Der schöne Sommer

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VII.

»Rodrigues ist ganz gierig drauf, dass du ihm Modell stehst«, sagte Ginia, während sie heimgingen.

»Wieso?«

»Hast du nicht bemerkt, wie er um uns herumsprang und deine Beine anstarrte?«

»Soll er doch«, sagte Amelia.

»Für Guido hast du nie Modell gestanden?«

»Nein, nie«, sagte Amelia.

Als sie die Piazza überquerten, sahen sie Rosa am Arm eines jungen Mannes vorbeikommen, aber es war nicht Pino. Sie hing an ihm, als könne sie nicht alleine gehen, und Ginia sagte: »Schau nur. Sie haben Angst, sich zu verlieren.« – »Sonntags ist alles erlaubt«, sagte Amelia. »Aber nicht in der Öffentlichkeit. Sie machen sich lächerlich.« – »Kommt ganz darauf an«, erwiderte Amelia, »wenn eine dumm ist und es darauf anlegt, macht sie alles Mögliche.«

Ginia hatte von Rodrigues erfahren, dass Guido oft am Nachmittag, wenn er Ausgang hatte, ins Atelier kam, um zu malen. »Er würde auch nachts malen«, hatte Rodrigues gesagt. »Vor einer Leinwand wird er wild wie ein Stier und muss einfach loslegen.« Dabei hatte er auf seine heisere Art gelacht.

Ohne etwas zu sagen, wartete Ginia einen Nachmittag ab, an dem Rodrigues im Café saß, und ging allein ins Atelier. Diesmal hatte sie aus anderen Gründen Herzklopfen, als sie die Treppe hinaufstieg. Doch vor der Tür zögerte sie nicht. Sie fand sie offen.

»Herein«, sagte Guido.

Vor Verlegenheit schlug sie die Tür hinter sich zu. Keuchend blieb sie unter Guidos Blicken stehen. Vielleicht lag es an der Uhrzeit, jedenfalls tauchte der große Samtvorhang, auf den ein wenig Sonne fiel, das ganze Zimmer in ein rötliches Licht. Mit gesenktem Kopf trat Guido auf sie zu und fragte: »Was ist?«

»Kennen Sie mich nicht mehr?«

Guido war wie üblich in Hemdsärmeln und trug seine graugrünen Hosen.

»Ist die andere auch da?«, fragte er.

Da erklärte Ginia ihm, dass sie allein war und dass Amelia im Café saß. »Rodrigues hat mir gesagt, ich könne kommen und mir die Bilder ansehen. Wir haben es schon einmal am Morgen probiert, aber da waren Sie nicht da.«

»Dann setz dich«, sagte Guido. »Ich mache eben eine Arbeit fertig.«

Er ging wieder ans Fenster und kratzte mit einem Messer eine Holztafel ab. Ginia setzte sich aufs Sofa und hatte das Gefühl zu fallen, so niedrig war es. Sie war verwirrt von dem Du und musste lachen bei dem Gedanken, dass alle, ob Mechaniker oder Maler, auf diese Weise anfingen. Doch die Augen in dem weichen Licht halb zu schließen, war schön.

Guido sagte etwas über Amelia. »Wir sind Freundinnen«, antwortete Ginia, »aber ich arbeite in der Schneiderei.«

Allmählich wurde es dämmrig im Zimmer, deshalb stand Ginia auf und drehte den Hals, um ein kleines Bild zu betrachten. Es war das mit den Melonenscheiben, die durchsichtig, ganz aus Wasser zu sein schienen. Ginia bemerkte einen rosigen, aber gemalten Lichtreflex auf dem Bild, der sie an den roten Widerschein des Samtvorhangs erinnerte, vorhin, als sie eingetreten war. Da begriff sie, dass man beim Malen solche Dinge wissen muss, wagte aber nicht, es Guido zu sagen. Guido ging hinter ihr her und betrachtete mit ihr die Bilder.

»Altes Zeug«, sagte er ab und zu.

»Aber schön«, sagte Ginia, und das Herz klopfte ihr bis zum Hals, denn sie erwartete, gleich seine Hand auf sich zu spüren. »Schön sind sie«, sagte sie und trat einen Schritt zur Seite. Guido sah die Bilder an und rührte sich nicht.

