Der schöne Sommer

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XII.

Als sie Guido am Abend, bevor er wegfuhr, zum letzten Mal traf, fühlte Ginia, dass Liebe machen, so wie es Guido gefiel, etwas zum Sterben war, und sie lag da wie betäubt, sodass Guido den Vorhang hob, um ihr Gesicht zu sehen, aber Ginia hielt seine Hände fest und wollte nicht. Als dann Rodrigues kam und Ginia fortging, während die beiden sich unterhielten, begriff sie, was es heißt, nicht verheiratet zu sein und nicht Tag und Nacht zusammen verbringen zu können. Verwirrt stieg sie die Treppe hinunter, und diesmal war sie überzeugt, nicht mehr sie selbst zu sein, und dass alle es merken würden. »Deshalb«, dachte sie, »ist Liebe machen verboten, das ist es.« Und sie fragte sich, ob auch Amelia, auch Rosa das durchgemacht hatten. In den Schaufenstern sah sie sich wie betrunken vorwärts gehen, spürte durch jenes verschwommene Bild, das wie ein Schatten vorüberglitt, dass sie eine andere war. Jetzt verstand sie, warum alle Schauspielerinnen so müde Augen hatten. Aber das konnte es nicht sein, wovon man schwanger wurde, denn Schauspielerinnen haben keine Kinder.

Kaum hatte Severino das Haus verlassen, schloss Ginia die Türe ab und zog sich vor dem Spiegel aus. Sie fand, sie war noch immer dieselbe, und es erschien ihr unmöglich. Sie fühlte sich, als sei ihre Haut vom Körper abgelöst, und wieder überliefen sie abklingende kühle Schauer. Aber sie hatte sich nicht verändert, sie war blass und weiß wie immer. »Wenn Guido hier wäre, könnte er mich sehen«, dachte sie rasch, »ich würde zulassen, dass er mich anschaut. Ich würde ihm sagen, dass ich jetzt wirklich eine Frau bin.«

Der Sonntag kam, und es war traurig, ihn ohne Guido zu verbringen. Amelia besuchte sie, und Ginia war glücklich, denn jetzt machte sie ihr keine Angst mehr. Nun, da sie Guido hatte, an den sie denken konnte, musste sie Amelia nicht mehr so ernst nehmen. Sie ließ sie reden und dachte unterdessen an ihr Geheimnis. Amelia, die Ärmste, war einsamer als sie.

Auch Amelia wusste nicht, wohin sie gehen könnten. Es war ein kurzer, kalter, neblig feuchter Nachmittag, der einem sogar die Lust nahm, das Fußballspiel auf dem Sportplatz anzusehen. Amelia bat sie um einen Kaffee und wollte zu Hause bleiben, auf dem Sofa liegen und plaudern. Aber Ginia setzte ihren Hut auf und sagte: »Komm. Ich will auf den Hügel gehen.«

Seltsamerweise ließ Amelia sich herumkommandieren: Sie war träge an jenem Tag. Sie nahmen die Straßenbahn, damit es schneller ging, und wussten nicht, warum. Ginia bestimmte, lief los und wählte den Weg, als hätte sie ein Ziel. Als sie die Steigung in Angriff nahmen, begann es zu nieseln, und Amelia jammerte und wollte umkehren. »Es ist nur Nebel«, sagte Ginia, »es ist nichts.« Sie wanderten inzwischen unter den Bäumen des Parks entlang, auf der einsamen Straße, wo es schien, als sei man aus der Welt, und wo man nur das Gluckern im Graben und hinter sich von ferne das Rattern einer Straßenbahn hörte. Hier atmete man eine feuchte Landluft, und es war gar nicht so kalt, sondern roch nach verfaultem Laub. Amelia wachte allmählich auf, und Arm in Arm trotteten sie über den Asphalt und sagten lachend, sie müssten wohl verrückt sein, denn nicht einmal Pärchen gingen bei einem solchen Wetter auf den Hügel.

