David Copperfield

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Als wir unser Haus erreichten, schlüpfte ich so schnell wie möglich hinten aus dem Wagen, um nicht in ihrer Gesellschaft vor diese geweihten Fenster treten zu müssen, die mich anblickten wie geschlossene Augen, die einst hell geglänzt. Ach, wie wenig Ursache hatte ich zu sorgen, daß ich keine Tränen mehr haben würde, als ich die Fenster meiner Mutter sah und hinter ihnen das Zimmer, das in bessern Zeiten auch das meine gewesen war!

Ich lag in Peggottys Armen, ehe ich noch zur Tür kam, und sie brachte mich in das Haus. Ihr Schmerz brach heftig aus, als sie mich erblickte, aber bald bezwang sie sich und sprach flüsternd und ging auf den Zehen, wie um die Tote nicht zu stören.

Sie war seit langem nicht ins Bett gekommen. Sie wachte jetzt noch jede Nacht. Solange ihr armer, süßer Liebling über der Erde weilte, sagte sie, wollte sie ihn nicht verlassen.

Mr. Murdstone nahm keine Notiz von mir, als ich in die Wohnstube trat. Er saß in seinem Lehnstuhl neben dem Kamin und weinte still vor sich hin. Miß Murdstone, die emsig an dem mit Briefen und Papieren bedeckten Tische schrieb, reichte mir ihre eisigen Fingernägel und fragte mich mit kaltem Flüstern, ob mir die Trauerkleider angemessen worden wären.

Ich sagte: »Ja.«

»Und hast du deine Wäsche mitgebracht?«

»Ja, Maam. Ich habe alle meine Kleider mitgenommen.«

Das war der ganze Trost, den sie mir in ihrer Festigkeit spendete. Ich glaube, daß sie ein besonderes Vergnügen daran fand, ihre sogenannte Selbstbeherrschung, Festigkeit und Charakterstärke und das ganze übrige höllische Repertoir ihrer unliebenswürdigen Eigenschaften bei dieser Gelegenheit zu offenbaren. Besonders stolz schien sie auf ihre Geschäftskenntnis zu sein und bewies sie, indem sie alles zu Papier brachte und sich von nichts rühren ließ. Den ganzen Tag und noch den nächsten Morgen bis zum Abend saß sie an diesem Schreibtische, kratzte unbeirrt mit einer harten Feder, sprach zu jedermann mit dem gleichen teilnahmlosen Geflüster, und keine Muskel ihres Gesichts und kein Ton ihrer Stimme milderte sich einen Augenblick.

Ihr Bruder nahm manchmal ein Buch vor, aber las nicht darin. Er öffnete es und sah hinein, als ob er läse. Eine ganze Stunde lang wendete er kein Blatt um, legte es dann wieder hin und ging im Zimmer auf und ab. Ich saß meist da mit gefalteten Händen, beobachtete ihn stundenlang und zählte seine Schritte. Er sprach sehr selten mit seiner Schwester und nie mit mir. Er schien außer den Uhren das einzig ruhelose Wesen in dem ganzen totenstillen Haus zu sein.

In diesen Tagen vor dem Begräbnis bekam ich Peggotty nur selten zu Gesicht. Bloß wenn ich die Treppe hinauf und hinunterging, fand ich sie immer in unmittelbarer Nähe des Zimmers, wo meine Mutter und ihr Kind lagen. Und jeden Abend kam sie an mein Bett und blieb bei mir, bis ich einschlief. Ein oder zwei Tage vor dem Leichenbegängnis nahm sie mich mit in das Zimmer. Ich erinnere mich nur noch, daß unter einem weißen Laken auf dem Bett, das wundervoll rein und frisch aussah, die Verkörperung der feierlichen Stille, die im Hause herrschte, zu liegen schien, und daß ich, als sie das Tuch sanft wegziehen wollte, schrie: »nein, nein,« und ihre Hand zurückhielt.

Wenn das Begräbnis gestern gewesen wäre, könnte ich mich seiner nicht besser erinnern. Das Aussehen des Besuchzimmers, als ich hineintrat, der helle Schein des Feuers, der glänzende Wein in den Karaffen, die Muster der Gläser und Teller, der schwache, süße Duft der Kuchen, der Geruch von Miß Murdstones Anzug und unsern Trauerkleidern, alles steht wieder vor mir.

Mr. Chillip ist anwesend und spricht mich an.

»Und wie gehts denn Master David?« fragt er freundlich.

Ich kann ihm doch nicht sagen, gut! Ich gebe ihm meine Hand und er hält sie fest.

