Der schöne Sommer

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

V.



»Ich wollte dich besuchen«, sagte Amelia.



Ginia antwortete nicht sofort.



»Du bist immer noch böse«, sagte Amelia. »Lass es gut sein. Ist dein Bruder nicht da?«



»Er ist gerade weggegangen.«



Amelia trug das alte Kleid, hatte aber eine schöne Frisur mit Korallen. Sie setzte sich aufs Sofa und fragte sofort, ob Ginia ausgehen wolle. Ihre Stimme klang wie früher, aber tiefer, als sei sie erkältet.



»Willst du zu mir oder zu Severino?«, fragte Ginia.



»O diese Leute. Lass sie doch reden. Ich will mich nur vergnügen, wenn du auch mitkommst.«



Daraufhin wechselte Ginia die Strümpfe, und sie eilten die Treppe hinunter, und Amelia ließ sich erzählen, was im Lauf des Monats geschehen war. »Und was hast du gemacht?«, fragte Ginia. »Was soll ich schon gemacht haben«, sagte Amelia und begann wieder zu lachen, »nichts habe ich gemacht. Heute Abend habe ich mir gesagt: Gehen wir mal nachsehen, ob Ginia immer noch an Barbetta denkt.« Sonst war nichts aus ihr herauszubringen, aber Ginia gab sich damit zufrieden. »Trinken wir ein Gläschen?«, schlug sie vor.



Während sie tranken, fragte Amelia, warum Ginia sie nie besucht hatte. »Ich wusste ja nicht, wo du bist.« – »Na, wo schon. Im Café, den ganzen Tag.« – »Das hast du nie gesagt.«



Am nächsten Tag ging Ginia sie im Café suchen. Es war ein neues Café unter den Arkaden, und Ginia blickte sich um und hielt nach Amelia Ausschau. Es war Amelia, die sie rief, laut, als wäre sie hier zu Hause. Ginia sah, dass sie einen schönen grauen Mantel und einen Hut mit Schleier trug, in dem sie kaum wiederzuerkennen war. Mit übergeschlagenen Beinen saß sie da, die Faust unter dem Kinn, als säße sie Modell. »Du bist ja wirklich gekommen«, sagte sie lachend.



»Wartest du auf jemanden?«, fragte Ginia.



»Ich warte immer«, sagte Amelia und machte ihr neben sich Platz. »Das ist meine Arbeit. Um sich vor einem Maler ausziehen zu dürfen, muss man Schlange stehen.«



Amelia hatte eine Zeitung und ein Päckchen Zigaretten vor sich auf dem Tisch liegen. Also verdiente sie etwas. »Schön, dieser Hut, aber er macht dich alt«, sagte Ginia und blickte ihr in die Augen. »Ich bin alt«, sagte Amelia. »Gefällt er dir nicht?«



Amelia lehnte sich an den Spiegel, als säße sie auf einem Sofa. Sie schaute nach vorn, in den Spiegel gegenüber, in dem Ginia auch sich selbst sah, aber kleiner. Sie wirkten wie Mutter und Tochter. »Und du bist immer hier?«, fragte sie. »Kommen die Maler hierher?«



»Sie kommen, wann sie Lust haben. Heute hat sich noch keiner blicken lassen.«



Der Kronleuchter brannte, und viele Leute gingen draußen am Fenster vorbei. Der Raum war voller Rauch, aber so hell und ruhig, dass es schien, als kämen die Geräusche und Stimmen von weit her. Ginia beobachtete zwei Mädchen in einer Ecke, die sich angeregt unterhielten und mit dem Kellner sprachen. »Sind das Modelle?«, fragte sie.