Ein schönes Auto kam heran, überholte sie und verlangsamte die Fahrt. »So eins sollten wir haben«, sagte Amelia. Ein grauer Arm streckte sich aus dem Auto und machte ihnen Zeichen. »Darf ich Sie mitnehmen?«, fragte ein Gesicht mit Monokel, als sie in Hörweite waren. »Nehmen wir das Auto, Amelia?«, flüsterte Ginia lachend. »Lieber nicht«, sagte Amelia, »der bringt uns womöglich Gott weiß wohin und lässt uns dann stehen.«

Sie gingen weiter, und der Mann fuhr im Schritttempo hinterher, redete dummes Zeug und hupte. »Ich steige ein«, sagte Amelia, »das ist immer noch besser, als sich die Sohlen abzulaufen.«

»Kommt die kleine Blonde nicht mit?«, fragte der Mann, indem er heraussprang. Er war um die vierzig und sehr mager.

Sie nahmen Platz, Amelia in der Mitte und Ginia an die Tür gequetscht. Der magere Herr klemmte sich hinter das Steuer und legte Amelia als Erstes den Arm um die Schultern. Als Ginia diese knochige, dunkle Hand so nah an ihrem Ohr sah, dachte sie: »Wenn er mich anfasst, beiße ich ihn.« Aber sie fuhren sofort los, das Profil des Mannes, der eine hässliche Narbe an der Schläfe hatte, wandte sich aufmerksam der Straße zu, und Ginia überlegte, die Wange an die Scheibe gelehnt, wie schön es wäre, die sieben Tage, die Guido nicht da war, immerzu auf Reisen zu verbringen.

Doch es war bald vorbei. Das Auto bremste auf dem großen Platz und hielt an. Hier gab es keine schönen grünen Bäume mehr, sondern eine Leere voller Nebel und Telegrafendrähte. Der Hügelrücken sah aus wie ein kahler Berg. »Wollt ihr hier aussteigen?«, fragte der Herr und drehte sich um, ohne das Monokel fallen zu lassen.

Da sagte Ginia: »Geht ihr nur ins Café. Ich laufe zurück.«

Amelia blickte sie böse an. »Das ist idiotisch«, sagte der Mann. »Ich laufe«, wiederholte Ginia. »Ihr seid zu zweit und seid euch selbst genug.«

»Dummes Ding«, flüsterte Amelia ihr beim Aussteigen zu, »kapierst du nicht, dass der nicht redet, sondern zahlt?« Doch Ginia machte auf dem Absatz kehrt und rief: »Danke für alles. Bringen Sie meine Freundin gut nach Hause.«

Als sie an der Straße angelangt war, lauschte sie einen Augenblick, ob in der Stille des Nebels der Motor wieder ansprang. Dann lachte sie in sich hinein und machte sich auf den Weg bergab. »Oh, Guido, so verzeihst du mir«, dachte sie und betrachtete die Hänge, atmete die Kälte und den Geruch der Erde. Auch Guido war mitten auf dem kahlen Land, in seinen Hügeln. Vielleicht saß er zu Hause am Feuer und rauchte eine Zigarette, wie er es im Atelier machte, um sich aufzuwärmen. Da blieb Ginia stehen, denn plötzlich sah sie den Winkel hinter dem Vorhang vor sich, so geschützt und dunkel, als wäre sie dort. »Oh, Guido, komm zurück«, sagte sie und ballte die Fäuste in den Taschen.

Sie kam früh nach Hause, aber die noch feuchten Haare, die bespritzten Strümpfe und die Müdigkeit leisteten ihr Gesellschaft. Sie zog die Schuhe aus, legte sich auf das warme Bett und unterhielt sich mit Guido. Sie dachte an das schöne Auto, freute sich für Amelia und malte sich sogar aus, die Freundin habe diesen Herrn schon vorher gekannt.

Als Severino zurückkehrte, sagte sie ihm, sie sei es leid, in der Schneiderei zu arbeiten.