»Mein Gott,« und er lächelt schüchtern, und etwas glänzt in seinen Augen, »unsere kleinen Freunde wachsen in die Höhe um uns her. Wir verlieren sie fast aus den Augen, Maam.« Das sagt er zu Miß Murdstone, bekommt aber keine Antwort. »Wir haben große Fortschritte gemacht, Maam!«

Miß Murdstone antwortet mit einem Stirnrunzeln und einem steifen Knix. Mr. Chillip geht verschüchtert in eine Ecke und zieht mich zu sich und tut den Mund nicht mehr auf.

Ich bemerke das, weil ich alles bemerke, was geschieht. Nicht weil ich meinetwegen acht gebe, oder es seit meiner Ankunft getan hätte. Und jetzt fängt die Totenglocke zu läuten an und Mr. Omer und ein anderer Mann kommen und ordnen uns. Wie mir Peggotty vor langer Zeit erzählt hat, haben sich die Leidtragenden, die schon meinem Vater zum Grabe folgten, in demselben Zimmer geordnet.

Der Leichenzug besteht aus Mr. Murdstone, Mr. Grayper, Mr. Chillip und mir. Wie wir zur Türe heraustreten, sind die Träger mit ihrer Bürde schon im Garten und schreiten vor uns her den Steig entlang an den Ulmen vorbei und durch das Gartentor zum Friedhof, wo ich so manchen Sommermorgen die Vögel habe singen hören.

Wir stehen um das Grab herum. Der Tag scheint mir anders als jeder andre Tag und das Licht hat seine Farbe verloren. Dann herrscht die feierliche Stille, die wir herausgetragen haben mit dem, was jetzt in der Erde ruht. Wir stehen entblößten Hauptes da, und ich höre die Stimme des Geistlichen hier im Freien, so fern und doch so deutlich klingen: »Ich bin die Auferstehung und das Leben, spricht der Herr.« Dann höre ich schluchzen; ich stehe gesondert von den übrigen und sehe die gute und treue Dienerin, die ich von allen Menschen auf Erden am meisten liebe, und zu der, wie mein kindliches Herz fest überzeugt ist, der Herr eines Tages sagen wird: »Du hast wohlgetan.«

Es sind viele bekannte Gesichter da in der kleinen Menge, die ich von der Kirche her kenne, Gesichter, die meine Mutter noch kannten, als sie in ihrer Jugendblüte in das Dorf gekommen war. Ich kümmere mich nicht um sie, ich kümmere mich nur um meinen Schmerz und doch sehe ich sie und kenne sie alle und sehe selbst weit im Hintergrund Minnie zuschauen und auf ihren Schatz blicken, der in meiner Nähe steht.

Es ist vorbei, und das Grab ist zugeschüttet, und wir wenden uns wieder heimwärts. Vor uns steht unser Haus, so schmuck und unverändert, so fest verknüpft in meiner Seele mit dem Jugendbild derer, die nicht mehr ist. All mein Schmerz ist nichts gegen den, den ich jetzt fühle. Aber sie führen mich fort, und Mr. Chillip redet mir zu, und wie wir daheim sind, benetzt er meine Lippen mit Wasser, und als ich ihn um Erlaubnis bitte, auf mein Zimmer gehen zu dürfen, entläßt er mich mit der Zärtlichkeit einer Frau. Alles das kommt mir vor, als wäre es gestern geschehen. Ereignisse einer spätern Zeit sind fortgeweht an jene Küste, wo alles Vergessene dereinst wiederkommt. Doch dieses ragt vor mir wie ein hoher Fels im weiten Meer.

Ich wußte, daß Peggotty in mein Zimmer kommen würde. Die Sabbatstille tat uns beiden wohl. Sie setzte sich neben mich auf mein kleines Bett, nahm meine Hand, drückte sie von Zeit zu Zeit an ihre Lippen und streichelte sie, wie sie wohl mein kleines Brüderchen gestreichelt haben mochte, und erzählte mir in ihrer schlichten Art, wie alles gekommen war.

»Sie fühlte sich seit langer Zeit gar nicht mehr recht wohl,« sagte Peggotty. »Sie fühlte sich nicht glücklich. Als das Kleine zur Welt kam, dachte ich, es würde mit ihr besser werden. Aber sie war angegriffener als je und schwand dahin mit jedem Tage. Vor der Geburt des Kindes pflegte sie viel allein zu sitzen und dann weinte sie; aber später sang sie ihm vor so leise, daß ich manchmal dachte, es sei wie eine Stimme in der Luft, die langsam verklingt.

