie nicht.

Amelia hatte bestimmt jemanden, denn niemand bekam sie mehr zu Gesicht. »Solange eine Frau was zum Anziehen hat«, dachte Ginia, »macht sie eine gute Figur. Man muss aufpassen, sich nicht nackt sehen zu lassen.« Doch über solche Dinge konnte man weder mit Rosa oder Clara noch mit deren Brüdern sprechen, die sofort schlecht von ihr gedacht oder versucht hätten, sie anzufassen, und das wollte Ginia nicht, weil sie begriffen hatte, dass es etwas Besseres auf der Welt gab als einen Ferruccio oder einen Pino. An den Abenden, die sie mit ihnen verbrachte, tanzten und scherzten sie – unterhielten sich auch –, aber Ginia wusste, dass es die gleiche Fröhlichkeit war wie an den Sonntagen, an denen sie Boot gefahren waren: Kindereien, ohne Folgen, eine Auswirkung der Sonne und des Singens, kaum sah man einen mit dem Handtuch um die Hüften, der eine Frau nachmachte, schon lachte man los. Jetzt dagegen bestanden die Sonntage und Abende aus Langeweile, da sich Ginia allein zu nichts mehr entschließen konnte und sich von den anderen Mädchen mitziehen ließ. Nur in der Schneiderei hatte sie manchmal Spaß, wenn die Signora sie rief, um einer Kundin mit Stecknadeln das Kleid abzustecken. Es war zum Lachen, wenn man bestimmte Geschichten hörte, die manche dummen Kundinnen erzählten, aber noch lustiger war es, wenn die Signora so tat, als glaube sie daran, und ganz ernst blieb, während die Spiegel ihr schelmisches Gesicht zeigten. Einmal kam eine Blonde, die behauptete, sie hätte ihr Auto unten vor der Tür, doch wenn das wahr gewesen wäre, dachte Ginia, hätte sie eine luxuriösere Schneiderei aufgesucht. Sie war jung und groß und trug keinen Ehering. Aber schön, fand Ginia, schön und schlank, auch als sie in Höschen und Büstenhalter und sonst nichts dastand. Wenn die Modell gestanden hätte, das wäre wirklich ein schönes Bild geworden, und vielleicht war sie tatsächlich ein Modell, denn sie spazierte in der gleichen Haltung wie Amelia vor den Spiegeln auf und ab. Tage später sah Ginia ihre Rechnung, aber es stand nur der Nachname darauf, und mehr erfuhr sie nicht. Für sie blieb die Blonde ein Modell.

 

Eines Abends ließ Ginia sich von einem Freund von Severino einladen, der zu ihnen nach Hause kam, um ihr eine Lampe zu bringen, und ging am nächsten Tag in seinem Geschäft vorbei. Er war ein junger Mann wie Severino und flößte ihr keine Scheu ein, denn er trug immer einen Arbeitsanzug, und ein paar Jahre zuvor hatte er sie noch an den Handgelenken gepackt und gefragt, ob sie einen elektrischen Schlag bekommen wolle. Jetzt betrachtete er sie mit der Zungenspitze zwischen den Zähnen. Ginia ging hin, weil man von dem Geschäft aus Amelias Haustor sehen konnte, aber dieser Massimo hatte bestimmt keine Ahnung, warum sie eine ganze Weile mit ihm plauderte und lachte und gleich am nächsten Tag wiederkam.

Sie betrachteten die rosafarbenen und himmelblauen Lampen, und Ginia alberte herum. Durch das Schaufenster sah man Leute vorbeigehen, und sie fragte, ob es stimme, dass Amelia weiß gekleidet herumlief. »Wer weiß«, sagte Massimo, »ihr seid so viele, ihr Mädchen. Severino wird es wissen.« – »Oh, warum Severino?« – »Severino«, antwortete Massimo, »mag kräftige Frauen. Es ist doch die, die ohne Strümpfe geht?« – »Hat er dir das gesagt?«, fragte Ginia. »Du bist seine Schwester und weißt es nicht?«, erwiderte Massimo lachend. »Lass es dir von Amelia erzählen. Kam sie nicht immer zu dir nach Hause?«

Daran hatte Ginia nie gedacht. Der Gedanke, dass Amelia Severino gefallen hatte und dass sie es sich gesagt hatten und sich womöglich trafen, verdarb ihr den Tag. Wenn das stimmte, war Amelias ganze Freundschaft nur eine Finte gewesen. »Ich bin wirklich ein Kindskopf«, dachte Ginia, und um ihre Wut zu dämpfen, erinnerte sie sich daran, dass es sie abgestoßen hatte, Amelia nackt zu sehen. »Aber stimmt es überhaupt?«, dachte sie. Severino in ein Mädchen verliebt, das konnte sie sich nicht vorstellen, sie war sich vielmehr sicher, hätte er die arme Amelia damals Modell stehen sehen, hätte sie ihm nicht mehr gefallen. »Oder vielleicht doch?« – »Aber warum sind wir nackt?«, dachte sie verzweifelt.

Gegen Abend war sie schon wieder ruhiger und überzeugt, dass Massimo nur so dahergeredet hatte. Während sie mit Severino aß, betrachtete sie seine Hände mit den kaputten Fingernägeln und begriff, dass Amelia ganz anderes gewohnt war. Dann blieb sie im gedämpften Licht allein und dachte an die schönen Abende im August, als Amelia sie abholen kam, da hörte sie hinter der Tür ihre Stimme.