David Copperfield

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Ich glaube, ich hatte damals schon eine leise Ahnung von dem wahren Sinn dieser Unterhaltung. Heute weiß ich ganz gewiß, daß die gute Person das Gespräch nur veranlaßte, um meiner Mutter durch kleine Widersprüche eine gewisse Erleichterung zu verschaffen. Die Wirkung war sichtlich, denn wie ich mich noch erinnere, schien meine Mutter den ganzen übrigen Tag viel heiterer und Peggotty brauchte sie nicht mehr so sorgenvoll anzusehen.

Nachdem wir Tee getrunken, das Feuer geschürt und die Kerzen geputzt hatten, las ich Peggotty zur Erinnerung an alte Zeiten ein Kapitel aus dem Krokodilbuch vor, – sie hatte es aus der Tasche gezogen. Ob sie es immer darin getragen hatte? – Und dann sprachen wir von Salemhaus, was mich wieder auf Steerforth brachte, mein Lieblingsthema. Wir fühlten uns alle sehr glücklich, und dieser Abend, der letzte in seiner Art und bestimmt, diesen Band meines Lebens für immer zu schließen, wird nie aus meinem Gedächtnis entschwinden.

Es war fast zehn Uhr, als wir draußen einen Wagen halten hörten. Wir standen alle auf und meine Mutter sagte hastig, Mr. und Miß Murdstone sähen es gerne, wenn junge Leute früh zu Bett gingen, und es sei schon spät. Ich küßte sie und ging sogleich mit meiner Kerze hinauf. Mir war, als ob mit den beiden ein erkältender Lufthauch in das Haus käme und das alte, heimische, traute Gefühl wie eine Feder davonbliese.

Ich fühlte mich sehr unbehaglich am nächsten Morgen, als ich zum Frühstück hinuntergehen mußte. Hatte ich doch Mr. Murdstone seit jenem Tag, als ich das große Verbrechen an ihm begangen, nicht wieder gesehen. Aber einmal mußte es geschehen, und ich erreichte die Stubentür, nachdem ich zwei- bis dreimal auf den Fußspitzen wieder umgekehrt war. Endlich trat ich ins Zimmer.

Er stand mit dem Rücken zum Kamin, während Miß Murdstone den Tee bereitete. Er sah mich durchdringend an, als ich eintrat, gab aber kein Erkennungszeichen von sich. Nach einigen Augenblicken Verwirrung ging ich auf ihn zu und sagte: »Ich bitte Sie um Verzeihung, Sir. Was ich getan habe, tut mir außerordentlich leid, und ich hoffe, daß Sie es mir vergeben.«

»Es freut mich, daß es dir leid tut, David,« antwortete er.

Die Hand, die er mir reichte, war die, die ich gebissen hatte.

Ich konnte mir nicht helfen, ich mußte die rote Narbe eine Zeitlang ansehen. Aber sie war nicht so rot wie ich, als ich seinem falschen Blick begegnete.

»Wie befinden Sie sich, Maam,« sagte ich zu Miß Murdstone.

»Ach mein Gott!« seufzte Miß Murdstone und reichte mir den Teelöffel statt ihres Fingers. »Wie lang dauern die Ferien?«

»Einen Monat, Maam.«

»Von wann an?«

»Von heute an, Maam.«

»Na,« sagte Miß Murdstone. »Das wäre ja schon ein Tag weniger.«

Sie führte in dieser Art einen Ferienkalender und strich an jedem Morgen einen Tag. Anfangs schnitt sie ein trübes Gesicht, solange sie noch nicht beim zehnten war, aber ihre Mienen hellten sich auf, als die zweistelligen Zahlen erreicht waren, und wurden um so heiterer, je näher das Ende heranrückte.

Schon am ersten Tag hatte ich das Unglück, sie in einen Zustand größter Aufregung zu versetzen, trotzdem sie solchen Schwächen sonst nicht unterworfen war. Ich kam nämlich in das Zimmer, wo sie und meine Mutter saßen, und da der Säugling, der erst ein paar Wochen alt, auf meiner Mutter Schoß lag, nahm ich ihn höchst sorgsam in meine Arme.

Plötzlich stieß Miß Murdstone einen solchen Schrei aus, daß ich ihn fast hätte fallen lassen.

»Liebe Jane!« fuhr meine Mutter auf.

»Gott im Himmel, Klara! Siehst du nicht?« rief Miß Murdstone aus.