»Ich kenne sie nicht«, sagte Amelia. »Nimmst du einen Kaffee oder einen Aperitif?«



Ginia hatte immer geglaubt, ins Café ginge man, um sich mit einem Mann zu treffen, als Paar, und sie konnte es kaum fassen, dass Amelia die Nachmittage allein dort verbrachte, fand es aber so schön, auf dem Heimweg von der Schneiderei durch die Bogengänge zu schlendern und dabei ein Ziel zu haben, dass sie am nächsten Tag gleich wieder hinging. Wäre sie nur ganz sicher gewesen, dass Amelia sie gerne sah, hätte sie sich prächtig amüsiert. Diesmal bemerkte Amelia sie durch die Scheibe, machte ihr ein Zeichen und kam heraus. Gemeinsam stiegen sie in die Straßenbahn.



An diesem Abend redete Amelia nicht viel. »Es gibt doch richtige Flegel«, sagte sie nur. »Hast du auf jemanden gewartet?«, fragte Ginia.



Bevor sie sich trennten, plauderten sie noch ein wenig und verabredeten sich für den nächsten Tag, sodass Ginia zu der Überzeugung kam, Amelia sehe sie gerne, und wenn sie etwas in die falsche Kehle bekommen hatte, gab es andere Gründe dafür, vielleicht irgendeine hässliche Begegnung.



»Wie geht das eigentlich? Kommt ein Maler zu dir und fragt, ob du ihm Modell stehen willst?«, fragte sie lachend.



»Es gibt auch solche, die gar nichts sagen«, erklärte Amelia ihr. »Die wollen keine Modelle.«



»Und was malen sie dann?«, sagte Ginia.



»Weißt du es? Da ist einer, der erzählt, dass er so malt, wie wir Lippenstift benutzen. ›Was malst du denn, wenn du Lippenstift benutzt? Genau so male ich.‹«



»Aber mit Lippenstift malt man sich die Lippen an.«



»Und er malt die Leinwand an. Ciao, Ginia.«



Machte Amelia solche Scherze, ohne zu lachen, fürchtete Ginia, es werde etwas geschehen, war enttäuscht und fühlte sich allein, während sie heimging. Zum Glück musste sie zu Hause schnellstens die Pasta für Severino kochen, und nach dem Essen sah alles schon anders aus, weil es Nacht wurde und Zeit, allein oder mit Rosa auszugehen. Manchmal dachte sie: »Was für ein Leben führe ich eigentlich. Keine Sekunde kann ich verschnaufen.« Aber dieses Leben gefiel ihr, denn nur so war es schön, nachmittags oder auch abends, wenn sie im Café bei Amelia vorbeiging, einen Augenblick Frieden zu finden und sich auszuruhen. Hätte sie Amelia nicht gehabt, wäre sie freier gewesen, aber wozu, jetzt, da das Wetter sich verschlechterte und es keinen Spaß mehr machte, die Straße zu überqueren? Falls in diesem Winter etwas geschehen sollte – Ginia spürte es –, so würde Amelia den Anstoß geben und nicht Dummköpfe wie Rosa oder Clara.



Im Café begann sie Bekanntschaften zu machen. Es gab einen Herrn, der Barbetta ähnelte und Amelia zuwinkte, wenn sie gingen. Er siezte sie, und Amelia sagte zu Ginia, er sei kein Maler. Ein hochgewachsener junger Mann, der vor den Arkaden mit dem Auto anhielt und eine sehr elegante Signora dabeihatte, kam manchmal an den Tresen, und Amelia kannte ihn nicht, sagte aber, er sei kein Maler. »So viele sind es nicht, was glaubst du denn«, sagte sie zu Ginia. »Wer wirklich arbeitet, geht nicht ins Café.« Alles in allem kannte Amelia die Kellner besser als die Gäste, aber Ginia, die sich durchaus amüsierte, wenn sie sie scherzen hörte, achtete darauf, niemandem zu viele Vertraulichkeiten zu gestatten. Einer, der oft bei Amelia saß und Ginia das erste Mal gegrüßt hatte, ohne sie überhaupt anzuschauen, war ein behaarter junger Mann mit weißer Krawatte und tiefschwarzen Augen, der Rodrigues hieß. In der Tat wirkte er nicht wie ein Italiener und sprach kehlig, und Amelia behandelte ihn wie einen Jungen und sagte zu ihm, wenn er diese Lira gespart hätte, anstatt sie im Café auszugeben, hätte er in zehn Tagen ein Modell bezahlen können. Ginia hörte belustigt zu, aber der junge Mann mit der unsicheren Stimme fing wieder an, Amelia bald wie eine schöne Frau, bald wie ein launisches Kind zu behandeln. Sie lachte, aber manchmal wurde sie ärgerlich und sagte, er solle verschwinden. Dann wechselte Rodrigues den Tisch, zog einen Bleistift heraus und begann zu schreiben, während er sie beide schief ansah. »Achte nicht auf ihn«, sagte Amelia, »er würde es genießen.« Nach und nach gewöhnte sich auch Ginia an, ihn links liegen zu lassen.