Während Guido sich eine Zigarette anzündete, begann Ginia, an den Tisch gelehnt, ihn zu fragen, wen die Porträts darstellten und ob er noch nie Amelia gemalt habe. »Sie arbeitet als Modell«, sagte sie. Doch Guido fiel aus allen Wolken und sagte, das habe er nicht gewusst. »Ich hab’ sie doch selbst Modell stehen sehen«, erwiderte Ginia. »Das ist mir neu. Bei welchem Maler?« – »Den Namen weiß ich nicht, aber sie stand Modell.« – »Nackt?«, fragte Guido. »Ja.«

Guido fing an zu lachen. »Da hat sie ja den richtigen Beruf gefunden, sie hat schon immer gern ihre Beine gezeigt. Bist du auch Modell?« – »O nein, ich arbeite«, sagte Ginia hastig, »ich arbeite in einer Schneiderei.«

Und doch war sie ein wenig beleidigt, dass Guido gar nicht auf die Idee kam, ein Bild von ihr zu malen. Wenn ihr Profil Barbetta gefallen hatte, warum gefiel es dann Guido nicht? »Amelia erzählt eine Menge Geschichten«, sagte sie dann, »und schlägt gern über die Stränge. Man versteht nicht, was sie will.«

»Früher war es ein Vergnügen, mit ihr zusammen zu sein«, sagte Guido gut gelaunt. »Dieses Atelier hat schon allerhand mitgemacht.«

»Macht es noch«, sagte Ginia, »Amelia und Rodrigues verlieren keine Zeit.«

Guido sah sie halb ernst, halb lachend an. Es wurde schon dunkel, und sein Ausdruck war kaum zu erahnen. Ginia wartete auf eine Antwort, die nicht kam. Nach langem Schweigen sagte Guido: »Du gefällst mir, Ginetta, weißt du, du gefällst mir, weil du nicht rauchst. Die Mädchen, die rauchen, haben alle irgendwelche Schwierigkeiten.«

»Hier riecht es nicht so nach Firnis wie sonst bei Malern«, sagte Ginia dann.

Guido stand auf und zog seine Jacke an. »Das ist Terpentin. Es ist ein guter Geruch.« Ginia wusste nicht wie, aber plötzlich sah sie ihn vor sich und fühlte, wie eine Hand ihren Nacken streifte, während sie wie ein dummes Ding die Augen aufriss und mit der Hüfte gegen den Tisch stieß. Rot wie glühende Kohle spürte sie Guido über sich, als er sagte: »Der Geruch, den du unter den Achseln hast, ist besser als der von Terpentin.«

Ginia stieß ihn weg, fand die Tür und lief davon. Erst an der Straßenbahnhaltestelle blieb sie stehen. Nach dem Abendessen ging sie ins Kino, um nicht mehr an diesen Nachmittag zu denken.

Doch je länger sie darüber nachdachte, desto klarer wurde ihr, dass sie bestimmt dorthin zurückkehren würde. Und sie war verzweifelt, weil sie wusste, dass sie sich lächerlich benommen hatte, wie es eine Frau in ihrem Alter nicht mehr tun sollte. Sie hoffte nur, dass Guido nun beleidigt war und nicht mehr versuchen würde, sie zu umarmen. Sie hätte sich ohrfeigen können, weil sie, als Guido ihr auf der Treppe etwas nachrief, nicht hingehört hatte, ob er meinte, sie solle zurückkommen. Den ganzen Abend dachte sie mit wundem Herzen, dass sie ja doch zurückkehren würde, was immer sie im Augenblick beschloss. Sie wusste, die Lust, ihn wiederzusehen, ihn um Entschuldigung zu bitten und ihm zu sagen, dass sie sich albern benommen hatte, würde sie wahnsinnig machen.

Am nächsten Tag ging Ginia nicht hin, wusch sich aber unter den Achseln und parfümierte sich ganz. Sie kam zu der Überzeugung, dass es ihre Schuld war, wenn sie ihn erregt hatte, aber zwischendurch war sie auch froh, dass sie so viel Mut gehabt hatte, denn nun wusste sie, was Männer verliebt macht. »Das sind die Dinge, auf die Amelia sich gut versteht«, dachte sie, »aber um so weit zu kommen, hat sie sich wegwerfen müssen.«

Sie traf Amelia und Rodrigues zusammen im Café. Kaum eingetreten, fürchtete sie, dass die beiden alles wüssten, weil Amelia sie sonderbar ansah, aber schon einen Augenblick später war Ginia beruhigt und tat, als sei sie müde und gereizt, während sie, an Guidos Stimme denkend, Rodrigues die üblichen Dummheiten sagen hörte. Jetzt begriff sie vieles: warum Rodrigues sich beim Sprechen über Amelia beugte, warum er die Augen schloss wie eine Katze, warum Amelia sich mit ihm einließ. »Sie hat die gleichen Gelüste wie ein Mann«, dachte sie, »Amelia ist schlimmer als Guido.« Und sie musste lachen, wie man allein vor sich hin lacht.