»Was denn, liebe Jane,« fragte meine Mutter. »Wo denn?«

»Er hat es!« rief Miß Murdstone. »Der Junge hat das Baby.«

Sie brach fast zusammen vor Entsetzen, richtete sich aber wieder auf, um auf mich loszustürzen und mir das Kind zu entreißen. Dann wurde ihr so schlecht, daß man ihr Kirschbranntwein geben mußte. Als sie sich wieder erholt hatte, untersagte sie mir auf das feierlichste, mein Brüderchen jemals wieder, unter welchem Vorwand immer, anzurühren, und meine Mutter bestätigte demütig das Verbot, trotzdem sie mir anderer Meinung schien, und sagte: »Du hast gewiß recht, liebe Jane.«

Wiederum bei einer Gelegenheit, als wir beisammen saßen, war das Baby – ich hatte es lieb meiner Mutter wegen – wieder die unschuldige Ursache, die Miß Murdstone in heftigste Erregung versetzte. Meine Mutter sagte nämlich, nachdem sie die Augen des Säuglings in ihrem Schoße lange betrachtet hatte: »Davy, komm einmal her und laß mich deine Augen sehen.«

Ich bemerkte, wie Miß Murdstone ihre Stahlperlen hinlegte.

»Also ich erkläre,« sagte meine Mutter sanft, »daß sie vollkommen gleich sind. Ich glaube, es sind meine Augen. Sie haben dieselbe Farbe wie meine. Sie sind einander wunderbar gleich.«

»Wovon sprichst du, Klara?« fragte Miß Murdstone.

»Liebe Jane,« stammelte meine Mutter bestürzt durch den herben Ton dieser Frage, »ich finde, daß das Baby und Davy ganz dieselben Augen haben.«

»Klara,« sagte Miß Murdstone und stand zornig auf. »Manchmal bist du ganz verrückt.«

»Aber liebe Jane,« remonstrierte meine Mutter.

»Vollständig verrückt,« sagte Miß Murdstone. »Wie könntest du sonst meines Bruders Kind mit deinem Jungen vergleichen. Sie sind einander gar nicht ähnlich. Sie sind einander vollständig unähnlich. Unähnlich in jeder Hinsicht. Ich hoffe, sie werden es immer bleiben. Ich kann solche Vergleiche nicht ruhig mitanhören.« Damit stolzierte sie hinaus und pfefferte die Tür hinter sich zu.

Mit einem Wort, ich stand mit Miß Murdstone nicht auf gutem Fuß. Überhaupt mit niemand, nicht einmal mit mir selbst. Die mich lieb hatten, durften es nicht zeigen, und die mich nicht leiden konnten, zeigten es so deutlich, daß ich mich von dem immerwährenden Bewußtsein, duckmäuserisch, ungeschickt und mürrisch zu erscheinen, nicht befreien konnte.

Ich fühlte, daß ich ihnen so zur Last fiel, wie sie mir. Wenn ich in das Zimmer kam, wo sie gerade saßen und miteinander sprachen, und meine Mutter schien heiter zu sein, umwölkte sich sofort ihr Gesicht. War Mr. Murdstone in seiner besten Laune, so kam ich als Störenfried. Und Miß Murdstones schlechteste steigerte ich noch. Ich bemerkte ganz gut, daß meine Mutter immer das Opfer war. Sie fürchtete sich, mit mir zu sprechen oder freundlich mit mir zu sein, um sich dadurch nicht einen Verweis zuzuziehen. Hauptsächlich aber nicht ihretwegen, sondern um mich bangte ihr. Und ängstlich bewachte sie die Blicke der Murdstones, wenn ich mich nur rührte. Deshalb beschloß ich, allen möglichst aus dem Wege zu gehen, und saß manche kalte Winterstunde in meinem einsamen Schlafzimmer und brütete, in meinen kleinen Überrock gehüllt, über einem Buch.

Des Abends leistete ich zuweilen Peggotty in der Küche Gesellschaft. Dort fühlte ich mich wohl und brauchte mich nicht zu genieren. Aber das fand im Wohnzimmer keine Billigung. Die dort herrschende Quälerlaune machte all dem bald ein Ende. Man hielt mich immer noch für ein unentbehrliches Hilfsmittel zur Erziehung meiner armen Mutter und konnte meine Anwesenheit nicht missen.

»David,« sagte Mr. Murdstone eines Tags nach dem Abendessen, als ich mich wieder drücken wollte, »ich bemerke zu meinem Leidwesen, daß du mürrischer Gemütsart bist.«

»Mürrisch wie ein Bär,« sagte Miß Murdstone.