»Dann such dir was anderes«, sagte er friedlich. »Aber lass nicht mehr so oft das Essen ausfallen. Teil dir die Zeit besser ein.«

»Es gibt so viel zu tun.«

»Mama hat immer gesagt, du könntest auch gleich zu Hause bleiben. Bei dem, was du verdienst.«

Ginia sprang vom Sofa auf: »Dieses Jahr sind wir nicht auf den Friedhof gegangen.«

»Ich war allein dort«, sagte Severino. »Tu nicht so, du weißt es ganz genau.«

Doch Ginia hatte es nur so dahingesagt. Ohne das bisschen, das sie verdiente, hätte sie sich nichts mehr zum Anziehen leisten und keine Gummihandschuhe kaufen können, um beim Spülen die Hände zu schonen. Und für das Parfüm, den Hut, die Cremes, die Geschenke für Guido hätte sie kein Geld mehr gehabt, sondern wäre eine Arbeiterin gewesen wie Rosa. Was ihr fehlte, war Zeit. Sie brauchte eine Arbeit, die nur den Vormittag in Anspruch nahm.

Andererseits hatte eine Beschäftigung auch ihr Gutes. Was hätte sie an den Tagen ohne Guido getan, wenn sie mit ihren Gedanken hätte zu Hause sitzen oder den ganzen Tag draußen herumstreunen müssen? Sie hätte sich nur den Kopf zerbrochen. So dagegen kehrte sie am nächsten Morgen in die Schneiderei zurück, und der Tag ging vorbei. Sie lief nach Hause, kochte Severino ein schönes Abendessen und beschloss, ihn all die Tage gut zu behandeln, denn danach würden die Mahlzeiten tatsächlich ausfallen.

Amelia ließ sich nicht blicken. Mehrmals war Ginia am Abend versucht auszugehen, erinnerte sich aber, dass sie sich selbst versprochen hatte, es nicht zu tun, und hoffte, Amelia werde sie besuchen. Einmal kam Rosa vorbei, die sich ein Kleid nähen wollte, um ihr den Schnitt zu zeigen, und Ginia wusste kaum noch, worüber sie mit ihr reden sollte. Sie sprachen über Pino, aber Rosa sagte nicht, dass sie nun einen anderen hatte. Sie beklagte sich vielmehr, dass sie sich tödlich langweile, und erklärte: »Was willst du? Wenn eine heiratet, hat sie das Nachsehen.«

Ginia merkte, dass sie nicht mehr schlafen konnte, weil sie immerzu an Guido dachte, und wurde manchmal wütend, weil er nicht begriff, dass er wiederkommen musste. »Wer weiß, ob er Montag zurückkommt«, überlegte sie, »womöglich kommt er gar nicht.« Insbesondere hasste sie Luisa, die nur seine Schwester war und das Vergnügen hatte, ihn den ganzen Tag zu sehen. Eine solche Ungeduld erfasste sie, dass sie erwog, ins Atelier zu gehen, um von Rodrigues zu erfahren, ob Guido sein Wort hielt.

Stattdessen ging sie ins Café und traf Amelia. »Wie war es am Sonntag?«, fragte sie sie. Amelia, die rauchte, lächelte nicht einmal und erwiderte langsam: »Gut.« – »Hat er dich nach Hause gefahren?« – »Natürlich«, sagte Amelia.

Dann fragte sie: »Warum bist du weggelaufen?«

»War er beleidigt?«

»Ach was«, sagte Amelia und blickte sie starr an. »Er hat nur gesagt: Sehr witzig, die Kleine. Warum bist du weggelaufen?«

Ginia fühlte, wie sie errötete: »Hör zu, er war lächerlich mit diesem Monokel.«

»Dumme Gans«, sagte Amelia.

»Und Rodrigues?«

»Er ist gerade fort.«

Sie schlenderten zusammen nach Hause, und Amelia sagte: »Heute Abend besuche ich dich.«

An jenem Abend sprach keine davon, auszugehen. Als Ginia mit dem Abspülen fertig war, setzte sie sich auf den Rand des Sofas, auf dem Amelia sich ausgestreckt hatte.

 

Eine Weile schwiegen sie, dann flüsterte Amelia mit ihrer rauen Stimme: »Sehr witzig, die Kleine.« Ginia schüttelte den Kopf und blickte zur anderen Seite. Amelia streckte den Arm aus und berührte ihre Haare. »Lass mich«, sagte Ginia.