Ich glaube, sie wurde in der letzten Zeit immer verschüchterter und furchtsamer, und ein hartes Wort war für sie ein Schlag, aber gegen mich blieb sie immer die gleiche. Sie wurde nie anders gegen ihre einfältige Peggotty, mein süßes Mädel.«

Hier hielt Peggotty inne und klopfte mir ein Weilchen sanft die Hand.

»Das letzte Mal, wo sie ganz wieder schien wie früher, war an jenem Abend, wo du nach Hause kamst, mein Liebling. Und am Tag, als du fortgingst, sagte sie zu mir: ›Ich werde meinen Herzensliebling nie mehr wiedersehen. Eine Stimme sagt es mir und ich weiß, daß sie die Wahrheit spricht.‹ Sie versuchte dann heiter zu erscheinen und manchmal, wenn sie zu hören bekam, sie wäre gedankenlos und leichtsinnig, tat sie so, als ob sies wäre, aber es war schon alles vorbei. Sie sagte ihrem Manne nichts. Bis eines Abends, kaum eine Woche, ehe sie starb, da sagte sie zu ihm, ›ich glaube, ich sterbe bald.‹«

»Jetzt hab ichs vom Herzen herunter, Peggotty,« sagte sie dann zu mir, als ich sie an diesem Abend zu Bett brachte. »Es wird ihm in den wenigen Tagen, die ich noch zu leben habe, deutlicher und deutlicher werden, dem Armen. Und dann ists vorbei. Ich bin sehr müde. Wenn es nur Schlaf ist, so bleibe bei mir sitzen und verlaß mich nicht. Gott segne meine beiden Kinder. Gott beschütze und behüte meinen vaterlosen Jungen.«

»Seitdem hab ich sie nicht mehr verlassen,« sagte Peggotty. »Sie sprach oft mit den beiden da unten, denn sie liebte sie. Sie konnte nicht anders, sie mußte jeden lieben, der in ihrer Nähe war. Aber wenn sie von ihrem Bette weggegangen waren, da mußte ich kommen, als ob nur Ruhe sein könnte, wo Peggotty war, und nie konnte sie anders einschlafen.«

»Am letzten Abend küßte sie mich und sagte, ›wenn das Baby mit mir sterben sollte, Peggotty, so sollen sie es mir in die Arme legen und uns zusammen begraben. Und mein lieber Sohn soll zu meinem Grabe gehen,‹ sagte sie, ›erzähle ihm, daß ich ihn, als ich hier lag, nicht einmal, sondern tausendmal gesegnet habe.‹«

Wieder folgte eine Pause des Schweigens, und Peggotty klopfte mir wieder sanft die Hand.

»Es war schon spät in der Nacht, da verlangte sie zu trinken, und als sie getrunken hatte, da lächelte sie mich so geduldig und lieb und schön an.«

 

»Der Tag brach an und die Sonne ging eben auf, als sie mir erzählte, wie gütig und rücksichtsvoll Mr. Copperfield immer gegen sie gewesen war, wie er mit ihr Geduld gehabt und ihr immer, wenn sie an sich selbst zweifelte, versichert hatte, daß ein Herz voll Liebe besser und stärker sei als alle Weisheit, und daß ihn ihre Liebe glücklich mache. ›Liebe Peggotty,‹ sagte sie dann, ›lege mich näher an dich heran,‹ – so schwach war sie schon – ›lege deinen lieben Arm unter meinen Kopf und wende mein Gesicht dir zu, denn deine Züge gehen immer weiter von mir weg und ich will dir so nahe sein.‹ Ich tat, wie sie verlangte, und ach, Davy, die Zeit war gekommen, wo das wahr wurde, was ich dir einmal gesagt habe, sie war froh, ihren armen Kopf auf den Arm ihrer einfältigen, mürrischen, alten Peggotty legen zu können. Sie starb wie ein Kind, das einschläft.«

So endigte Peggottys Erzählung. Von dem Augenblick an, wo ich den Tod meiner Mutter erfuhr, war das Bild, das ich mir zuletzt von ihr machte, verschwunden. Von dem Augenblick an erinnerte ich mich ihrer bloß als der jungen Mutter meiner frühesten Kindheit, die ihre glänzenden Locken um ihre Finger zu wickeln und im Zwielicht mit mir im Zimmer herumzutanzen pflegte. Mit ihrem Tode schwebte ihr Bild zurück in ihre ruhige, ungestörte Jugendzeit, und alles übrige war ausgelöscht.

Die Mutter, die im Grabe ruht, ist die Mutter meiner Kindheit, das kleine Wesen in ihren Armen ist, wie ich einst gewesen war, und liegt an ihrem Busen eingelullt auf ewig.