Ich blieb stehen und ließ den Kopf hängen. »Ein mürrischer und verstockter Charakter, David,« sagte Mr. Murdstone, »ist das allerschlimmste.«

»Und der Junge ist das verstockteste, was ich jemals gesehen habe,« bemerkte seine Schwester. »Ich glaube, selbst du, liebe Klara, mußt es bemerken.«

»Ich bitte um Entschuldigung, liebe Jane,« sagte meine Mutter, »aber bist du auch wirklich sicher, – du wirst es gewiß entschuldigen, liebe Jane, – bist du sicher, daß du Davy verstehst.«

»Ich müßte mich wirklich schämen, Klara, wenn ich den oder jeden andern Knaben nicht verstünde,« antwortete Miß Murdstone. »Ich behaupte gewiß nicht, sehr tief zu sein, aber auf gesunden Menschenverstand kann ich doch Anspruch machen.«

»Gewiß, liebe Jane,« antwortete meine Mutter, »bist du von sehr starkem Verstande.«

»O Gott, nein, bitte, sag das nicht, Klara,« unterbrach Miß Murdstone ärgerlich.

»Aber ich weiß, daß es der Fall ist,« fing meine Mutter wieder an, »und jeder weiß es. Ich selbst habe so mancherlei großen Nutzen davon, – oder sollte es wenigstens haben –, daß niemand mehr davon überzeugt sein kann, als ich, und deshalb äußere ich meine Meinung auch nur sehr schüchtern, meine liebe Jane, ich versichere es dir.«

»Also gut, ich verstehe den Jungen nicht, Klara,« sagte Miß Murdstone und ordnete die kleinen Fesseln an ihren Handgelenken. »Gut, wenn du willst, ich verstehe ihn also gar nicht. Er ist viel zu tief für mich. Aber vielleicht ist der Scharfblick meines Bruders durchdringend genug, Einsicht in diesen Charakter zu gewinnen. Und ich glaube, mein Bruder sprach gerade über dieses Thema, als wir ihn unschicklicherweise unterbrachen.«

»Ich glaube, Klara,« fiel Mr. Murdstone mit ernster Baßstimme ein, »es gibt bessere und unbefangenere Richter in dieser Frage als du bist.«

»Edward,« antwortete meine Mutter unterwürfig, »du bist natürlich in allen Fragen ein besserer Richter als ich und auch als Jane. Ich sagte nur –«

»Du sagtest nur etwas Schwaches und Unüberlegtes,« antwortete er. »Tue es nicht wieder, liebe Klara, und halte dich besser im Zaum.«

Die Lippen meiner Mutter bewegten sich, als ob sie antworteten: »Ja, lieber Edward.«

»Ich habe zu meinem Leidwesen bemerkt, David,« nahm Mr. Murdstone seine Rede wieder auf, »daß du von verstockter Gemütsart bist. Ich werde nicht ruhig zusehen, ohne nicht den Versuch zu machen, dich zu bessern. Du mußt dich anstrengen, anders zu werden, David. Wir müssen uns bemühen, dich anders zu machen.«

 

»Ich bitte um Entschuldigung, Sir,« stotterte ich, »ich glaube nicht, verstockt gewesen zu sein seit meiner Rückkehr.«

»Nimm deine Zuflucht nicht zur Lüge,« herrschte er mich so wild an, daß meine Mutter unwillkürlich ihre zitternde Hand ausstreckte, um mich zu schützen. »Du ziehst dich in deiner Verstocktheit auf dein eignes Zimmer zurück, du bleibst in deinem Zimmer, wenn du hier sein solltest. Ich sage es dir jetzt ein für allemal, daß ich dich hier und nicht dort zu sehen wünsche. Ferner, daß ich Gehorsam von dir verlange. Du kennst mich, David, ich will es.«

Miß Murdstone lachte spitzig auf.

»Ich will ein achtungsvolles, gehorsames und bereitwilliges Benehmen gegen mich, gegen Jane Murdstone und gegen deine Mutter sehen. Ich will nicht haben, daß ein Kind nach seinem Belieben dieses Zimmer scheut, als sei es verpestet. Setz dich.«

Er befahl mir wie einem Hund, und ich gehorchte wie ein Hund.

»Noch eins,« sagte er. »Ich bemerke, daß du einen Hang zu niedriger und gemeiner Gesellschaft zeigst. Du hast nicht mit Dienstboten umzugehen. In der Küche wirst du von den vielen Dingen, die dir noch fehlen, nichts lernen. Von dem Weib, das dir Vorschub leistet, schweige ich, da du selbst, Klara,« – er wandte sich etwas leiser zu meiner Mutter – »aus alter Erinnerung und langer Gewohnheit in bezug auf sie eine Schwäche an den Tag legst, die noch nicht überwunden ist.«

»Eine ganz unerklärliche Verblendung!« rief Miß Murdstone.