Am nächsten Tag kehrte sie ins Atelier zurück. Morgens in der Schneiderei hatte Signora Bice trocken bemerkt, sie könnten am Nachmittag zu Hause bleiben, weil Feiertag sei. Zu Hause traf sie Severino, der gerade das Hemd wechselte für den Aufmarsch. Es war ein patriotisches Fest, überall war geflaggt, und Ginia fragte ihn: »Ob sie den Soldaten wohl Ausgang geben?« – »Sie sollten mich lieber schlafen lassen«, sagte Severino. Aber Ginia war glücklich und wartete nicht, bis Amelia oder Rosa sie abholte, sondern lief allein los. Unten im Hauseingang des Ateliers bereute sie dann, dass sie nicht mit Amelia hingegangen war.

Sie sagte sich: »Ich will kurz nachsehen, ob Amelia da ist«, und stieg langsam die Treppe hinauf. Sie dachte nicht wirklich, dass Amelia da sei, denn um diese Zeit pflegte sie unter den Arkaden zu sein. Aber als sie oben vor der Tür angelangt war und stehenblieb, um Atem zu holen, hörte sie Rodrigues’ Stimme.

VIII.

Die Tür stand offen, und man sah das Fenster vor dem Himmel. Rodrigues’ Stimme klang laut und eindringlich. Ginia beugte sich vor und sah Guido, der am Tisch lehnte und zuhörte.

»Darf man hereinkommen?«, fragte sie leise, aber sie hörten sie nicht. In dem graugrünen Hemd kam Guido ihr vor wie ein Arbeiter. Er richtete die Augen auf sie, ohne sie zu sehen.

»Ich suche Amelia«, sagte Ginia beinahe flüsternd.

Da schwieg Rodrigues’ Stimme, und Ginia sah, dass er auf dem Sofa saß, das Knie zwischen den Händen, und sie anschaute.

»Ist Amelia nicht da?«

»Das hier ist doch nicht das Café«, sagte Rodrigues.

Ginia blickte Guido an und blieb stehen. Sie sah, wie er die Hände hinter dem Rücken auf den Tisch stützte und ganz kleine Augen machte. »Früher kamen nicht so viele Mädchen hierher«, sagte er. »Bist du es, der sie anzieht?«

Da senkte Ginia den Kopf und merkte am Tonfall, dass er nicht böse war. »Komm herein«, sagten sie zu ihr, »sei nicht albern.«

Dieser Nachmittag war der schönste, den Ginia je erlebt hatte. Sie fürchtete nur, dass Amelia käme und ihre üblichen Bemerkungen losließe, aber die Zeit verstrich und Guido und Rodrigues diskutierten immer weiter, und ab und zu sah Guido sie lachend an und sagte, sie solle Rodrigues auch einen Dummkopf nennen. Die Diskussion drehte sich um Malerei, und Guido sprach hitzig und sagte, Farben seien eben Farben. Rodrigues hielt sein Knie umfasst, stritt hartnäckig und schwieg zwischendurch oder lachte boshaft wie ein Gockel. Worum es eigentlich ging, verstand man nicht, aber es war ein Genuss, Guido zuzuhören, wenn er etwas sagte. Er war schlagfertig, und wenn Ginia ihm in die Augen sah, stockte ihr der Atem.

 

Draußen auf den Dächern lag noch ein wenig Sonnenlicht, und Ginia, die am Fenster saß, wandte den Blick vom Himmel zu den beiden und sah hinten den granatroten Vorhang und dachte, wie schön es wäre, dahinter versteckt, ohne dass irgendwer davon wüsste, jemanden zu beobachten, der sich allein im Zimmer glaubte. In diesem Augenblick sagte Guido: »Es ist kalt. Gibt es noch Tee?«

»Es gibt Tee und einen Kocher. Nur das Gebäck fehlt.«

»Heute macht uns Ginetta den Tee«, sagte Guido, indem er sich umdrehte. »Der Kocher steht hinter dem Vorhang.«

»Es wäre besser, wenn sie Kekse kaufen ginge«, sagte Rodrigues.

»Von wegen«, erwiderte Ginia. »Gehen Sie selber, Sie sind ein Mann.«

Und während die beiden wieder zu reden begannen, suchte Ginia hinter dem Vorhang den Spirituskocher und die Tassen und die Teedose. Nachdem sie das Wasser aufgesetzt hatte, spülte sie am Waschbecken die Tassen, in der Dunkelheit hinter dem Vorhang, die nur das Flämmchen ein wenig erhellte. Sie hörte die beiden Stimmen im Hintergrund; ihr war, als sei sie allein in jenem Winkel, wie in einer leeren Wohnung, und als herrsche eine große Ruhe um sie her, in der sie sich sammeln und nachdenken konnte. Nur undeutlich erkannte man in jenem Licht das zerwühlte Bett in dem schmalen Raum zwischen Wand und Vorhang. Ginia stellte sich Amelia vor, wie sie darauf lag.