Mit einem tiefen Seufzer stützte sich Amelia auf den Ellbogen.

»Ich bin in dich verliebt«, sagte sie heiser. Da drehte Ginia sich ruckartig zu ihr um. »Aber ich kann dir keinen Kuss geben. Ich habe Syphilis.«

XIII.

»Weißt du, was das ist?«

Wortlos bejahte Ginia die Frage mit den Augen.

»Ich wusste es nämlich nicht.«

»Wer hat es dir gesagt?«

»Hörst du nicht, wie ich spreche?«, fragte Amelia mit erstickter Stimme.

»Kommt das nicht vom Rauchen?«

»Das dachte ich auch«, sagte Amelia. »Aber der gute Mann vom Sonntag war Arzt. Schau.« Sie riss sich die Bluse auf und holte eine Brust heraus. Ginia sagte: »Das glaube ich nicht.«

Die Brust zwischen den Fingern, hob Amelia den Blick und sah sie an: »Dann küss mich hier«, sagte sie langsam, »hier, wo die Entzündung ist.« Einen Moment lang starrten sie sich an, dann schloss Ginia die Augen und beugte sich über die Brust.

»O nein«, sagte Amelia, »ich hab’ dich ja schon einmal geküsst.«

Ginia merkte, dass sie schweißgebadet war, lächelte töricht und wurde feuerrot. Amelia schaute sie wortlos an.

»Siehst du, wie dumm du bist«, sagte sie schließlich, »ausgerechnet jetzt hast du mich gern, wo du in Guido verliebt bist und ich dir egal bin.« Mit ihrer mageren Hand knöpfte sie sich die Bluse zu. »Sei ehrlich, dir liegt doch nichts mehr an mir.«

Ginia wusste nicht, was sie sagen sollte, weil sie selbst nicht verstand, was sie da gerade hatte tun wollen. Doch dass Amelia sie ausschimpfte, freute sie, weil sie jetzt verstand, was die Aktzeichnungen, die Posen und ihr ganzes Gerede zu bedeuten hatten. Sie ließ Amelia ihr Herz ausschütten und fühlte sich die ganze Zeit elend, wie früher als Kind, wenn sie sich zum Baden auf dem Stuhl neben dem Ofen auszog.

Doch als Amelia sagte, man erkenne die Krankheit am Blut, erschrak Ginia. »Wie wird das gemacht?«, fragte sie.

Beim Erzählen war Amelia weniger verzweifelt, als wenn sie schwieg. Sie erklärte ihr, dass einem am Arm ein schwarzes Blut abgezapft werde, mit der Nadel. Sie sagte ihr, man müsse sich ausziehen und mehr als eine halbe Stunde in der Kälte sitzen. Der Arzt sei immerzu wütend gewesen und habe gedroht, sie ins Krankenhaus zu sperren.

»Das kann er doch nicht«, sagte Ginia.

»Du bist noch jung«, erwiderte Amelia. »Er kann mich sogar ins Gefängnis stecken, wenn er will. Du weißt nicht, was Syphilis ist.«

»Aber woher hast du die bloß?«

Amelia sah sie schief an. »Die holt man sich beim Liebemachen.«

»Einer von beiden muss sie schon haben.«

»Tja«, sagte Amelia.

Da erinnerte Ginia sich an Guido und wurde so blass, dass sie kein Wort mehr herausbrachte.

Amelia hatte sich aufgesetzt und hielt unter der Bluse die Brust mit der Hand umfasst. Sie starrte ins Leere, und so, ohne Schleier und verzweifelt, sah man deutlich, wie außer sich sie war. Ab und zu knirschte sie mit den Zähnen und zeigte das Zahnfleisch. Nicht einmal ihr Parfüm wirkte beruhigend.