»Ich sage also,« fuhr er wieder zu mir gewendet fort, »daß ich es mißbillige, wenn du eine Gesellschaft wie Frau Peggotty vorziehst, und daß du sie daher aufzugeben hast. Jetzt verstehst du mich, David, und kennst die Folgen, die dir blühen, wenn du mir nicht wortwörtlich gehorchst.«

Ich zog mich also nicht mehr auf mein Zimmer zurück, suchte nicht mehr meine Zuflucht bei Peggotty und saß traurig Tag für Tag in der Wohnstube und sehnte mich nach der Nacht und dem Schlafengehen.

Unter welch peinlichem Zwang hatte ich zu leiden, wenn ich in derselben Stellung stundenlang dasitzen mußte und aus Angst nicht Arm oder Fuß rührte, damit nicht Miß Murdstone immerwährend über mein unruhiges Wesen klagte; ich sah vor mich hin, um nicht einem Blick der Abneigung oder des Forschens zu begegnen und neuen Stoff zur Beschwerde zu geben. Welch unerträgliche Langeweile, dem Ticken der Uhr zuzuhören, zu sehen, wie Miß Murdstone die kleinen, glänzenden Stahlperlen aufreihte, – sich den Kopf zu zerbrechen, ob sie wohl jemals heiraten würde, und wenn, was für einen Unglücklichen wohl, – die Furchen im Kamin zu zählen und dann mit den Augen durch die labyrinthischen Verschlingungen der Tapete hinauf zur Decke zu schweifen.

Wie einsam waren meine Spaziergänge durch die schmutzigen Gassen bei dem schlechten Winterwetter. Ich schleppte das Bild des Wohnzimmers mit Mr. und Miß Murdstone darin in meinem Innern überall hin und mit mir herum: Eine ungeheure Last, die ich da trug, ein Alpdruck bei Tage, den ich nicht zu verscheuchen vermochte, ein Gewicht auf meinem Geist, das mich stumpf machte. Wie vielmal saß ich am Speisetisch stumm und verlegen da, immer mit dem Gefühl, daß ein Besteck zu viel da sei, und zwar das meine, ein Magen zu viel, nämlich der meine, ein Teller und ein Stuhl zu viel, und zwar der meine, und eine Person zu viel, nämlich ich.

Was waren das für Abende, wenn die Kerzen kamen, und ich mich beschäftigen mußte, und weil ich nicht wagte, ein unterhaltendes Buch zu lesen, mich über einen hartköpfigen und noch hartherzigeren arithmetischen Leitfaden hermachte. Maß- und Gewichtstabellen paßten sich Melodien an, wie »Rule Britannia« und »Weg mit den Grillen und Sorgen«, und gingen mir durch ein Ohr herein und aus dem andern wieder hinaus.

Oft konnte ich das Gähnen nicht mehr verbeißen und nickte trotz aller Vorsicht ein. Wie erschreckt fuhr ich dann aus dem heimlichen Schlummer wieder auf. Nur selten versuchte ich schüchterne Bemerkungen und erhielt niemals eine Antwort. Wie sehr kam ich mir wie eine Null vor, die niemand beachtete und die doch jedem im Weg stand, und immer war es mir eine Art Trost, wenn mir Miß Murdstone beim ersten Schlag Neunuhr befahl, zu Bett zu gehen.

So schleppten sich die Ferien hin bis zu dem Morgen, wo Miß Murdstone sagte: »heute ist der letzte Tag um,« und mir für die Ferien die letzte Tasse Tee gab.

Der Abschied fiel mir nicht schwer. Ich war in einen Zustand von Stumpfheit verfallen, aus dem mir nur die Hoffnung auf Steerforth ein wenig heraushalf, wenn auch Mr. Creakle hinter ihm dräute. Wieder erschien Mr. Barkis an der Gartentür und wieder sprach Miß Murdstones warnende Stimme: »Klara!« als sich meine Mutter über mich beugte, um mir Lebewohl zu sagen.

Ich küßte meine Mutter und mein kleines Brüderchen und war sehr traurig. Nicht so sehr die Umarmung, die inbrünstiger war als sie sein durfte, lebt in meiner Erinnerung fort als das, was jetzt folgte.