Als sie herauskam, merkte sie, dass die beiden Männer sie neugierig ansahen. Ginia hatte schon den Hut abgenommen, warf den Kopf zurück und nahm einen großen Teller vom Fensterbrett, der wie eine Palette ganz voller Farbflecke war. Doch Guido begriff blitzartig, stöberte zwischen den Kisten und hielt ihr einen sauberen Teller hin. Darauf stellte Ginia die noch feuchten Tassen, dann kehrte sie zu dem Kocher zurück und brühte den Tee auf.

Während sie tranken, erzählte Guido, die Tassen habe ihm ein Mädchen geschenkt, das ihn wie sie besuchen kam, um sich malen zu lassen. »Und wo ist dieses Bild?«, fragte Ginia. »Sie war doch kein Modell«, antwortete Guido lachend.

»Bleiben Sie noch lange beim Militär?«, fragte Ginia, langsam ihren Tee trinkend.

»Zu Rodrigues’ Bedauern bin ich in einem Monat fertig«, erwiderte Guido. Und dann sagte er: »Also bist du nicht mehr beleidigt?«

Ginia konnte gerade noch den Mund verziehen und leise lächelnd den Kopf schütteln.

»Dann wollen wir uns duzen«, sagte Guido.

Nach dem Abendessen zu Hause war es besonders schön. Amelia, die sie abholen kam, war ebenfalls fröhlich, »denn wenn Feiertag ist und die Leute nichts tun«, sagte sie, »bin ich glücklich«. Sie gingen zusammen spazieren und alberten herum wie zwei dumme Gören. »Wo warst du heute?«, fragte Amelia unterwegs. »Nichts Besonderes«, sagte Ginia, »gehen wir zum Tanzen auf den Hügel?« – »Es ist nicht mehr Sommer, weißt du, es ist zu matschig da oben.« Wie durch Zauberei befanden sie sich plötzlich in der Straße, in der das Atelier lag. »Ich komme nicht mit rauf«, sagte Ginia, »ich habe genug von deinen Malern.«

»Wer sagt denn, dass wir da hingehen? Heute Abend sind wir frei.« Sie kamen zur Brücke und blieben stehen, um die Kette der Lichtreflexe auf dem Wasser zu betrachten. »Ich habe Barbetta gesehen, und er hat mich nach dir gefragt«, sagte Amelia.

»Hat er es noch nicht satt, dich zu malen?«

»Ich habe ihn im Café getroffen.«

»Meinst du, er gibt mir meine Zeichnungen?«

Doch während Amelia sie ansah, dachte Ginia an etwas ganz anderes.

»Was habt ihr letztes Jahr gemacht, als du so oft bei Guido warst?«

»Was sollen wir schon gemacht haben? Man lachte und zerschlug Gläser.«

»Und dann habt ihr euch zerstritten?«

»Wie kommst du denn darauf? In einem Sommer ist er aufs Land gefahren, hat alles abgeschlossen und sich nicht mehr blicken lassen.«

»Wie hast du ihn kennengelernt?«

»Das weiß ich wirklich nicht mehr. Schließlich arbeite ich als Modell.«

Doch an diesem Abend war es unmöglich zu streiten, und während sie so am Wasser standen, war ihnen kalt geworden. Amelia hatte sich eine Zigarette angezündet und rauchte, an die steinerne Brüstung gelehnt.

»Sogar auf der Straße rauchst du?«, fragte Ginia.

»Ist das nicht das Gleiche wie im Café?«, erwiderte Amelia.

Aber sie setzten sich nicht in ein Café, weil Amelia schon genug davon hatte, die Tage dort zu verbringen. Sie machten sich vielmehr auf den Heimweg und blieben vor dem Kino stehen. Für den Film war es zu spät. Während sie die Fotos betrachteten, kam Severino heraus, missmutig, mit verärgertem Gesicht. Er grüßte Amelia mit einem Heben des Kinns, dann kehrte er um und begann, mit ihnen zu plaudern, und Ginia hatte ihn noch nie so ritterlich erlebt. Er sagte sogar ein paar Worte über Amelias Schleier. Um sie zum Lachen zu bringen, erzählte er ihnen den Film, und Amelia lachte, aber nicht wie im Café, wenn die Kellner etwas zu ihr sagten: Sie lachte mit geöffneten Lippen und ließ die Zähne sehen, wie man es unter Mädchen macht und wie sie es schon lange nicht mehr machte. Ihre Stimme klang recht rau: Das muss vom Rauchen kommen, dachte Ginia. Severino ging mit ihnen in die Bar und spendierte beiden einen Kaffee und sagte zu Amelia, sie sollten sich einmal für einen Sonntag verabreden. »Zum Tanzen?« – »Sicher.« – »Dann kommt Ginia auch mit«, sagte Amelia. Ginia kicherte.