Eines Abends gingen sie ohne ein bestimmtes Ziel zusammen aus. Sie bummelten ein wenig, dann begann es zu regnen, und sie suchten Schutz in einem Hauseingang. Es war kalt, vor allem wenn man mit nassen Strümpfen herumstand. Amelia hatte gesagt: »Wenn Guido zu Hause ist, könnten wir zu ihm gehen, willst du?« – »Wer ist Guido?« Amelia hatte die Nase vorgestreckt und den Hals verrenkt, um zu den Fenstern am Haus gegenüber hinaufzuspähen. »Es brennt Licht; gehen wir, dann sind wir im Trockenen.« Sie waren mindestens sechs Stockwerke hinaufgestiegen und beim Dachgeschoss angelangt, als Amelia keuchend stehenblieb und sagte: »Hast du Angst?«



»Wieso Angst?«, fragte Ginia. »Kennst du ihn nicht?«



Als sie an die Tür klopften, hörten sie Gelächter im Zimmer, ein halblautes, unangenehmes Lachen, das Ginia an Rodrigues erinnerte. Sie hörten Schritte, die Tür öffnete sich, aber man sah niemanden. »Dürfen wir reinkommen?«, fragte Amelia, indem sie eintrat.



Auf einem Sofa an der Wand, unter einem grellen Licht, lümmelte tatsächlich Rodrigues. Aber daneben stand noch einer, ein Soldat in Hemdsärmeln, blond und verdreckt, der sie lachend ansah. Ginia kniff die Augen zusammen in dem Licht, es schien eine Karbidlampe zu sein. Kleine Bilder und Vorhänge bedeckten drei Wände; die vierte bestand nur aus Fenster.



Halb ernst, halb lachend sagte Amelia zu Rodrigues: »Sie sind wohl überall?« Er winkte ihr zu und brummte: »Die zweite heißt Ginia, Guido.« Da reichte der Soldat auch ihr die Hand, während er sie unverschämt lächelnd musterte.



Ginia begriff, dass sie sich ganz unbefangen geben musste, und begann, über Amelias und Guidos Köpfe hinweg die Bilder an den Wänden zu betrachten. Es schienen Landschaften mit Bäumen und Bergen zu sein, und dazwischen erkannte sie undeutlich einige Porträts. Aber die Lampe, wie in noch nicht ganz fertigen Wohnungen ohne Schirm aufgehängt, blendete, ohne Licht zu geben. Ginia sah aber doch, dass es hier nicht so viele Vorhänge gab wie bei Barbetta, sondern nur einen – einen langen roten –, der das Zimmer hinten abschloss, und sie begriff, dass es dahinter noch einen Raum geben musste.