Ich saß schon im Wagen, als meine Mutter mich noch einmal rief. Ich sah hinaus, und sie stand in der Gartentür allein und hielt den Säugling empor, um ihn mir zu zeigen. Die Luft war kalt und still und kein Haar auf ihrem Haupte, keine Falte ihres Kleides regte sich, als sie mich beredt ansah und ihr Kind in die Höhe hielt.

So verlor ich sie. So sah ich sie später in meinen Träumen in der Schule, – ein stumme Gestalt vor meinem Bett immer mit demselben beredten Gesicht und dem Säugling in den Armen.

Neuntes Kapitel

Ich übergehe alles, was sich in der Schule abspielte bis zu meinem Geburtstag im März. Außer daß Steerforth noch bewunderungswürdiger war als je, ist mir nichts im Gedächtnis geblieben. Er sollte am Ende des Semesters austreten und kam mir lebhafter und selbstständiger vor als je, und daher noch gewinnender. Sonst weiß ich nichts mehr. Das große Ereignis, das diese Zeit für mich auszeichnet, scheint alle kleinen Erinnerungen verschlungen zu haben und allein übrig geblieben zu sein. Wie klar ich mich an den Tag erinnere! Ich rieche den Nebel, der das Haus umdunkelt, sehe die Gegenstände draußen wie gespenstische Schatten hindurchschimmern, ich fühle mein bereiftes Haar sich kalt und feucht an meine Wange kleben, ich blicke in die dämmerhafte Perspektive der Schulstube hinab, wo hie und da ein flackerndes Licht das trübe Zwielicht erleuchtet und der Atem der Schüler sich dampfend in die kalte Luft erhebt, wenn sie sich auf die Finger blasen, mit den Füßen auf dem Flur stampfend.

Wir waren nach dem Frühstück eben vom Spielplatz hereingekommen, als Mr. Sharp eintrat und sagte:

»David Copperfield soll zum Direktor kommen.«

Ich erwartete ein Geburtstagsgeschenk von Peggotty und mein Gesicht heiterte sich auf.

Einige Jungen um mich herum mahnten mich, ihrer bei der Verteilung der guten Dinge nicht zu vergessen, als ich sehr vergnügt von meinem Platze aufsprang.

»Eil dich nicht, David,« sagte Mr. Sharp. »Du hast Zeit genug, mein Kind. Eil dich nicht.«

Der warme Ton, mit dem er sprach, hätte mir auffallen müssen, aber ich achtete nicht darauf.

Ich eilte in das Wohnzimmer und sah dort Mr. Creakle beim Frühstück sitzen, Rohrstock und eine Zeitung neben sich. Er hielt einen offnen Brief in der Hand. Ein Geburtstagskorb war nicht da.

»David Copperfield,« sagte Mrs. Creakle und führte mich zum Sofa und setzte sich neben mich. »Ich habe etwas Besonderes mit dir zu reden. Ich habe dir etwas mitzuteilen, mein Kind.«

Mr. Creakle, zu dem ich natürlich hinschielte, schüttelte nur den Kopf, ohne mich anzusehen, und verschluckte einen Seufzer mit einem großen Stück Butterbrot.

»Du bist noch zu jung, um zu wissen, wie die Welt sich mit jedem Tag verändert,« sagte Mrs. Creakle, »und wie die Menschen dahingehen, aber wir alle müssen daran glauben, David, manche von uns in der Jugend, manche im Alter. Manche haben es das ganze Leben vor Augen.«

Ich sah sie mit Spannung an.

»Befanden sich alle wohl, als du nach den Ferien von Hause wegreistest?« fragte Mrs. Creakle nach einer Pause. »War Deine Mama wohl?«

Ich zitterte, ohne recht zu wissen warum, sah sie immer noch mit großem Ernste an, konnte aber nicht antworten. Sie fuhr fort:

»Weil ich dir zu meinem größten Kummer sagen muß, daß deine Mutter sehr krank ist, wie ich heute morgen erfuhr.«

Ein Nebel bildete sich zwischen Mrs. Creakle und mir, und ihre Gestalt schien einen Augenblick zu schwanken. Dann stürzten mir die brennenden Tränen aus den Augen und ich sah sie wieder deutlich neben mir sitzen.

»Sie ist sehr gefährlich krank.« – – –

Jetzt wußte ich alles.

»Sie ist gestorben.«

Sie hätte es nicht auszusprechen brauchen. Ich hatte bereits einen verzweifelten Schmerzensschrei ausgestoßen und begriff, daß ich eine Waise war in der weiten Welt.

Mrs. Creakle benahm sich sehr gütig zu mir.