Sie begleiteten Amelia bis vor die Haustür, und als die Tür zufiel, gingen sie zusammen heim. »Guido ist fast so alt wie Severino«, dachte Ginia, »er könnte mein Bruder sein.« – »Wie seltsam das Leben ist«, dachte sie, »Guido, den ich gar nicht kenne, würde sich bei mir einhaken, wir würden an den Ecken stehenbleiben, er würde mir sagen, dass ich eine Frau bin, und wir würden uns ansehen. Für ihn bin ich Ginetta. Man muss sich nicht kennen, um sich zu mögen.« Und nachdenklich trottete sie neben Severino her, kam sich dabei vor, als sei sie noch ein Kind, und fragte ihn auf einmal, ob ihm Amelia gefalle, merkte aber, dass sie etwas gesagt hatte, was er nicht erwartete.

»Was macht sie tagsüber?«, erwiderte Severino.

»Sie steht Modell.«

Severino begriff nicht, denn er fing an zu erklären, wie gut sie die Kleider zur Geltung bringe, und daraufhin wechselte Ginia das Thema und fragte ihn, ob es schon Mitternacht sei.

»Gib acht«, sagte Severino, »Amelia ist auf Draht, und du wirkst neben ihr wie ein dummes Ding.«

Ginia sagte ihm, sie sähen sich nur selten, und Severino schwieg, dann zündete er sich im Gehen eine Zigarette an, und sie kamen vor der Haustür an, als sei jeder für sich allein.

Ginia schlief in jener Nacht wenig, und die Decken lasteten schwer auf ihr, aber sie malte sich viele Dinge aus, die immer überspannter wurden, je mehr die Zeit verging. Sie stellte sich vor, dass sie allein in dem zerwühlten Bett in jenem Winkel des Ateliers läge und hörte, wie Guido sich auf der anderen Seite des Vorhangs bewegte, dass sie mit ihm zusammenlebte, ihn küsste und für ihn kochte. Wer weiß, wo Guido zu essen pflegte, als er noch nicht Soldat war. Dann dachte sie, dass sie nie geglaubt hätte, sie könne sich mit einem Soldaten befreunden, aber in Zivil war Guido bestimmt ein sehr schöner Mann, so blond und stark, und sie versuchte, sich an seine Stimme zu erinnern, die sie schon vergessen hatte, während ihr die von Rodrigues noch genau im Ohr klang. Sie musste ihn wiedersehen, und sei es auch nur, um ihn reden zu hören. Je länger sie darüber nachdachte, umso weniger begriff sie, warum Amelia sich mit Rodrigues eingelassen hatte anstatt mit ihm. Sie war froh, dass sie nicht wusste, was Amelia und Guido miteinander gemacht hatten zu der Zeit, als sie die Gläser zerschlugen.

Als der Wecker klingelte, schlief sie nicht und dachte in der wohligen Wärme des Bettes an viele Dinge. Beim ersten Licht bedauerte sie, dass nun schon Winter war und man nicht mehr in der Sonne die schönen Farben sehen konnte. Wer weiß, ob Guido auch daran dachte, da er doch behauptete, die Farben seien alles. »Wie schön«, sagte Ginia und stand auf.

IX.

Am nächsten Tag um die Mittagszeit erschien Amelia bei ihr zu Hause, aber da sie gerade mit Severino bei Tisch saß, plauderten sie nur über Belanglosigkeiten. Als sie auf der Straße standen, sagte Amelia zu ihr, sie sei an diesem Morgen bei einer Malerin gewesen, die Arbeit für sie hätte. Warum Ginia nicht mitkomme. Diese blöde Kuh wolle ein Bild von zwei Frauen malen, die sich umarmten, und so könnten sie gemeinsam Modell stehen. »Warum malt sie sich nicht selber vor dem Spiegel?«, erwiderte Ginia. »Soll sie sich zum Malen etwa nackt ausziehen?«, fragte Amelia lachend.

Ginia antwortete, sie könne die Schneiderei nicht verlassen, wie es ihr passe.