Guido fragte, ob sie etwas trinken wollten. Auf dem großen Tisch in der Mitte des Zimmers standen Gläser und eine Flasche. »Wir sind gekommen, um uns aufzuwärmen«, sagte Amelia. »Wir sind nass bis zu den Knien.« Guido schenkte ein – einen dunklen Rotwein –, und Amelia brachte Rodrigues, der sich aufsetzte, ein Glas. Während sie tranken, sagte Amelia zu ihm: »Es tut mir leid für Guido, aber Sie stehen jetzt auf und überlassen mir das Bett, damit ich mir die Beine wärmen kann. Die Betten sind für die Frauen. Komm auch her, Ginia.« Doch Ginia wollte nicht, sie sagte, der Wein habe sie schon gewärmt, und setzte sich auf einen Stuhl. Da streifte Amelia die Schuhe ab, zog sich die Jacke aus und schlüpfte unter die Decke. Rodrigues blieb auf dem Sofarand sitzen.

 



»Redet ruhig weiter«, sagte Amelia. »Mich stört nur das Licht.« Damit streckte sie den Arm zur Wand und knipste es aus. »So, das hätten wir. Gebt mir eine Zigarette.«



Ginia saß entsetzt im Dunkeln. Aber sie merkte, dass Guido zum Sofa gegangen war, und hörte, wie er das Zündholz anstrich, und sah die beiden Gesichter in der Flamme zwischen tanzenden Schatten. Dann wurde es wieder dunkel, und einen Moment lang rührte sich niemand. Man hörte den Regen an die Fensterscheiben prasseln.



Jemand sagte etwas, aber Ginia, die immer noch verstört war, erfasste die Worte nicht. Sie merkte, dass auch Guido rauchte, während er ruhig im Dunkeln auf und ab wanderte. Sie sah die Zigarettenglut und hörte die Schritte. Dann begriff sie, dass Amelia und Rodrigues wieder angefangen hatten zu streiten. Doch erst, als sie sich allmählich an die Dunkelheit gewöhnt hatte und den Tisch, die Schatten der anderen und sogar einige Bilder an der Wand zu unterscheiden begann, wurde sie ruhiger. Amelia sprach mit Guido über früher, als sie einmal krank hier auf dem Sofa geschlafen hatte. »Aber damals hattest du noch nicht diesen Partner«, sagte sie, »was machst du mit ihm? Ziehst du ihn nackt aus?«



Alles war so seltsam, dass Ginia sagte: »Man kommt sich vor wie im Kino.«



»Aber hier kostet es keinen Eintritt«, erwiderte Rodrigues aus seiner Ecke.



Guido ging immer noch auf und ab, quer durch das ganze Zimmer, und brachte mit seinen Stiefeln den dünnen Boden zum Schwingen. Sie redeten alle durcheinander, doch plötzlich merkte Ginia, dass Amelia schwieg – man sah die Zigarette – und dass auch Rodrigues nichts mehr sagte. Nur Guidos Stimme erfüllte das Zimmer und erklärte etwas, das sie nicht verstand, weil sie mit einem Ohr zum Sofa hin horchte. Ein nächtliches Licht fiel durch die Scheiben, wie ein elektrischer Widerschein des Regens, und man hörte es von den Dächern und Regenrinnen tropfen, plätschern und gluckern. Jedes Mal, wenn der Regen und die Stimme zufällig gleichzeitig schwiegen, schien es kälter zu werden. Dann bemühte sich Ginia, im Dunkeln Amelias Zigarette zu erkennen.




VI.



Als sie sich auf der Straße vor der Haustür verabschiedeten, hatte es zu regnen aufgehört. Ginia sah noch das schmutzige, tropfende, von jener grellen Lampe erhellte Zimmer vor sich. Mehrmals hatte Guido das Licht angeknipst, um nachzuschenken oder etwas zu suchen, und Amelia hatte sich auf dem Sofa die Augen zugehalten und gerufen, er solle es wieder ausmachen, und man hatte sehen können, dass Rodrigues regungslos zu ihren Füßen an der Wand kauerte.