Sie behielt mich den ganzen Tag bei sich im Zim mer und ließ mich nur manchmal allein. Und ich weinte, bis ich vor Erschöpfung einschlief, und wachte auf und jammerte wieder. Als ich nicht mehr weinen konnte, fing ich an zu grübeln. Da wurde mir die Brust noch enger und mein Gram schwoll zu einem dumpfen Schmerz an, für den es keine Linderung gab.

Und doch flatterten meine Gedanken herum und blieben nicht fest an dem Unglück haften, das mich niederdrückte. Ich dachte an unser Haus, wie es nun verschlossen und öde wäre. Ich dachte an das kleine Kindchen, das, wie Mrs. Creakle sagte, seit einiger Zeit hinsiechte und wie man fürchte, wohl auch sterben würde. Ich dachte an meines Vaters Grab auf dem Kirchhof neben unserm Hause, und daß meine Mutter jetzt auch bald unter dem mir so bekannten Baume ruhen werde. Ich stellte mich auf den Stuhl, als man mich allein gelassen, und blickte in den Spiegel, um zu sehen, wie rot meine Augen und bekümmert meine Züge seien. Ich fragte mich nach einigen Stunden, ob meine Tränen wirklich versiegt wären, wie es der Fall zu sein schien. Das schmerzte mich außer meinem Verlust am meisten, wenn ich an das Nachhausegehen dachte; – sollte ich doch dem Leichenbegängnis beiwohnen.

Dann hatte ich die Empfindung, als ob mich etwas von den übrigen Knaben auszeichne, und daß ich in meiner Betrübnis eine wichtige Person sei.

Wenn jemals ein Kind einen aufrichtigen Schmerz fühlte, so war ich es, aber ich erinnere mich, daß diese Wichtigkeit mir eine Art Trost gewährte, als ich nachmittags während der Schulstunden allein auf dem Spielplatz herumging. Wenn die Schüler aus dem Fenster nach mir herunterblickten, fühlte ich mich ausgezeichnet und sah noch gramvoller drein und ging langsamer. Als die Schule aus war und sie herauskamen und mich anredeten, rechnete ich es mir wie Güte an, daß ich mich nicht stolz gegen sie benahm und sie alle ebenso sehr beachtete, wie früher.

Ich sollte am nächsten Abend nach Hause fahren, aber nicht mit der Nachtpost, sondern mit der gewöhnlichen Postkutsche, die man den Landwagen nannte, weil sie meist von Bauern benutzt wurde, die nur kurze Strecken reisten. Das Geschichtenerzählen unterblieb für diesen Abend, und Traddles bestand darauf, mir sein Kissen zu leihen. Ich begriff nicht, was es mir helfen sollte. Aber der arme Kerl hatte sonst nichts herzugeben, außer einen Bogen Papier voll Gerippen, den er mir zum Abschied als Tröster für meinen Schmerz und zum Wiederherstellen meines Seelenfriedens schenkte.

Ich verließ Salemhaus nachmittags und ahnte nicht, daß ich nicht wieder zurückkehren sollte. Wir fuhren die ganze Nacht hindurch sehr langsam und erreichten Yarmouth erst um zehn Uhr morgens. Ich schaute nach Mr. Barkis aus, aber er war nicht da, und an seiner Stelle erschien am Kutschenfenster ein dicker, kurzatmiger, fröhlich aussehender kleiner alter Mann in schwarzem Anzug, mit fadenscheinigen schwarzen Schleifen an den Kniehosen und einem breitkrempigen Hut und sagte:

»Master Copperfield?«

»Ja, Sir.«

»Wenn Sie mit mir kommen wollen, junger Herr,« und er öffnete die Tür, »so werde ich das Vergnügen haben, Sie heim zu bringen.«

Ich gab ihm meine Hand und hätte gern gewußt, wer er wäre. Dann gingen wir in einen Laden in einer engen Gasse, über dem geschrieben stand: Omer, Tuchhändler, Schneider, Hutmacher, Leichenbesorger usw. Es war ein kleiner, dumpfer Laden, voll von fertigen und halbfertigen Kleidern aller Art; am Fenster hingen Filzhüte und Mützen. Wir traten in ein kleines Stübchen hinten, wo drei junge Mädchen eine große Menge schwarzen Stoffes verarbeiteten, der über den ganzen Tisch ausgebreitet war, während kleine Schnitzel davon auf dem ganzen Fußboden verstreut lagen. Es brannte ein starkes Feuer im Ofen und ein erstickender Geruch von warmem schwarzem Krepp erfüllte die Luft.