»Du hättest Rodrigues sehen sollen«, sagte sie plötzlich mit ihrer Stimme. »Ausgerechnet er, der gesagt hat, dass man blind wird und an Geschwüren stirbt. Er ist kreidebleich geworden bis zum Hals.« Amelia schnitt eine Grimasse, als wollte sie ausspucken. »Es ist immer das Gleiche. Er hat nichts.«

Ginia fragte sie so hastig, ob das wirklich sicher sei, dass Amelia stutzte. »Nein, sei ganz ruhig, sie haben ihm Blut abgenommen. Nichtsnutze haben ein dickes Fell. Hast du Angst wegen Guido?«

Ginia versuchte zu lächeln und schlug die Augen nieder. Amelia schwieg, schwieg eine Ewigkeit, dann sagte sie schroff: »Guido hat mich nie angerührt, sei ganz ruhig.«

Da fühlte Ginia sich glücklich. So glücklich, dass sie Amelia die Hand auf die Schulter legte. Amelia verzog das Gesicht. »Hast du keine Angst, mich anzufassen?«, fragte sie. »Wir schlafen ja nicht miteinander«, stotterte Ginia.

Ihr Herzklopfen legte sich allmählich, während Amelia von Guido sprach. Sie erzählte, dass sie und Guido sich nicht einmal geküsst hätten, denn man könne ja nicht mit jedem schlafen, Guido gefalle ihr schon, aber warum er auch Ginia gefalle, verstehe sie nicht, da sie doch beide blond seien. Ginia spürte, wie ihr wieder ganz warm wurde, und genoss es, glücklich.

»Aber wenn Rodrigues nichts hat«, sagte sie, »heißt das doch, dass du auch nichts hast. Sie haben sich geirrt.«

Da sah Amelia sie von der Seite an: »Was glaubst du eigentlich? Dass er mich angesteckt hätte?«

»Ich weiß nicht«, sagte Ginia.

»Der hat doch mehr Angst als ein kleines Kind«, presste Amelia zwischen den Zähnen heraus. »Der nicht. Aber der Herrgott straft. Die, die mir das Geschenk gemacht hat, ist schlechter dran als ich. Sie weiß es nur noch nicht, und ich lasse sie blind werden.«

»Eine Frau ist es?«, fragte Ginia leise.

»Es ist über zwei Monate her. Dieses Zeichen ist ein Geschenk von ihr«, und sie berührte ihre Bluse.

Den ganzen Abend lang versuchte Ginia, sie zu trösten, gab aber acht, sich nicht berühren zu lassen, und machte sich Mut mit dem Gedanken, dass sie nur Arm in Arm gegangen waren, mehr nicht, und übrigens erklärte Amelia ihr auch, man müsse eine Verletzung haben, um sich anzustecken, denn die Infektion sei im Blut. Außerdem war Ginia sicher, wagte aber nicht, es zu sagen, dass so etwas eben passierte, wenn man solche Sünden beging wie Amelia. Doch hier hörte sie zu denken auf, denn dann müssten ja alle krank sein.

Als sie die Treppe hinunterstiegen, sagte sie vielmehr zu ihr, sie dürfe sich nicht an jener Frau rächen, denn wenn sie nichts davon wisse, habe sie auch keine Schuld. Doch Amelia blieb auf der Treppenstufe stehen und unterbrach sie: »Soll ich ihr etwa einen Blumenstrauß schicken?« Sie verabredeten, sich am nächsten Tag im Café zu treffen, und Ginia schaute ihr mit klopfendem Herzen nach, während sie sich entfernte.

Doch am nächsten Tag hielt Ginia es nicht mehr aus. Sie verließ das Haus eine Stunde früher, als die Straßenlaternen noch brannten, und lief zum Atelier. Sie traute sich nicht, gleich hinaufzugehen, weil Rodrigues noch schlief, sondern spazierte in der Kälte unten auf und ab, sodass es ihr vorkam, als wälze sie sich noch im Bett. Doch dann stieg sie zitternd hinauf und klopfte an die Tür.