»Aber die bezahlt uns, weißt du?«, sagte Amelia. »Es ist ein Bild, für das sie lange brauchen wird. Wenn du nicht mitkommst, nimmt sie mich auch nicht.«

»Genügst du ihr allein nicht?«

»Sie will zwei Frauen darstellen, die miteinander ringen, verstehst du. Es müssen zwei sein. Es wird ein großes Bild. Wir brauchen uns nur hinzustellen, als tanzten wir.«

»Ich will nicht Modell stehen«, sagte Ginia.

»Wovor hast du Angst? Sie ist doch auch eine Frau.«

»Ich will nicht.«

Sie diskutierten bis zur Straßenbahn, und Amelia fing an, sie zu fragen, was sie eigentlich unter den Kleidern zu haben glaube, dass sie es hüten müsse wie das Allerheiligste. Sie sprach wütend, ohne Ginia anzusehen. Ginia antwortete nicht. Doch als Amelia zu ihr sagte, für Barbetta hätte sie bestimmt eingewilligt, sich auszuziehen, lachte Ginia ihr ins Gesicht.

Sie trennten sich so zerstritten, dass klar war, dass Amelia ihr nicht verzeihen würde. Aber Ginia, die anfangs die Achseln zuckte, bekam auf einmal Angst bei der Vorstellung, Amelia könne sie vor Guido und Rodrigues bloßstellen, und sie war nicht sicher, ob Guido nicht so leichtgläubig wäre, sie auch auszulachen. »Für ihn würde ich Modell stehen, wenn er es wollte«, dachte sie. Aber sie wusste genau, dass Amelia besser gebaut war als sie und dass ein Maler sie vorziehen musste. Amelia war mehr Frau.

Später ging sie auf einen Sprung im Atelier vorbei, um Amelia zuvorzukommen. Es war um die Zeit, zu der auch Guido, wie er ihr gesagt hatte, immer dort war. Sie fand die Tür verschlossen. Ihr fiel ein, dass Guido mit den anderen beiden im Café sitzen könnte. Sie ging am Café vorbei und schaute kurz durch die Scheiben, sah aber nur Amelia, die das Kinn auf die Faust stützte und rauchte. »Die Ärmste«, dachte sie, während sie nach Hause ging.

Nach dem Abendessen sah sie von der Straße aus Licht im Atelier und lief zufrieden hinauf; aber Guido war nicht da. Rodrigues öffnete ihr, ließ sie eintreten und sagte, sie müsse entschuldigen, doch er habe Hunger und esse gerade. Er aß Salami von einem Stück Papier, im Stehen an den Tisch gelehnt, in dem gleichen melancholischen Licht wie beim ersten Mal. Wie ein Junge biss er ins Brot, und wäre seine Gesichtshaut nicht so dunkel und sein Blick nicht so falsch gewesen, hätte Ginia ihn vielleicht sogar aufgezogen. Er fragte sie, ob sie etwas wolle, aber Ginia erkundigte sich nur nach Guido.

»Wenn er nicht kommt, hat er Ausgangssperre«, antwortete Rodrigues. »Dann muss er in der Kaserne bleiben.«

»Ich gehe wieder«, dachte Ginia, wagte es aber nicht zu sagen, weil Rodrigues sie mit diesen Augen anstarrte und sonst gemerkt hätte, dass sie nur Guidos wegen gekommen war. Unentschlossen betrachtete sie das Zimmer, das in diesem Licht wirklich armselig wirkte, und die auf dem Boden herumliegenden Papiertüten und Zigarettenstummel und fragte Rodrigues, ob er jemanden erwarte.

»Ja«, sagte Rodrigues und hörte auf zu kauen.

Nicht einmal da war Ginia fähig zu gehen. Sie fragte ihn, ob er Amelia gesehen habe.

»Ihr lauft ja ständig hintereinanderher«, sagte Rodrigues und sah sie an. »Warum eigentlich? Ihr seid doch beide Frauen.«

»Warum?«, fragte Ginia zurück.

Rodrigues grinste höhnisch. »Warum? Das müsst ihr doch selber wissen. Aus Intuition. Macht man das nicht so unter Frauen?«

 

Da kämpfte Ginia einen Augenblick mit sich und sagte: »Hat Amelia mich gesucht?«

»Nicht nur das«, sagte Rodrigues. »Sie will dich sprechen.«

Der Vorhang hinten im Zimmer öffnete sich, und heraus trat Amelia. Ungestüm kam sie näher, und Rodrigues biss in sein Brot und lief dabei um den Tisch, als spielten sie Fangen. Amelia trug keinen Hut und blieb wütend, wie sie zu sein schien, lachend mitten im Raum stehen. Aber ihr Lachen klang ungut. Sie sagte: »Wir wussten nicht, dass du es bist.«

»Ah, ihr wart gerade beim Abendessen«, sagte Ginia trocken.