Zehntes Kapitel

Das erste, was Miß Murdstone am Tag nach dem Begräbnisse tat, war, daß sie Peggotty für den kommenden Monat kündigte. So sehr Peggotty eine solche Stelle mißfallen mußte, so hätte sie sie doch um meinetwillen jeder andern auf der Welt vorgezogen.

Was mich betraf und meine Zukunft, fiel kein Wort, und es geschah auch nichts. Sie wären wahrscheinlich froh gewesen, wenn sie mir auch hätten monatlich kündigen können. Ich faßte mir einmal ein Herz und fragte Miß Murdstone, wann ich wieder in die Schule gehen werde, und sie antwortete: »wahrscheinlich überhaupt nicht mehr.« Weiter erfuhr ich nichts. Ich hätte nur zu gerne gewußt, was man mit mir vorhabe, aber weder Peggotty noch ich konnten das geringste herausbekommen. Meine Lage hatte sich, was die Gegenwart betrifft, zwar viel angenehmer gestaltet, würde mir aber, wenn ich die Folgen hätte gehörig ermessen können, für die Zukunft viel Sorgen gemacht haben. Der mir früher auferlegte Zwang hatte ganz aufgehört. Miß Murdstone zwang mich nicht mehr wie früher, meinen langweiligen Posten in der Wohnstube beizubehalten, und wies mich mehr als einmal mit finsterm Blick aus dem Zimmer. Ich durfte ruhig mit Peggotty verkehren, wenn ich nur nicht Mr. Murdstone vor die Augen kam. Anfangs fürchtete ich, er oder seine Schwester würden mich wieder zu unterrichten anfangen, aber ich fand bald, daß meine Besorgnis unbegründet war und ich weiter nichts als Vernachlässigung zu gewärtigen hatte.

Diese Entdeckung verursachte mir damals nicht viel Schmerz. Noch immer ganz betäubt von dem Tod meiner Mutter war mir alles andere recht gleichgültig. Wohl dachte ich mir zuweilen, ob ich nicht zu einem schäbigen mürrischen Mann, der im Dorfe sein Leben in Nichtstun verlungern würde, heranwachsen müßte, wenn ich so gar keinen Unterricht mehr empfinge. Ich weiß noch, ich habe einmal überlegt, ob ich nicht wie der Held eines Romans davonlaufen sollte, um mein Glück zu machen, aber alles das waren Träume am helllichten Tag, die an der Wand meines Zimmers vorüberschwebten und nur die leere Wand zurückließen.

»Peggotty« sagte ich, gedankenvoll flüsternd, eines Abends, als ich meine Hände am Herdfeuer wärmte, »Mr. Murdstone hat mich noch weniger gern als früher. Er hat mich nie gern gehabt, Peggotty. Aber jetzt möchte er mich am liebsten gar nicht mehr sehen.«

»Vielleicht hat er Kummer,« sagte Peggotty und strich mir die Haare glatt.

»Ich bin gewiß auch voll Trauer, Peggotty,« erwiderte ich, »wenn es nur sein Gram wäre, würde ich weiter gar nicht darüber nachdenken. Aber das ists nicht, o nein, das ists nicht.«

»Woher weißt du denn das?« fragte Peggotty nach einer Pause.

»O, Kummer ist es nicht; jetzt wo er mit seiner Schwester am Kamin sitzt, hat er wohl Kummer. Aber wenn ich hineinginge, Peggotty, würde er sogleich anders werden.«

»Wie denn?« fragte Peggotty.

»Zornig,« antwortete ich und machte unwillkürlich sein Stirnrunzeln nach. »Wenn es nur Gram wäre, würde er mich doch nicht so ansehen. Ich gräme mich auch, aber das macht mich nur freundlicher gegen andere.«

Peggotty sagte nichts mehr darauf, und ich wärmte meine Hände stumm wie sie.

»Davy,« sagte sie endlich.

»Ja, Peggotty.«

»Ich habe alles mögliche versucht, mein liebes Kind, hier in Blunderstone einen passenden Dienst zu bekommen, aber ich konnte keinen finden.«

»Und was gedenkst du zu tun, Peggotty?« und ich sah sie forschend an, »willst du fortgehen und dein Glück anderwärts versuchen?«

»Ich werde wohl nach Yarmouth gehen müssen,« sagte Peggotty.