Rodrigues öffnete ihr im Schlafanzug, sah sie mit trüben Augen an, hüpfte durchs Zimmer und setzte sich wieder auf den Bettrand. Alles war schmutzig und hell wie immer, und Ginia begann zu stottern, und Rodrigues kratzte sich an den Fußgelenken, bis sie ihn schließlich fragte, ob er zum Arzt gegangen sei. Danach zogen sie gemeinsam über Amelia her, und Ginia regte sich so auf, dass ihre Stimme zitterte, während sie zur Seite blickte, um seine hässlichen Füße nicht sehen zu müssen.

Dann sagte Rodrigues: »Ich gehe wieder ins Bett, mir ist kalt«, drehte sich um und zog die Decken über sich.

Als Ginia ihm bebend gestand, dass Amelia sie geküsst hatte, fing er, im dämmrigen Licht auf den Ellbogen gestützt, zu lachen an und sagte: »Also sind wir Kollegen. Nur ein Kuss?«

»Ja«, sagte Ginia, »ist das gefährlich?«

»Was für ein Kuss?«

Ginia verstand nicht. Da erklärte er es ihr, und Ginia schwor, es sei ein Kuss unter Mädchen gewesen.

»Dummheiten«, sagte Rodrigues, »sei ganz ruhig.«

Ginia stand vor dem Vorhang und bemerkte auf dem Tisch ein schmutziges Glas und Orangenschalen. »Wann kommt Guido zurück?«, fragte sie.

»Am Montag«, antwortete Rodrigues. »Siehst du? Das ist ein Stillleben«, und er deutete auf das Glas.

Ginia lächelte und wandte sich um.

»Setz dich, Ginia. Setz dich hier aufs Bett.«

»Ich muss mich beeilen«, sagte Ginia, »ich arbeite doch.«

Doch Rodrigues beklagte sich, dass sie ihn geweckt hatte und ihm jetzt nicht einmal Guten Morgen sagen wollte. »Um zu feiern, dass wir der Gefahr entronnen sind«, sagte er.

Da setzte sich Ginia auf die Bettkante, unter den weit geöffneten Vorhang. »Ich habe Angst um Amelia«, sagte sie. »Die Ärmste. Sie ist verzweifelt. Wird man wirklich blind?«

»Aber nein«, sagte Rodrigues, »man wird wieder gesund. Sie werden sie von allen Seiten zerstechen, werden ihr ein paar Stückchen Haut herausschneiden, und du wirst sehen, zuletzt geht dieser Arzt noch mit ihr ins Bett. Glaub mir.«

Ginia unterdrückte ein Lächeln, und Rodrigues fuhr fort: »Hat er euch auf den Hügel mitgenommen?«, und streichelte beim Sprechen ihre Hand, als wäre es der Rücken einer Katze.

»Was für kalte Hände«, sagte er dann, »warum kommst du nicht und wärmst sie dir?«

Ginia ließ sich auf den Hals küssen und sagte: »Nehmen Sie sich zusammen«, dann stand sie auf, über und über rot, und lief davon.

XIV.

Am Abend kam auch Rodrigues ins Café und setzte sich an den Nebentisch, auf Ginias Seite.

»Wie geht es mit der Stimme?«, fragte er, weder ernst noch lachend.

Ginia versuchte gerade, Amelia zu trösten und ihr zu erklären, dass man wieder gesund werden könne, war aber froh, nicht weiterreden zu müssen. Rodrigues und sie sahen einander kaum an.

Auch Amelia schwieg, und Ginia wollte schon nach der Uhrzeit fragen, als Rodrigues ironisch sagte: »Tüchtig, tüchtig, du verführst also auch minderjährige Mädchen.«

Amelia verstand nicht sofort, und Ginia schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, hörte sie Amelias drohende Stimme: »Was hat diese dumme Gans dir erzählt?«

Doch Rodrigues hatte Mitleid, denn er sagte: »Sie ist heute früh gekommen und hat mich geweckt, um mich zu fragen, wie es dir geht.«

»Sie hat wohl zu viel Zeit«, sagte Amelia.