»Ein kleines intimes Essen«, sagte Rodrigues. »Aber zu dritt wird es noch intimer.«

»Du suchst Guido«, sagte Amelia.

»Ich wollte nur kurz vorbeischauen, aber Rosa wartet auf mich. Es ist schon spät.«

»Bleib da, du dummes Ding«, rief Amelia hinter ihr her, aber Ginia sagte: »Ich bin kein dummes Ding«, und rannte die Treppe hinunter.

Als sie um die Ecke bog, glaubte sie, allein zu sein, doch sie hörte, wie jemand mit hastigen kleinen Schritten hinter ihr hereilte. Es war Amelia, ohne Hut. »Warum läufst du weg? Du wirst doch Rodrigues nicht geglaubt haben?«

Ohne stehenzubleiben, sagte Ginia: »Lass mich in Ruhe.«

Sie verbrachte mehrere Tage mit Herzklopfen, als liefe sie noch immer davon. Wenn sie an die beiden da oben im Atelier dachte, ballte sie die Fäuste. An Guido wagte sie nicht zu denken und wusste nicht, wie sie es anstellen sollte, ihn wiederzusehen. Sie war überzeugt, dass sie auch ihn verloren hatte.

»Ich bin ein dummes Ding«, dachte Ginia zuletzt, »warum laufe ich dauernd davon? Ich habe immer noch nicht gelernt, allein zu sein. Sollen sie doch herkommen, wenn sie was von mir wollen.«

Von dem Tag an war sie gelassener, dachte ohne Aufregung an Guido und begann Severino zu beobachten, der zu Boden blickte, bevor er antwortete, wenn jemand etwas zu ihm sagte, und dem, der gesprochen hatte, niemals recht gab: Eher schwieg er. Er war gar nicht so dumm, obwohl er ein Mann war. Sie hatte sich bisher wie Rosa verhalten. Klar, dass die Leute mit ihr genauso umsprangen wie mit Rosa.

Sie ging nicht mehr ins Kino oder in das Tanzlokal, um die anderen zu suchen. Sie begnügte sich damit, ganz allein durch die Straßen zu wandern, gelegentlich bis ins Zentrum. Es war November, und an manchen Abenden nahm sie die Straßenbahn, stieg an den Bogengängen aus, drehte eine Runde und kehrte wieder heim. Immer hoffte sie, Guido zu begegnen, und blickte allen Soldaten unauffällig ins Gesicht. Nur aus Neugier wagte sie sich eines Abends mit klopfendem Herzen bis zu Amelias Café vor und sah undeutlich viele Leute, doch Amelia war nicht darunter.

Die Tage vergingen langsam, aber die Kälte half Ginia, zu Hause zu bleiben, und in all dem Trübsinn dachte sie, einen Sommer wie den letzten werde sie nie wieder erleben. »Ich war eine andere«, dachte sie, »ich kann unmöglich so verrückt gewesen sein. Nur durch ein Wunder habe ich das gut überstanden.« Dass es im nächsten Jahr wieder Sommer würde, kam ihr unglaublich vor. Und sie sah sich schon abends die Alleen entlanggehen, allein und mit geröteten Augen, von zu Hause zur Arbeit, von der Arbeit nach Hause, in der lauen Luft, wie ein Mädchen von dreißig Jahren. Am schlimmsten war, dass es ihr gar nicht mehr so viel Spaß machte wie früher, die halbe Stunde in der Dunkelheit auf dem Bett zu liegen. Auch wenn sie in der Küche hantierte, dachte sie an das Atelier, und ihr blieb immer Zeit, in die Luft zu schauen.

Später merkte sie, dass sie nicht mehr als vierzehn Tage auf diese Weise verbracht hatte. Immer wenn sie aus der Schneiderei kam, hoffte sie, an der Tür etwas Neues zu erfahren, und dass nie jemand dort stand und auf sie wartete, gab ihr das Gefühl, der Tag sei vergeudet, als sei es schon morgen, übermorgen und als warte sie auf etwas, das nie kommen würde. »Ich bin noch nicht einmal siebzehn«, dachte sie, »ich habe noch so viel Zeit.« Aber sie verstand nicht, warum Amelia, die ihr ohne Hut nachgelaufen war, sich nicht mehr blicken ließ. Vielleicht hatte sie nur Angst gehabt, sie würde reden.