»Du hättest noch weiter fortgehen und so gut wie verloren für mich sein können,« sagte ich ein wenig erleichtert. »So kann ich dich manchmal besuchen, meine gute, alte Peggotty! Du bist doch dort nicht am Ende der Welt, nicht wahr?«

»Ganz im Gegenteil, so Gott will,« rief Peggotty mit großer Lebhaftigkeit. »So lang du hier bist, mein Herzblatt, komme ich dich jede Woche besuchen. Jede Woche einmal, solange ich lebe.«

Dies Versprechen nahm mir einen Stein vom Herzen. Aber Peggotty fuhr noch fort. »Schau mal, Davy, ich gehe zuvörderst einmal auf vierzehn Tage zu meinem Bruder auf Besuch, um mich ein bißchen umzusehen und wieder einen klaren Kopf zu bekommen; da hab ich mir gedacht, da sie dich hier sowieso nicht brauchen können, lassen sie dich vielleicht mit mir gehen?«

Jedenfalls war dieser Plan das einzige, was mich in meiner damaligen Gemütsstimmung irgendwie aufhellen konnte. Der Gedanke, wieder auf diesen ehrlichen Gesichtern einen Willkommengruß lesen zu können, wieder den Frieden des stillen Sonntagmorgens zu genießen, wenn die Glocken läuten, die Schiffe Schatten gleich aus dem Nebel brechen, – wieder Steine ins Wasser werfen zu können, mit der kleinen Emly herumzustreifen, ihr meine Leiden zu erzählen und ein Zaubermittel dagegen in den Muscheln und Kieseln am Strande zu finden, erfüllte mein Herz mit besänftigender Ruhe. Freilich wurde sie schon im nächsten Augenblick von dem Gedanken zerstört, daß Miß Murdstone schwerlich einwilligen werde. Aber noch während wir sprachen, kam Miß Murdstone plötzlich heraus, um etwas aus der Vorratskammer zu holen, und Peggotty brachte die Angelegenheit mit einer Kühnheit, die mich in Erstaunen versetzte, sogleich zur Sprache.

»Der Junge wird dort herumlungern,« sagte Miß Murdstone und spähte in einen Krug mit Essiggurken, »und Nichtstun ist die Wurzel alles Bösen. Aber freilich hier wird er auch nichts tun – und anderwärts auch nicht.«

Peggotty hatte eine heftige Antwort auf der Zunge, aber sie schluckte sie herunter um meinetwillen und schwieg.

»Hm,« meinte Miß Murdstone dann und spähte immer noch in den Essigkrug. »Es ist wichtiger als alles andere, – es ist sogar von außerordentlicher Wichtigkeit, – daß mein Bruder nicht gestört und belästigt wird. Es ist wohl am besten, ich willige ein.«

Ich bedankte mich bei ihr, ohne meine Freude zu verraten, damit sie nicht etwa ihre Erlaubnis zurückzöge, und mir kam das sehr klug vor, als sie mich jetzt wieder mit einem so sauern Gesicht ansah, als hätte sie mit ihren schwarzen Augen den ganzen Inhalt des Essigkrugs ausgesogen. Die Erlaubnis war gegeben und wurde auch nicht zurückgezogen. Und als der Monat um war, standen Peggotty und ich zur Abfahrt bereit.

Mr. Barkis kam ins Haus, um Peggottys Koffer abzuholen. Soviel ich weiß, hatte er noch nie die Schwelle der Gartentür überschritten, aber bei dieser Gelegenheit kam er bis ins Haus. Und als er den größten Koffer auf seine Schultern lud und hinausging, warf er mir einen so vielsagenden Blick zu, wie es sein Gesicht überhaupt vermochte.

Peggotty war natürlich sehr betrübt über ihren Abschied von dem Orte, wo sie so lange Jahre mit meiner Mutter und mir zugebracht hatte. Sie war schon in aller Frühe auf dem Kirchhof gewesen, und als sie im Wagen saß, hielt sie sich das Taschentuch vor die Augen.

So lange sie so blieb, gab Mr. Barkis kein Lebenszeichen von sich. Er saß auf seinem gewohnten Platz und in seiner bekannten Haltung wie eine große, ausgestopfte Puppe. Aber als sie das Taschentuch einsteckte und mit mir zu sprechen anfing, nickte er mehrere Male und grinste. Ich hatte nicht den leisesten Begriff, was er damit sagen wollte.

»s ist ein schöner Tag, Mr. Barkis,« begann ich aus purer Höflichkeit.

»Nicht schlecht,« meinte Mr. Barkis, der gewöhnlich seine Worte sehr abwog und seine Meinung nie offen heraussagte.

»Peggotty hat sich schon wieder ganz erholt, Mr. Barkis,« bemerkte ich.

»So. Hm,« sagte Mr. Barkis.