Ginia bemühte sich in jenen Tagen, besonders gut zu sein, damit Guido wirklich zurückkäme, und besuchte auch Rodrigues wieder. Nicht mehr im Atelier, weil die Erinnerung sie abschreckte und Rodrigues außerdem ein Langschläfer war, sondern mittags in der Trattoria, in der er aß und in der auch Guido essen würde. Sie lag auf dem Weg, den die Straßenbahn nahm, und Ginia sah für einen Augenblick bei ihm vorbei, scherzte mit ihm und erkundigte sich, ob es Neuigkeiten gebe. Sie machte es wie Amelia und zog ihn auf. Aber Rodrigues hatte verstanden und rührte sie nicht mehr an. Sie verabredeten, dass sie am Sonntag ins Atelier kommen würde, um für Guido ein bisschen sauber zu machen. »Uns Syphilitikern«, sagte Rodrigues, »graut vor gar nichts.«

Amelia dagegen ging nicht mehr hin. Ginia verbrachte den Samstagnachmittag mit ihr und begleitete sie zu dem Arzt, der ihr die Spritzen gab. Sie blieben unentschlossen an der Tür stehen, und schließlich sagte Amelia: »Komm nicht mit hinauf, sonst findet er bei dir auch noch irgendeine Krankheit.« Dann sprang sie rasch die Stufen hoch und rief ihr noch »Ciao Ginia« zu, sodass Ginia, die vorher so fröhlich gewesen war, verzweifelt nach Hause zurückkehrte. Nicht einmal der Gedanke, dass Guido in einem Tag wieder da sein würde, konnte sie ausreichend trösten.

Auch der Sonntag verging wie im Traum. Ginia blieb den ganzen Nachmittag im Atelier und fegte, putzte, räumte auf. Rodrigues versuchte erst gar nicht, sie zu belästigen. Er half ihr, Berge von Papiertüten und Obstschalen wegzutragen. Dann klopften sie den Staub von den Büchern im Kamin ab und stellten sie in einer Reihe auf eine Kiste. Als sie die Pinsel auswuschen, hielt Ginia einen Augenblick entzückt inne: Der Terpentingeruch erinnerte sie an Guido, als stünde er neben ihr. Sie lächelte, weil Rodrigues nicht verstand.

»Er hat Glück, der Schweinehund«, sagte Rodrigues, als Ginia fertig war und mit dem Handtuch hinter dem Vorhang hervortrat. »Das hätte er nie erwartet.«

Dann tranken sie am Ofen Tee und blätterten einige Mappen von Guido durch, die sie unter den Büchern gefunden hatten, aber Ginia war enttäuscht, denn es waren nur Landschaften und der Kopf eines Alten. »Warte nur«, sagte Rodrigues, »ich weiß, was du suchst.«

Nach einer Weile begannen die Zeichnungen von Frauen. Sie sahen wie Modeskizzen aus. Ginia betrachtete sie belustigt, denn es war die Mode von vor zwei Jahren. Dann kamen weibliche Akte zum Vorschein. Dann kamen nackte Männer, und Ginia blätterte rasch um, weil Rodrigues, der an der Wand lehnte, sich vorbeugte. Zuletzt kam wieder eine angezogene Frau, ein Mädchen mit quadratischem, bäuerlichem Gesicht, Kopf und Schultern. »Wer ist das?«, fragte Ginia.

 

»Das wird seine Schwester sein«, sagte Rodrigues.

»Luisa?«

»Ich weiß nicht.«

Ginia studierte die großen Augen und den schmalen Mund. Sie ähnelte niemandem. »Sie ist schön«, sagte sie. »Sie hat nicht diesen verschlafenen Ausdruck, den ihr Maler sonst immer darstellt.«

»Sprich für ihn«, erwiderte Rodrigues, »ich habe nichts damit zu tun.«

Ginia war so froh, dass sie Rodrigues sogar erlaubt hätte, sie zu küssen, wenn er es nur gewusst hätte. Stattdessen kauerte er melancholisch auf dem Sofa, und wäre nicht durch die Scheiben noch ein wenig Licht gefallen, hätte Ginia sich vorgestellt, Guido säße neben ihr, und hätte ihn gestreichelt. Sie schloss die Augen, um es sich auszumalen.

»Wie schön es ist«, sagte sie laut.