»Haben die beiden niemanden, der ihnen das Zimmer fegt?«, fragte Ginia, während sie allein nach Hause gingen.



Amelia sagte, Guido sei vertrauensselig, dass er Rodrigues den Atelierschlüssel überlasse.



»Hat Guido diese Bilder gemalt?«



»An seiner Stelle hätte ich Angst, dass dieser Portugiese sie verkauft und das Zimmer ohne Absprache untervermietet.«



»Hast du für Guido Modell gestanden?«



Im Gehen erzählte Amelia, wie sie Rodrigues kennengelernt hatte, als sie noch jünger war und für irgendwen Modell stand. Rodrigues kam, genau wie jetzt, ins Atelier hereingeschneit und setzte sich, als wäre er im Café; still hockte er da, sah von ihr zum Maler und sagte nie etwas. Schon damals trug er die weiße Krawatte. Ebenso machte er es bei einem anderen Modell, das sie kannte.



»Malt er denn nicht auch?«



»Da müsste eine schon sehr verzweifelt sein, um sich nackt vor ihn hinzustellen, glaubst du nicht?«



Ginia hätte Guidos Bilder gern noch einmal angeschaut, denn sie wusste, dass man Farben nur bei Tag richtig sieht. Wäre sie sicher gewesen, Rodrigues nicht dort anzutreffen, hätte sie all ihren Mut zusammengenommen und wäre allein hingegangen. Sie stellte sich vor, wie sie hinaufstieg, klopfte, Guido in seinen Soldatenhosen vorfand und ihn anlachte, um das Eis zu brechen. Das Schöne an diesem Maler war, dass er gar nicht wie ein Maler wirkte. Ginia erinnerte sich daran, wie er ihr mit einem aufmunternden Lächeln die Hand gedrückt hatte, und an seine Stimme im dunklen Zimmer und an sein Gesicht, wenn er das Licht anknipste und sie ansah, als wären sie beide, unabhängig von Rodrigues und Amelia, ein Paar. Aber jetzt war Guido nicht da, und man musste mit dem anderen rechnen.



Am nächsten Tag im Café fragte sie Amelia, ob Guido wenigstens am Sonntag freihabe. »Früher hätte ich es gewusst«, sagte Amelia. »Aber wir sehen uns schon länger nicht mehr.«



»Rodrigues hat zu mir gesagt, ich dürfe in sein Atelier kommen, wann ich will.«



»Sieh mal an«, erwiderte Amelia.



Aber er ließ sich mehrere Tage lang nicht im Café blicken. »Ich wette, er wartet darauf, dass wir ihn besuchen, jetzt, wo er über ein Bett verfügt, um uns gebührend zu empfangen. Das sähe ihm ähnlich.«



»Da kann er lange warten«, antwortete Ginia.



Als sie noch einmal darüber nachdachte, kam Ginia zu dem Schluss, dass Amelias Verhalten, sich in Anwesenheit anderer ins Bett zu legen und das Licht auszumachen, doch nicht so frech war, denn auch Guido und Rodrigues hatten nichts dabei gefunden. Was sie quälte, war die Vorstellung, was Amelia zu anderen Zeiten auf diesem Bett getrieben haben mochte, als das Zimmer nur Guido allein gehörte.



»Wie alt ist Guido?«, fragte sie.



»Früher war er so alt wie ich.«



Aber Rodrigues ließ sich nicht blicken, und eines Morgens kam Ginia, die einige Besorgungen erledigen musste, durch die Straße jener Nacht. Sie blickte hoch und erkannte die dreieckige Vorderfront des Ateliers. Ohne lange zu überlegen, stieg sie die Treppe hinauf, die kein Ende nahm, aber oben im letzten Flur gab es mehrere Türen, und sie konnte sich nicht entscheiden. Sie begriff, dass Guido nicht berühmt war, da er nicht einmal ein Namensschild hatte, und im Hinuntergehen dachte sie gerührt an die Lampe an jenem Abend, die für einen Maler tödlich sein musste. Als sie dann Amelia traf, sagte sie ihr nichts von dem Besuch.