Nachdem er mit schlauer Miene nachgedacht hatte, sah er Peggotty an und sagte:

»Ists Ihnen schon hübsch behaglich?«

Peggotty lachte bejahend.

»Aber wirklich und wahrhaftig? verstehen Sie? Wirklich?« brummte Mr. Barkis und rutschte auf der Bank näher an sie heran und gab ihr einen Stoß mit dem Ellbogen. »Wirklich? Wirklich und wahrhaftig, ganz behaglich? Wirklich? He?« Bei jeder dieser Fragen rutschte Mr. Barkis näher zu ihr und gab ihr jedesmal einen Stoß mit dem Ellbogen, bis wir zuletzt alle in der linken Ecke des Wagens eingeklemmt saßen und ich kaum mehr atmen konnte.

Peggotty machte ihn darauf aufmerksam, worauf er sogleich etwas Platz machte und nach und nach wieder zurückrückte. Ich sah ihm an, daß er zu glauben schien, er sei auf ein prächtiges Mittel verfallen, sich ohne viel Worte angenehm, fein und deutlich auszudrücken. Eine Zeitlang lachte er vor sich hin. Dann wandte er sich wieder langsam nach Peggotty um und wiederholte: »Also wirklich behaglich?« und fing das alte Manöver wieder an, bis ich abermals keinen Atem bekam. Nicht lange darauf wiederholte sich dasselbe noch einmal mit denselben Folgen. Dann stand ich immer auf, wenn ich ihn heranrücken sah, und tat, als ob ich mir die Gegend ansähe, und kam viel besser dabei weg.

Er war so höflich, nur unsertwegen an einem Wirtshaus anzuhalten und uns mit Hammelbraten und Bier zu bewirten. Aber selbst einmal, als Peggotty gerade trank, bekam er einen seiner alten Anfälle und brachte sie fast zum Ersticken. Je mehr wir uns unserm Reiseziel näherten, desto mehr mußte er aufpassen und desto weniger Zeit fand er für Galanterien. Und als wir erst auf dem Pflaster von Yarmouth durcheinandergeschüttelt wurden, bot sich gar keine Gelegenheit mehr.

Mr. Peggotty und Ham erwarteten uns auf dem alten Platze. Sie empfingen mich und Peggotty in herzlicher Weise und schüttelten Mr. Barkis die Hand, der mit weit zurückgeschobenem Hut, ein verschämtes Lächeln auf den Zügen und weit ausgespreizten Beinen einen möglichst dummen Eindruck zu erwecken bemüht war. Jeder von den beiden Fischern nahm einen von Peggottys Koffern, und wir wollten eben fortgehen, als mir Mr. Barkis feierlich mit dem Zeigefinger winkte, mit ihm unter einen Tor weg zu treten.

»Also,« brummte er dann, »alles in Ordnung.«

Ich sah ihn an und antwortete mit einem Versuch, ein möglichst gescheites Gesicht zu machen: »O! o!«

»Damals wars noch nicht abgemacht,« fuhr er mit vertraulichem Nicken fort. »Alles in Ordnung.«

Wieder antwortete ich: »O!«

»Sie wissen, wer wollte! Er! Barkis! aber nur Barkis!«

Ich nickte beistimmend.

»Alles in Ordnung,« sagte Mr. Barkis wieder und schüttelte mir die Hand. »Wir sind Freunde. Sie habens in Ordnung gebracht. Alles in Ordnung.«

In seinem Bestreben besonders klar zu sein wurde mir Mr. Barkis immer rätselhafter. Ich hätte ihm eine Stunde ins Gesicht sehen können, ohne von ihm mehr zu erfahren als von dem Zifferblatt einer Uhr, die stillsteht. Endlich rief mich Peggotty weg. Unterwegs fragte sie mich, was er gesagt habe, und ich wiederholte seine Worte: »Alles in Ordnung.«

»Ist das eine Unverschämtheit,« sagte sie, »aber es macht nichts. Lieber Davy, was meinst du wohl, wenn ich mich verheiratete?«

»Nun, du würdest mich doch ebenso lieb haben wie jetzt, Peggotty?« erwiderte ich nach einigem Nachdenken.

 

Zum größten Erstaunen der Vorübergehenden und der beiden Peggottys vor uns blieb die gute Seele stehen und umarmte mich unter vielen Beteuerungen ihrer unwandelbaren Liebe.

»Sag mir also, was du meinst, Liebling?« fragte sie, als sie damit fertig war und wir unsern Weg fortsetzten.