 

Die drei Mädchen, die sehr munter und fleißig zu sein schienen, hoben einen Augenblick ihre Köpfe und nähten dann weiter. Gleichzeitig tönte aus einem Arbeitsschuppen auf einem kleinen Hof vor dem Fenster ein taktmäßiges Hämmern herein; rat-tat-tat, rat-tat-tat, rat-tat-tat, – ohne Unterbrechung.

»Nun,« sagte mein Führer zu einem der drei Mädchen. »Wie weit bist du, Minnie?«

»Wir werden schon rechtzeitig zum Anprobieren fertig sein,« antwortete die Gefragte munter, ohne aufzublicken. »Hab keine Angst, Vater.«

Mr. Omer nahm den breitkrempigen Hut ab, setzte sich nieder und keuchte. Er war so dick, daß er einige Zeit brauchte, ehe er sagen konnte: »Da bin ich froh.«

»Vater,« sagte Minnie lustig, »du wirst dick wie eine Robbe.«

»Ich weiß auch nicht, wies kommt, aber es ist so.«

»Du bist zu bequem, da siehst dus. Du nimmst die Dinge zu leicht.«

»Es hat keinen Zweck, sie anders zu nehmen, mein Herz,« meinte Mr. Omer.

»Nein, wahrhaftig nicht,« gab seine Tochter zur Antwort. »Wir sind alle fröhlich hier, Gott sei Dank, nicht wahr, Vater?«

»Hoffentlich, mein Kind. Da ich jetzt wieder Luft gekriegt habe, will ich diesem jungen Gelehrten Maß nehmen. Wollen Sie so gut sein und mit mir in den Laden kommen, Master Copperfield?«

Ich ging vor Mr. Omer her; nachdem er mir ein Stück Tuch gezeigt hatte, das, wie er sagte, extra superfein sei und für alles andere als für Trauer um Eltern zu fein wäre, nahm er mir Maß und schrieb es in ein Buch.

Während er die Zahlen notierte, wies er auf sein Warenlager und auf gewisse Moden, die eben »aufgekommen« und andere, die wieder »abgekommen« waren.

»Und dabei verlieren wir oft viel Geld,« sagte er. »Die Moden sind wie die Menschen, sie kommen und gehen und niemand weiß, wann, warum und wieso. Meiner Meinung nach ist alles wie das Leben, wenn man es von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet.«

Mir war viel zu kummervoll zumute, als daß ich mich auf das Gespräch, das wohl auch unter andern Umständen über mein Begriffsvermögen gegangen wäre, hätte einlassen können. Mr. Omer führte mich wieder keuchend zurück in die Stube. Dann rief er eine kleine Treppe hinab: »Bringt den Tee herauf und Butterbrot,« was nach einiger Zeit, währenddessen ich mich umgeschaut und nachgegrübelt, dem Nähen in der Stube zugesehen und dem Hämmern im Hof draußen zugehört hatte, auf einem Präsentierbrett erschien und für mich bestimmt war.

»Ich kenne Sie schon lange, mein junger Freund,« sagte Mr. Omer, während er mir beim Frühstück zusah, von dem ich nur wenig genießen konnte, weil mir die schwarze Umgebung jeden Appetit benahm.

»Wirklich, Sir?«

»Seit Sie auf der Welt sind, fast noch länger. Ich kannte doch Ihren Vater. Er war fünf Fuß neuneinhalb Zoll hoch und liegt fünfundzwanzig Fuß tief in der Erde.«

»Rat-tat-tat, rat-tat-tat, rat-tat-tat,« klang es draußen im Hofe.

»Er liegt fünfundzwanzig Fuß tief in der Erde,« sagte Mr. Omer aufgeräumt. »Entweder auf sein oder auf ihr Verlangen, ich weiß es nicht mehr genau.«

»Wissen Sie, was mein kleiner Bruder macht, Sir?« fragte ich.

Mr. Omer schüttelte den Kopf.

Rat-tat-tat, rat-tat-tat, rat-tat-tat.

»Er liegt in seiner Mutter Armen,« sagte er endlich.

»Ach armer, kleiner Junge, ist er tot?«

»Grämen Sie sich nicht mehr, als Sie müssen,« sagte Mr. Omer. »Das Kind ist tot.«

Meine Wunde brach von neuem auf. Ich schob das kaum berührte Frühstück zurück, stand auf und legte den Kopf auf den andern Tisch in einer Ecke des kleinen Zimmers. Minnie räumte hastig auf, damit ich die Trauersachen nicht mit meinen Tränen benetze. Sie schien ein hübsches, gutherziges Mädchen zu sein und strich mir mit sanfter freundlicher Hand das Haar aus dem Gesicht, aber sehr heiter, weil sie fast mit ihrer Arbeit fertig war, und so ganz anders als ich.