Eines Tages, als sie sich unterhielten, fragte sie Amelia, warum Männer Maler wurden. »Weil es Leute gibt, die Bilder kaufen«, erwiderte Amelia. »Aber nicht von allen«, sagte Ginia, »was ist mit den Malern, denen niemand was abkauft?«



»Das ist eben Geschmackssache«, sagte Amelia, »die meisten hungern.«



»Sie malen, weil es sie befriedigt«, sagte Ginia.



»Also bitte! Würdest du dir ein Kleid schneidern, um es dann nicht zu tragen? Am schlauesten macht es Rodrigues, er behauptet, er sei Maler, aber niemand hat ihn je mit einem Pinsel in der Hand gesehen.«



An genau diesem Tag saß Rodrigues im Café und zeichnete ganz konzentriert auf einen Block. »Was machen Sie da?«, fragte Amelia und nahm ihm das Blatt weg. Auch Ginia betrachtete es neugierig, aber sie sahen nur ein Gewirr von Linien, die den Bronchien eines Menschen ähnelten. »Was ist das? Ein Kopfsalat?«, fragte Amelia. Rodrigues antwortete weder Ja noch Nein, und darauf blätterten sie den Skizzenblock durch, der viele Zeichnungen enthielt: Einige glichen Pflanzenskeletten, und manchmal waren es Gesichter, aber ohne Augen, mit schwarz schraffierten Flecken; bei manchen begriff man nicht, ob es Gesichter oder Landschaften waren. »So sehen die Sachen nachts bei Gaslicht aus«, sagte Amelia. Rodrigues lachte spöttisch, aber Ginia ärgerte sich nicht, er tat ihr eher leid.



»Da ist nichts Schönes dabei«, sagte Amelia, »wenn Sie mich so porträtieren würden, würde ich Sie nicht mehr grüßen.«



Rodrigues sah sie wortlos an.



»Ein schönes Modell ist zu schade für Sie«, fuhr Amelia fort. »Wo finden Sie Ihre Modelle? Auf dem Klo?«



»Ich brauche keine Modelle«, sagte Rodrigues. »Ich achte das Papier.«



Darauf sagte Ginia ihm, sie wolle Guidos Bilder noch einmal sehen. Rodrigues steckte den Skizzenblock in die Tasche und sagte: »Zu Ihren Diensten.«



Schließlich gingen sie alle beide hin, am folgenden Sonntag, und Ginia schwänzte einen Teil der Messe, um rechtzeitig zu kommen. Sie hatten verabredet, sich am Haustor zu treffen, aber es war niemand da, und Ginia stieg allein hinauf. Erneut stand sie unsicher vor den vier Türen im Flur, konnte sich nicht entscheiden und ging die Treppe bis zur Hälfte wieder hinunter. Doch dann fand sie sich albern, kehrte um und lauschte an der letzten Tür. Da trat aus einer anderen eine ungekämmte Frau im Morgenrock, die einen Eimer trug. Ginia richtete sich gerade noch rechtzeitig auf und fragte sie, wo der Maler wohne. Die Frau würdigte sie keines Blickes und erwiderte nichts und verschwand über den Flur. Ginia, rot und zitternd, hielt den Atem an, bis alles still war, dann rannte sie die Treppe hinunter.



Ab und zu betrat jemand das Haus oder kam heraus und betrachtete sie im Vorübergehen. Ginia begann, verzweifelt auf und ab zu laufen, vor allem auch, weil auf der Straßenseite gegenüber ein Metzgergeselle am Türrahmen lehnte und sie hämisch anstarrte. Sie überlegte, ob sie die Portiersfrau fragen sollte, wo das Atelier war, doch nun konnte sie ebenso gut auf Amel