»Wenn du dich mit Mr. Barkis verheiratest, Peggotty?«

»Ja.«

»Ich glaube, es wäre sehr gut, dann hättest du immer das Pferd und den Wagen umsonst und könntest mich immer besuchen kommen.«

»Was das Kind gescheit ist!« rief Peggotty. »Das hab ich doch auch immer den ganzen Monat lang gedacht. Ja, mein Goldkind, und ich wäre viel unabhängiger, siehst du. Und es würde sich mir in meinem eignen Haus viel leichter arbeiten, als sonstwo. Ich weiß gar nicht, ob ich mich zum Dienstmädchen bei Fremden jetzt noch eigne, und ich wäre immer in der Nähe der Ruhestätte meines schönen Lieblings,« fügte sie nachdenklich hinzu. »Ich könnte sie sehen, wann ich wollte, und wenn ich mich einmal zur Ruhe lege, wärs nicht weit von meinem lieben Mädel.«

Wir schwiegen beide eine Weile.

»Aber ich würde nicht ein einziges Mal wieder dran denken,« sagte Peggotty fröhlich, »wenn mein Davy irgend etwas dagegen hätte, und wenn ich auch dreißigmal dreimal in der Kirche gefragt würde und den Ring mein Lebtag in der Tasche herumtragen müßte.«

»Schau mich an, Peggotty,« erwiderte ich, »und sieh selbst, ob ich mich nicht wirklich von ganzer Seele darüber freue!«

»Liebes Herz,« sagte Peggotty und drückte mich an sich, »ich habe Tag und Nacht darüber nachgedacht und in jeder Weise und ich glaube in der rechten, aber ich will es mir noch einmal überlegen und mit meinem Bruder darüber sprechen und unterdessen wollen wir die Sache für uns behalten, Davy. Barkis ist ein einfacher guter Kerl, und wenn ich meine Pflicht an seiner Seite tue, glaube ich, wäre es meine Schuld, wenn ich nicht – wenn ich mich nicht behaglich befände,« sagte Peggotty und lachte herzlich.

Über diesen Ausspruch von Mr. Barkis mußten wir immer wieder lachen, und wir waren sehr heiterer Laune, als Mr. Peggottys Häuschen in Sicht kam.

Es sah genau so aus wie früher, nur schien es in meinen Augen jetzt ein wenig kleiner zu sein. Mrs. Gummidge wartete in der Tür, als ob sie seit damals immer noch dortstünde. Innen war alles unverändert bis zum Seegras hinab in dem blauen Krug in meinem Schlafzimmer. Ich ging in den Seitenschuppen, um mich ein wenig umzusehen und wieder war ein verworrener Haufen von Hummern, Krabben und Krebsen da, alle von demselben Verlangen, die ganze Welt zu zwicken, beseelt.

Aber keine kleine Emly war zu sehen, und so fragte ich Mr. Peggotty nach ihr.

»Is in der Schule, Sir,« sagte Mr. Peggotty und wischte sich den Schweiß von der Stirne. Dann sah er nach der Wanduhr, »kommt all in zwanzig oder dreißig Minuten. Wir vermissen sie alle, ach Gott.«

Mrs. Gummidge seufzte.

»Kopf hoch, Mächen,« mahnte Mr. Peggotty.

»Ach,« sagte Mrs. Gummidge, »ich bin n einsam verlassenes Geschöpf und sie war die einzige, die mich nicht die Quere ging.«

Sie schüttelte tränenden Auges den Kopf und blies das Feuer an. Mr. Peggotty sah uns an, während sie so beschäftigt war, und flüsterte leise hinter seiner Hand hervor: »De Olsch.«

Daraus schloß ich ganz richtig, daß seit meinem letzten Besuch in Mrs. Gummidges Gemütszustand keine wesentliche Veränderung eingetreten sein konnte. Alles war so reizvoll wie früher, aber dennoch machte es einen ganz andern Eindruck auf mich. Ich fühlte mich fast ein wenig enttäuscht. Vielleicht trug die Abwesenheit der kleinen Emly die Schuld. Da ich wußte, welchen Weg sie kommen mußte, ging ich ihr entgegen.

Es dauerte auch nicht lange, da tauchte in der Ferne eine Gestalt auf, und ich erkannte bald Emly, die immer noch ein kleines Geschöpfchen war, trotzdem sie gewachsen schien. Aber als sie näher kam und ich sah, wie ihre blauen Augen noch blauer und ihr Gesicht mit den Grübchen noch heiterer, hübscher und schelmischer geworden, überkam mich ein ganz seltsames Gefühl und ich tat, als ob ich sie nicht kennte, und ging vorbei, als ob ich weit draußen in der Ferne etwas erblickte. Ich habe dergleichen, mir scheint, auch später noch im Leben getan!