Dann fragte sie Rodrigues noch einmal, ob er nicht die genaue Ankunftszeit am nächsten Tag wisse. Doch Rodrigues erwiderte, Guido komme möglicherweise mit dem Fahrrad zurück. Dann sprachen sie über Guidos Dorf, und ohne je dort gewesen zu sein, schilderte Rodrigues es ihr zum Spaß als eine Ansammlung von Schweine- und Hühnerställen, mit Straßen, die zu dieser Jahreszeit so aufgeweicht wären, dass man vielleicht gar nicht fortkommen konnte. Da zog Ginia einen Schmollmund und sagte, er solle aufhören.

Gemeinsam verließen sie das Atelier, und Rodrigues versprach, dass er keine Asche verstreuen werde. »Ich schlafe heute Nacht auf einer Parkbank. Ist dir das recht?« Sie traten lachend aus dem Haustor, und Ginia nahm die Straßenbahn und dachte an Amelia, an die Mädchen auf den Zeichnungen und verglich sich im Geist mit ihnen. Ihr war, als seien sie erst gestern auf dem Hügel gewesen, und jetzt kehrte Guido zurück.

Am nächsten Tag wachte sie niedergeschlagen auf. Im Handumdrehen war es Mittag. Sie hatte mit Rodrigues ausgemacht, dass sie sich, falls Guido kam, im Café treffen wollten. Auf Zehenspitzen schlich sie am Café vorbei und sah durch die Scheibe die beiden an der Theke stehen. Guido wirkte mager in seinem Regenmantel und stützte den Fuß auf die Stange. Wäre er allein gewesen, hätte Ginia ihn nicht erkannt. Da er den Regenmantel aufgeknöpft hatte, bemerkte sie, dass er eine graue Krawatte trug, nicht ihre. In Zivil sah Guido gar nicht mehr wie ein junger Bursche aus.

Er und Rodrigues unterhielten sich lachend. Ginia dachte: »Wäre doch Amelia da. Ich täte so, als wollte ich zu ihr.« Erst als sie sich in Erinnerung rief, dass sie ihm das Atelier geputzt hatte, konnte sie sich entschließen hineinzugehen.

Sie stand noch an der Tür, als Guido sie sah, und da trat sie auf ihn zu, als sei sie zufällig gekommen. Noch nie hatte Guido sie so eingeschüchtert wie in diesem Augenblick. Mitten zwischen all den Leuten streckte Guido ihr die Hand entgegen, während er, zu Rodrigues gewandt, weitersprach.

Sie sagten fast nichts zueinander. Guido hatte es eiliger als sie, weil jemand auf ihn wartete. Er ermunterte sie mit einem Lächeln, fragte: »Geht es dir gut?«, und rief, schon an der Tür: »Auf Wiedersehen!«

Töricht lächelnd lief Ginia zur Straßenbahn. Da nahm plötzlich jemand ihren Arm, und eine Stimme, Guidos Stimme, flüsterte ihr ins Ohr: »Ginetta!«

Sie blieben stehen, und Ginia hatte Tränen in den Augen. »Wo wolltest du hin?«, fragte Guido. – »Nach Hause.« – »Ohne mich zu begrüßen?« Guido drückte ihren Arm und sah sie mit seinen unwiderstehlichen Augen an. »Oh, Guido«, sagte Ginia, »ich habe so auf dich gewartet.«

Wortlos kehrten sie auf das Trottoir zurück, dann sagte Guido: »Geh jetzt nach Hause, und bitte nicht weinen, wenn du mich besuchen kommst.« – »Heute Abend?« – »Heute Abend.«

An jenem Abend wusch Ginia sich extra für Guido, bevor sie das Haus verließ. Sie fühlte, wie ihre Knie weich wurden, wenn sie an ihn dachte. Geplagt von tausend Ängsten stieg sie die Treppe hinauf. An der Tür zögerte sie, lauschte: Das Licht brannte, und niemand sprach. Da hustete sie, wie sie es schon einmal getan hatte, aber nichts rührte sich, und Ginia beschloss zu klopfen.

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