Eines Nachmittags kam Signora Bice und sagte, sie werde am Telefon verlangt. »Es ist eine Frau mit Männerstimme«, sagte sie zu ihr. Es war Amelia. »Hör zu, Ginia, erzähl doch, Severino sei krank, und komm zu uns. Guido ist auch da. Wir essen zusammen zu Abend.« – »Und Severino?« – »Lauf nach Hause, koch ihm die Pasta und komm dann her. Wir warten auf dich.«

Ginia gehorchte, lief nach Hause und sagte zu Severino, sie esse mit Amelia zu Abend; sie kämmte sich und ging. Draußen regnete es. »Amelias Stimme klingt wirklich, als hätte sie die Schwindsucht, die Ärmste«, dachte sie.

Sie war entschlossen, falls Guido nicht da wäre, sofort wieder zu gehen. Amelia und Rodrigues zündeten im Halbdunkel einen Petroleumofen an. »Und Guido?«, fragte Ginia. Amelia erhob sich, wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn und deutete auf den Vorhang. Guido streckte den Kopf heraus und rief ihr »Ciao« zu, und daraufhin lächelte Ginia ihm zu. Der Tisch war ein Durcheinander von Papptellern und Vorräten. In dem Augenblick leuchtete an der Decke der kreisförmige Widerschein des Ofens auf. »Knipst das Licht an«, rief Guido. »Nein, wir bleiben so, ist doch schön«, sagte Amelia.

Warm war es nicht, und man musste den Mantel anbehalten. Ginia ging zum Waschbecken, den Vorhang beiseite schiebend, und fragte von dort laut: »Was feiern wir heute Abend?« – »Dich, wenn du willst«, erwiderte Guido leise, während er sich die Hände abtrocknete. »Warum bist du nicht mehr gekommen?«

»Ich bin gekommen, aber Sie waren nicht da«, flüsterte Ginia.

»Sag Du zu mir«, sagte Guido, »heute Abend duzen wir uns alle.«

»Hatten Sie Ausgangssperre?«

»Hattest du Ausgangssperre«, sagte Guido und strich ihr mit den Fingern übers Haar.

Da knipsten sie hinter ihnen das Licht an, und Ginia ließ den Vorhang fallen und betrachtete das Bild mit der Melone.

Mit dem Essen warteten sie, bis der Raum sich aufwärmte. So im Mantel, die Hände in den Taschen, kam man sich vor wie im Café. Rodrigues goss sich zu trinken ein und füllte noch drei weitere Gläser. »Fang nicht jetzt schon an«, sagte Amelia. Rodrigues erwiderte, irgendwann müsse man anfangen. Dann trugen sie den Tisch zum Sofa, vorsichtig, um nichts zu verschütten, und Ginia gelang es, sich neben Amelia aufs Sofa zu setzen.

Es gab Salami, Obst, Süßigkeiten und zwei Fiaschi. Ginia überlegte, ob das wohl die Feste waren, die Amelia früher mit Guido gefeiert hatte, und als sie ein Glas Wein getrunken hatte, fragte sie ihn danach. Lachend begannen die beiden, sich all das Theater zu erzählen, das sie dort drin schon veranstaltet hatten. Neiderfüllt hörte Ginia zu, ihr war, als sei sie zu spät geboren, und sie fand sich albern. Sie begriff, dass man mit Malern unbefangen umgehen musste, weil sie ein anderes Leben führten als die übrigen Menschen, denn sogar Rodrigues, der nicht malte, schwieg und kaute, und wenn er etwas sagte, so nur, um sich lustig zu machen. Verstohlen sah er Ginia boshaft an, und ihre ganze Wut darüber, dass Guido sich mit Amelia amüsiert hatte, richtete sich gegen ihn.

»Es ist gemein«, sagte sie weinerlich, »mir diese Sachen zu erzählen, bei denen ich nicht dabei war.«

»Aber heute Abend bist du dabei«, erwiderte Amelia, »also amüsier dich.«

Da bekam Ginia Lust, eine schreckliche Lust, mit Guido allein zu sein. Und doch wusste sie, dass sie diesen Mut nur hatte, weil Amelia neben ihr saß. Sonst wäre sie davongelaufen.

»Ich habe immer noch nicht gelernt, ruhig zu bleiben«, dachte sie. »Ich darf mich nicht verunsichern lassen.«

Dann zündeten sich die anderen Zigaretten an und gaben ihr auch eine. Ginia wollte nicht rauchen, aber Guido setzte sich neben sie, gab ihr Feuer und sagte, sie solle nicht einatmen. Die anderen beiden kämpften auf der Sofaecke miteinander.