Jetzt hörte das Hämmern auf, und ein junger, hübscher Bursche kam über den Hof ins Zimmer. Er hatte einen Hammer in der Hand und den Mund voll kleiner Nägel, die er herausnehmen mußte, ehe er reden konnte.

»Nun, Joram,« sagte Mr. Omer, »bist du auch fertig?«

»Allright,« sagte Joram, »fertig, Sir.«

Minnie wurde ein wenig rot, und die andern beiden Mädchen lächelten.

»Du hast also gestern bei Licht gearbeitet, was? Als ich im Klub war, nicht wahr?« fragte Mr. Omer und kniff ein Auge zu.

»Ja,« nickte Joram. »Da Sie sagten, wir wollten einen kleinen Ausflug machen und zusammen hinüberfahren, wenn wir fertig würden, Minnie und ich und Sie – –«

»So! Ich dachte schon, du wolltest mich ganz weglassen,« sagte Mr. Omer und lachte, bis er husten mußte.

»– da Sie so gut waren, das zu sagen,« fuhr der junge Mann fort, »hab ich mich eben ordentlich dazu gehalten. Wollen Sie sichs einmal ansehen?«

»Ja,« sagte Mr. Omer und stand auf. »Master,« und er wandte sich an mich. »Wollen Sie vielleicht Ihrer –«

»Nein Vater,« unterbrach ihn Minnie.

»Ich dachte, es wäre ihm vielleicht angenehm,« sagte Mr. Omer, »aber du hast ganz recht, mein Schatz.«

Ich weiß nicht, wieso ich erriet, daß er sich meiner lieben Mutter Sarg ansehen wollte. Ich hatte noch nie einen zimmern hören, aber ich begriff langsam, was das Hämmern von vorhin bedeutete; und als der junge Mann wieder eintrat, wußte ich ganz bestimmt, woran er gearbeitet hatte.

Da die Arbeit jetzt fertig war, bürsteten die beiden andern Mädchen die Schnitzel und Fäden von ihren Kleidern und gingen in den Laden hinaus, um aufzuräumen und auf Kunden zu warten.

Minnie blieb zurück, um die fertig gewordne Arbeit zusammenzufalten und in zwei Körbe zu packen. Sie kniete dabei und summte ein munteres Lied. Joram, in dem ich ohne Mühe ihren Geliebten erkannte, kam herein und raubte ihr einen Kuß und sagte, ihr Vater sei nach dem Wagen gegangen, und er müsse sich auch reisefertig machen. Dann ging er wieder hinaus, und sie steckte einen Fingerhut und eine Schere in die Tasche und eine Nadel mit schwarzem Zwirn in ihren Brustlatz und machte sich dann schön vor einem kleinen Spiegel hinter der Tür, in dem ich ihr fröhliches Gesicht sehen konnte.

Alles dies bemerkte ich, während ich an dem Tisch in einer Ecke saß, den Kopf in die Hand gestützt, im Geiste ganz anderswo. Der Wagen fuhr bald vor, und nachdem man zuerst die Körbe und dann mich hineingehoben, stiegen die drei andern ein. Ich erinnere mich, es war halb ein Korb- halb ein Möbelwagen, dunkel angestrichen und von einem Rappen mit langem Schweif gezogen.

Ich glaube, ich habe niemals eine so seltsame Empfindung gehabt, wie auf dieser Fahrt, wenn ich mir vor Augen hielt, woran sie gearbeitet hatten und wie sie sich jetzt über die Reise freuten. Ich hegte keinen Groll gegen sie, scheute mich vor ihnen wie vor Wesen, die keine Gemeinschaft mit mir hatten. Sie waren alle bester Laune. Der Alte saß auf dem Kutschbock, und die beiden jungen Leute saßen hinter ihm, und wenn er etwas sagte, beugten sie sich links und rechts von seinem pausbäckigen Gesicht vor und kümmerten sich sehr um ihn. Sie würden wohl auch mit mir gesprochen haben, wenn ich mich nicht scheu in eine Ecke zurückgezogen hätte, ganz entsetzt über ihre Liebelei und ihre Fröhlichkeit, die zwar nicht lärmend war, mich aber doch in eine Art Staunen versetzte, daß der Himmel keine Strafe für ihre Herzenshärte herabsandte. Wenn sie anhielten, um das Pferd zu füttern, und selbst aßen und tranken und sich vergnügten, konnte ich nichts anrühren, und blieb nüchtern.