Die kleine Emly kümmerte sich gar nicht um mich. Sie sah mich recht gut, anstatt sich aber umzudrehen und mich zu rufen, lief sie lachend fort. Das zwang mich, ihr nachzurennen. Aber sie lief so schnell, daß ich sie erst knapp vor dem Häuschen einholen konnte.

»Ach so, du bists?«

»Aber du wußtest doch, wers ist, Emly,« sagte ich.

»Und du vielleicht nicht?«

Ich wollte sie küssen, aber sie hielt sich die Hand auf ihre Kirschenlippen und sagte, sie sei kein kleines Kind mehr, lief ins Haus und lachte noch viel mehr.

Es schien ihr Spaß zu machen, mich zu necken, – eine Veränderung, über die ich mich sehr wunderte. Der Teetisch war gedeckt, und unser kleiner Koffer stand auf dem alten Fleck. Aber anstatt sich neben mich zu setzen, leistete sie der alten brummigen Mrs. Gummidge Gesellschaft, und als Mr. Peggotty nach dem Grund fragte, bedeckte sie sich das Gesicht mit den Haaren und wollte nicht aufhören zu lachen.

»Eine kleine Spielkatze,« sagte Mr. Peggotty und tätschelte sie mit seiner großen Hand.

»Dat is se. Dat is se,« rief Ham, »Masr Davy, woll, dat is se« und er saß da und lachte sie lange an mit einem brennroten Gesicht, auf dem sich Bewunderung und Entzücken spiegelten.

Die kleine Emly wurde in jeder Hinsicht verzogen und von niemand mehr als von Mr. Peggotty, dem sie alles abschmeicheln konnte, wenn sie nur zu ihm ging und ihre Wangen an seinen struppigen Seemannsbart legte. So schien es mir wenigstens, als ich es sah, und ich gab Mr. Peggotty vollkommen recht. Sie war so zärtlich und herzig und dabei so neckisch und schüchtern zugleich, daß sie mich mehr gefangen nahm als je.

Sie war auch sehr weichherzig, denn als wir nach dem Tee um den Ofen saßen und Mr. Peggotty eine Andeutung über den Verlust, den ich erlitten hatte, fallen ließ, traten ihr die Tränen in die Augen, und sie sah mich über den Tisch hinüber so freundlich an, daß ich ihr sehr dankbar war.

»Ja,« sagte Mr. Peggotty, indem er ihre Locken wie Wasser durch seine Finger laufen ließ. »Hier ist auch eine Waise, Sir, und hier,« und er klopfte Ham mit dem Handrücken auf die Brust, »hier s noch einer, wenn mans ihm auch nöch anmerkt.«

»Wenn ich Sie zum Vormund hätte, Mr. Peggotty,« sagte ich, »würd ichs wohl auch nicht sehr fühlen.«

»Schoin seggt, Masr Davy, woll,« schrie Ham entzückt, »hurra. Schoin seggt, Masr Davy, woll, hört, hört.« Er gab den Schlag mit dem Handrücken zurück und die kleine Emly stand auf und küßte Mr. Peggotty.

»Und was macht Ihr Freund, Sir?« fragte mich Mr. Peggotty.

»Steerforth?«

»Woll, woll,« rief Mr. Peggotty und wandte sich zu Ham. »Ich wußte, sien Nam hett mit unserm Beruf zu tun.«

»Du hest Rudderford seggt,« bemerkte Ham lachend.

»Jawoll,« antwortete Mr. Peggotty, »un du ›stüerst‹ mit en Rudder, nöch? Dat s nöch veel anners. Wie gehts ihm, Sir?«

»Als ich fortging, sehr gut, Mr. Peggotty.«

»Dat s n Freund,« sagte Mr. Peggotty und reckte seinen Arm mit der Pfeife in die Höhe. »Dat s n Freund, wenn Sie von Freunden sprechen! Gott soll mich nicht leben lassen, wenns nicht ne Freude ist, den anzusehen.«

»Er ist sehr hübsch, nicht wahr?« sagte ich und mein Herz schlug höher bei dem Lobe.

»Hübsch!« rief Mr. Peggotty. »Er steht vor einem, wie – wie ein – – na, wie soll ich nur sagen, wie er vor einem steht? Er ist so keck.«

»Ja, so ist auch sein ganzer Charakter,« sagte ich, »er ist mutig wie ein Löwe, und Sie können sich gar nicht vorstellen, Mr. Peggotty, wie freimütig er ist.«